Navigationspfad: Startseite > Presse > Aktuelle Meldungen (hib) > April 2011 > "Die Ukraine hat die Last von Tschernobyl geerbt"
Der frühere Abgeordnete im ukrainischen Parlament, Wolodimir Usatenko, sagte: ”Die Folgen sind bis heute nicht überwunden.“ Er betonte aber, dass die Gründe für den Unfall von Tschernobyl aufgeklärt werden konnten. Danach lag die Ursache in menschlichem Versagen. ”Das Problem ist, dass Menschen versuchen, sich klüger darzustellen, als sie sind“, konstatierte der Politiker. Er berichtete, dass die Kindersterblichkeit in den Gebieten in der Nähe des Kernkraftwerks auch nach 25 Jahren noch dreimal so hoch sei als im Rest der Ukraine, selbst an Orten, wo keine erhöhten Werte mehr gemessen werden.
”Die Ukraine hat die Last von Tschernobyl geerbt“, sagte die Botschafterin der Ukraine in Deutschland, Natalia Zarudna. Die Folgen seien bis heute spürbar. Bisher habe das Land Kosten von rund 12 Milliarden US-Dollar schultern müssen. Sie berichtete auch von den Lehren, die ihr Land aus der Reaktorkatastrophe gezogen hat. So verzichte die Ukraine auf Atomwaffen und man habe die Notwendigkeit gesehen, Vorschriften zur Atomsicherheit zu entwickeln. Zeitweise hatte es auch einen Baustopp für neue Atomkraftwerke gegeben. Die Botschafterin dankte den über 1.000 Deutschen, die mit ihrer Hilfe die Ukraine nicht allein gelassen hätten.
Der Gesandte der Bundesrepublik Deutschland in der Republik Belarus, Peter Dettmar, betonte die hohen Nachfolgekosten für das nicht gerade reiche Belarus. 23 Prozent des Territoriums seien von der Katastrophe betroffen. Bis zum Jahr 2015 rechne man mit einem volkswirtschaftlichen Schaden von insgesamt rund 200 Milliarden US-Dollar. Dettmar bewertete es als wichtig, dass internationale Hilfe ankommt, aber auch angenommen wird. Das zeige, dass die Politik und Behörden die Ausnahmesituation erkenne. Die Nicht-Regierungs-Organisationen (NGO) aus dem Ausland würden in ihrer Tschernobyl-Arbeit nicht behindert. Das sei bei anderen Projekten anders. Sogar die strengen Reisebestimmungen wurden für kranke Kinder, die nach Europa fahren wollten, nach bilateralen Gesprächen gelockert. ”Das zeigt die Bereitschaft der Regierung, das Humanitäre in den Vordergrund zu stellen“, sagte Dettmar.
Eine traurige Bilanz zog die Ärztin Angelika Claußen. Sie berichtete, dass bereits mehr als 100.000 Menschen an den Folgen der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl gestorben seien, darunter viele Helfer. Die meisten seien keiner Krebserkrankung erlegen, sondern starben an Infarkten, Herz-Kreislauferkrankungen, Schlaganfällen oder ähnlichen Krankheiten. Besorgt äußerte sich die Vertreterin der Organisationen ”Internationale Ärzte gegen Verhütung des Atomkriegs“ und ”Ärzte in sozialer Verantwortung“ über die hohen Zahlen von Kinderlosigkeit sowie Fehl- und Totgeburten. Sie forderte von der Weltgesundheitsorganisation (WHO), ein umstrittenes Abkommen mit der Internationalen Atomenergie-Organisation zu kündigen. Die Gesundheitsorganisation müsse in ihrer Arbeit hinsichtlich der Gefahren von Radioaktivität unabhängig arbeiten können. In dem Abkommen vom Mai 1959 verpflichtet sich die UN-Gesundheitsorganisation, die Atomenergie-Organisation zu konsultieren, bevor sie Forschungen zu Folgen radioaktiver Strahlung einleite, hieß es. Dabei sei Einvernehmen zu erzielen. Der Hauptzweck der Atomenergie-Organisation sei gemäß ihrer Satzung, die Nutzung der Atomenergie zu fördern. Das sei ein ”Widerspruch, der nicht aufzulösen ist“, sagte Claußen. Das Abkommen führe unter anderem dazu, dass die WHO die Folgen der Tschernobyl-Katastrophe bis heute herunterspiele und Dokumente zu den Risiken der Atomtechnologie nicht veröffentliche, so die Ärztin.
Peter Junge-Wentrup (Internationales Bildungs- und Begegnungswerk Dortmund) informierte den Umweltausschuss über die Betreuung von Kindern aus dem Gebiet um Tschernobyl in europäischen Gastfamilien. Allein in Deutschland gebe es 500 Initiativen, die Kinder aus der Ukraine und Belarus betreuen würden. Auch in Spanien, Großbritannien, Österreich, Italien und weiteren Ländern gebe es Organisationen dieser Art. Über eine Million kleiner Gäste seien bereits in verschiedenen europäischen Familien betreut worden. Diese Urlaube würden in den Ländern auch den Blick auf Westdeutschland verändern. Junge-Wentrup sieht darin einen Teil des Versöhnungsprozesses nach dem Zweiten Weltkrieg. Auch Eckhard Petreins vom CVJM Friedensnetz betrachtet diese Besuche als einen Beitrag zur Völkerverständigung. Er versprach: ”Wir werden diese Arbeit weitermachen.“
Hartmuth Teske von der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) betonte, dass die Vorfälle von Tschernobyl und Fukushima die Welt verändert haben. Zur Bewältigung der Folgen müssten zahlreiche Projekte angestoßen werden. Er sprach sich dafür aus, die radioaktiven Abfälle, die sich noch im Reaktor befinden, in eine Endlagerung zu überführen. Auch der Politiker Wolodimir Usatenko betonte, ein Atommüllendlager würde viele Probleme lösen.
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