Navigationspfad: Startseite > Dokumente > Textarchiv > 2010 > Jugend & Parlament
Kurz vor 9 Uhr morgens im Plenarsaal des Deutschen Bundestages am Dienstag, 8. Juni 2010: Die vorderen Reihen sind schon besetzt. Ganz hinten stehen vereinzelt junge Frauen und Männer, die die Zeit nutzen, um ein letztes Mal ihre Rede zu proben. In wenigen Minuten werden sie im Rahmen des Planspiels "Jugend und Parlament“ versuchen, bei der zweiten und abschließenden Plenardebatte die Abgeordneten des Bundestages von der Meinung ihrer Fraktion zu überzeugen…
Es ist eine Minute vor 9 Uhr. Mehrere junge Frauen rufen "Hinsetzen!“, die letzten eilen auf ihre Plätze. Die Jugendlichen nehmen ihre Rolle im Planspiel ernst. Bundestagsvizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (CDU/CSU) begrüßt die Abgeordneten und nennt den ersten Tagesordnungspunkt.
Ganz oben auf der Liste steht ein Gesetzentwurf zum "verbesserten Schutz Jugendlicher vor den Gefahren des Alkoholkonsums“, der offenbar bereits in den Verhandlungen in den Ausschüssen am Tag zuvor kontrovers diskutiert wurde, denn es muss auch über vier Änderungsanträge abgestimmt werden. Doch vor der Abstimmung bekommen die fünf fiktiven Bundestagsfraktionen die Gelegenheit, noch einmal ihre Position darzustellen.
Worum geht es in dem Gesetzentwurf überhaupt? Es besteht offenbar ein Konsens der Fraktionen darüber, dass etwas dagegen getan werden muss, dass in den vergangenen Jahren Alkoholkonsum und -missbrauch durch Jugendliche stetig zugenommen haben.
Deshalb soll mit dem Gesetzentwurf Jugendlichen unter 18 Jahren der Erwerb und Konsum von Alkohol verboten werden. Über die weiteren Maßnahmen zur Verbesserung des Schutzes Jugendlicher vor Alkohol ist man sich in Koalition und Opposition jedoch noch uneinig.
Der Sprecher der Christlichen Volkspartei (CVP) fasst die Koalitionsmeinung zusammen: "Wir tragen die Verantwortung für unsere Jugend - wir müssen härter durchgreifen“, und erntet Applaus von den Kollegen.
Die CVP will Werbung für alkoholische Getränke im Fernsehen von 6 bis 22 Uhr verbieten, Jugendliche sollen aber in Begleitung ihrer Eltern "mal einen Cocktail“ trinken gehen dürfen, um sie an den verantwortungsbewussten Umgang mit Alkohol heranzuführen.
Sandro Scheufler von der Liberalen Volkspartei (LRP) ergänzt, so wolle man „den mündigen Bürger vor einer Fremdbestimmung durch den Staat schützen“.
Nach Meinung der Oppositionspartei Arbeiterpartei Deutschlands (APD) geht dieses Gesetz nicht weit genug. "Wir sind für ein generelles Werbeverbot für alkoholische Getränke, um die Jugend - unsere Zukunft - zu schützen“, ruft Jana Weiß und muss zwischendurch energisch um Ruhe bitten.
Hier lernen die Jugendlichen ganz konkret, sich Gehör zu verschaffen, ihre Meinung zu vertreten, trotz vorbereiteter Rede spontan auf eine Entgegnung zu reagieren und mit Argumenten zu jonglieren. Es gelingt den meisten von ihnen mühelos. Man merkt: Die jungen Frauen und Männer haben sich intensiv mit den Themen auf der Tagesordnung auseinandergesetzt, sich gründlich auf die Debatte vorbereitet und ihre Formulieren geschliffen.
"Will keiner trinken? Keiner lachen? Ich will euch lehren Gesichter machen!“ - Greta Scholl, Sprecherin der Partei der sozialen Gerechtigkeit (PSG), beginnt ihre Rede mit einem Zitat aus Goethes Faust und wird zum Schluss mit Jubel aus den Rängen der Oppositionsparteien belohnt.
Dennoch werden sowohl die beiden Änderungsentwürfe der Fraktionen CVP und LRP sowie der Gesetzentwurf in der Abstimmung angenommen. Die Jugendlichen lernen auch, Enttäuschungen einzustecken und trotzdem weiterzumachen. Zeit für die nächsten Tagesordnungspunkte.
In den drei Gesetzentwürfen, die anschließend diskutiert werden, geht es um die Einführung von Elementen direkter Demokratie ins Grundgesetz, um die deutsche Einheit und die Angleichung der Einkommensniveaus in Ost und West sowie um die Zukunft der Rente.
Viele der insgesamt 36 Rednerinnen und Redner der fiktiven Fraktionen reden so enthusiastisch, dass sie ihre Redezeit überziehen. Bundestagsvizepräsident Dr. Wolfgang Thierse (SPD), der wie seine Kolleginnen und Kollegen für eine Weile die Funktion des Präsidenten im Planspiel übernimmt, verkündet deshalb, für weitere Zwischenfragen sei keine Zeit mehr.
Immer wieder gibt es aufgebrachte Zwischenrufe, kurze Besprechungen zwischen Parteikollegen oder sogar zustimmendes Aufstehen nach einer Rede - jedes der vier Themen wird genauso engagiert und begeistert debattiert, selbst als es auf 12 Uhr und damit auf die Mittagspause zugeht und die Rente auf der Tagesordnung steht.
Ein Thema, das für die Jugendlichen eigentlich noch weit weg scheint. Doch sie haben sich inzwischen so gut in ihre Rollen eingefunden, dass kaum einer mehr lacht, als eine Sprecherin von ihren Erfahrungen als 75-Jährige spricht.
Der letzte Redner der Sitzung sorgt für einen spektakulären Abgang, indem er zum Ende seiner Rede seinen Austritt aus der APD-Fraktion verkündet und demonstrativ in die Reihen der Koalition wechselt.
Die intensive Vorbereitung hat sich ausgezahlt: Die Jugendlichen haben sich während des viertägigen Planspiels zu professionellen Rednern gemausert, die ihre Meinung vertreten und sich auch auf kontroverse Diskussionen einlassen.