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Vorabmeldung zu einem Interview in der nächsten Ausgabe der Wochenzeitung
„Das Parlament“ (Erscheinungstag: 25. Januar 2010)
- bei Nennung der Quelle frei zur sofortigen Veröffentlichung -
Der polnische Historiker Feliks Tych fordert, den Holocaust in ganz Europa aufzuarbeiten und die „entsetzlichen Verbrechen an Juden“ in anderen europäischen Ländern nicht länger als „Tabu-Thema“ zu behandeln. Dies sagte Tych in einem Interview mit der Wochenzeitung „Das Parlament“, die am 25. Januar erscheint. Der 80-Jährige betont darin, dass er die Deutschen damit nicht entlasten wolle. „Ich möchte nur, dass nicht verschwiegen und vergessen wird, wer mit dabei war und warum.“ 65 Jahre nach Befreiung des Vernichtungs- und Konzentrationslagers Auschwitz sei es Zeit, offen über dieses Thema zu sprechen.
Tych wird am 27. Januar, dem internationalen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus, vor dem Bundestag sprechen. Auch Israels Staatspräsident Schimon Peres wird auf der Gedenkveranstaltung eine Rede halten. Tych war als 13-Jähriger 1942 aus dem Ghetto Radomsko geflohen. Seine Eltern und einige seiner Geschwister wurden von den Nationalsozialisten ins Vernichtungslager Treblinka deportiert und dort ermordet.
Tych fordert die junge Generation im Interview auf, dafür zu sorgen, dass sich etwas Ähnliches wie der Holocaust nicht mehr wiederholt. Es könne durchaus zu Situationen kommen, „in denen wir uns einmischen müssen“, meint Tych. „Wo Völkermord droht, sollte man auch militärisch eingreifen.“
Das Interview im Wortlaut:
Herr Tych, Sie sprechen am 27. Januar, dem internationalen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus, vor dem Deutschen Bundestag. Am Tag genau vor 65 Jahren wurde das Konzentrationslager Auschwitz befreit. Wissen Sie noch, was Sie damals gefühlt haben?
Ich habe keine besondere Erinnerung an diesen Tag. Auschwitz war damals für uns ein Synonym für polnisches Leiden, ein Ort, an dem Deutsche an Polen Verbrechen begangen hatten. Erst viel später haben wir erfahren, dass ab 1942 dort vor allem Juden ermordet wurden.
Sie waren 13 Jahre alt, als Sie im September 1942 allein aus dem Ghetto in Radomsko geflohen sind. Welche Erinnerung haben Sie an das Leben dort?
Es war ein sehr elendes Leben in diesem Ghetto. Von Anfang an wurden Menschenerschossen. Außerdem mussten alle männlichen Ghetto-Bewohner zwischen 16 und 55 Jahren Zwangsarbeit leisten, oft schwere körperliche Arbeit. Ich bin in einem unbeobachteten Moment aus dem Ghetto geflohen. Es gab dort keine Mauer und keinen Zaun, nur deutsche oder polnische Polizisten standen an der Grenze zum Ghetto, und ich war ein kleiner unscheinbarer Junge.
Ihre Eltern und einige ihrer Geschwister sind im Ghetto geblieben.
Ja, meine Eltern haben mir gesagt, sie müssten bleiben. Sie haben wohl geahnt, dass etwas Schreckliches passieren würde und wollten mich, das Kind, retten. Wenige Wochen später wurden alle deportiert. Meine Eltern und Geschwister sind im Vernichtungslager Treblinka ermordet worden. Das habe ich aber erst nach Ende des Krieges von meiner Schwester erfahren.
Wohin sind Sie gegangen, nachdem Sie aus dem Ghetto geflohen waren?
In Warschau ergab sich, dass mein Schwager über eine Arbeitskollegin eine Frau fand, die mich aufnehmen wollte – trotz der Todesstrafe, die im besetzten Polen jedem drohte, der einem Juden half. Sie hatte selbst zwei kleine Kinder. Vor dem Krieg war sie Gymnasiallehrerin gewesen, und nun arbeitete sie als Küchenhilfe in einer polnischen Betriebskantine. Für ihre Nachbarn konnte ich nur als ein Familienangehöriger existieren. So wurde ich ihnen als Sohn ihrer verstorbenen Schwester vorgestellt. Sie kümmerte sich um mein seelisches Gleichgewicht und meine Lektüre, die polnische Untergrundpresse eingeschlossen. Den Krieg überstanden wir in gemeinsam geteilter Armut. Ich habe sie bis zu ihrem Tod als meine zweite Mutter gesehen.
Wie haben Sie diese Erlebnisse verarbeitet? Konnten Sie darüber sprechen?
Die Zeit, in der ich nichts von meinen Eltern wusste, war sehr schwer für mich. Und nach dem Krieg haben die meisten Überlebenden generell nicht oder wenig über ihren Kummer gesprochen. Zu ihnen gehörte ich auch. Ich habe aber von Anfang an alles über den Holocaust gelesen, was ich finden konnte. Das war sicher meine Form der Verarbeitung. Erst als ich 1995 Direktor des Jüdischen Historischen Instituts in Warschau geworden bin, habe ich über den Holocaust gearbeitet und unterrichtet. Dabei haben mir meine persönlichen Erfahrungen oft geholfen. Aber noch immer berühren mich Zeitzeugenberichte sehr. Es sind so viele unfassbar schreckliche Dinge passiert.
Was bedeutet es für Sie, über all das in dieser Woche ausgerechnet vor dem deutschen Parlament zu reden?
Sehr viel! Ich war überrascht, dass man mich vorgeschlagen hat. Ich kann aber sagen, dass ich stolz bin. Dass ich nun die Möglichkeit habe, über den Holocaust, wie ich ihn sehe, an diesem Ort, vor dem Bundestag, zu sprechen, ist mir sehr wichtig.
Gibt es eine besondere Botschaft, die Sie bei dieser Gelegenheit gerne übermitteln möchten?
Ich werde etwas über meine eigenen Erfahrungen erzählen, aber mehr möchte ich aus der Sicht eines Forschers berichten. Seit Jahren beschäftige ich mich intensiv mit dem Holocaust in ganz Europa. Komplizen der Deutschen gab es fast überall. Nur sah das in jedem Land anders aus. Vor allem in den baltischen Ländern, in der Ukraine, in Ungarn und Rumänien sind auch von Einheimischen entsetzliche Verbrechen an Juden begangen worden. Auch im besetzten Polen gab es einzelne Fälle, wo Einheimische an dem Judenmord beteiligt waren. Der Fall der kleinen Stadt Jedwabne ist bekannt. Für Jahrzehnte war das ein Tabu-Thema. Darüber möchte ich sprechen.
Für Deutsche ist es schwierig, das zu thematisieren.
Ein Deutscher kann das schlecht sagen. Aber ich kann es, auch wenn es bestimmt so kommentiert wird, dass ich die Deutschen entlasten wollte. Das will ich selbstverständlich nicht. Ich möchte nur, dass nicht verschwiegen und vergessen wird, wer mit dabei war und warum. Der Holocaust muss in ganz Europa aufgearbeitet werden. 65 Jahre nach der Befreiung des deutschen nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz, das heute allgemein als Symbol des Holocaust gilt, ist es wohl Zeit, offen darüber zu sprechen.
Deutschland und Polen haben sehr lange auch über das geplante Zentrum gegen Vertreibungen gestritten. Wie bewerten Sie die Debatte?
Das Gezänk sehe ich eher entspannt. Die Geschichte der Vertreibungen muss erzählt werden. Das ist sehr wichtig für alle. Nur dürfen die Deutschen auch nicht vergessen zu erzählen, dass sie den Krieg vom Zaun gebrochen haben und für alles, was sich daraus ergeben hat, in erster Linie verantwortlich sind.
Die deutsch-polnischen Beziehungen waren in den vergangenen Jahren, auch wegen solcher Themen, nicht immer frei von Konflikten. Wie sehen Sie das Verhältnis heute?
Tatsächlich hatten wir in unserer gemeinsamen Geschichte noch nie ein so gutes Verhältnis wie jetzt. Heute ist es für viele Polen normal, nach Deutschland zu reisen und auch dort zu arbeiten. Polnische Jugendliche sind sehr an Deutschland interessiert. Sie haben – glaube ich – so gut wie keine Vorurteile mehr.
Sie haben selbst einige Jahre in Deutschland unterrichtet.
Ja, und ich habe besonders die jungen Leute immer als sehr offen und interessiert erlebt. Ich hatte ohnehin nie Probleme mit Menschen, die nach dem Krieg geboren wurden. Den älteren gegenüber war ich allerdings schon etwas vorsichtiger.
Sie treffen sich im Bundestag ebenfalls mit Jugendlichen, um mit ihnen über den Holocaust zu diskutieren. Was erhoffen Sie sich von dieser Begegnung?
Dieses Treffen bedeutet mir besonders viel. Ich möchte den jungen Leuten vor allem zuhören. Ich bin gespannt, welche Fragen sie stellen werden , was sie über den Holocaust denken und wie sie zu dieser europäischen Grunderfahrung stehen.
Was erwarten Sie von der jungen Generation, die den Holocaust nur noch aus Erzählungen kennt?
Sie soll verstehen, dass er ein schreckliches Verbrechen war, eine Katastrophe für die Menschheit. Sie sollte dafür sorgen, dass etwas Ähnliches sich nicht mehr wiederholt. Deshalb kann es durchaus auch zu Situationen kommen, in denen wir uns einmischen müssen.
Was verstehen Sie darunter?
Das muss man von Fall zu Fall entscheiden. Natürlich kann man nicht bei jeder Gelegenheit einfach Soldaten in jede Ecke der Welt schicken. Aber wo Völkermord droht, so meine ich, sollte man auch militärisch eingreifen.
Das Interview führte Johanna Metz
Feliks Tych, geboren 1929 als Kind jüdischer Eltern in Warschau, war von 1995 bis 2007 Direktor des Jüdischen Historischen Instituts Warschau. Heute ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter mit eigenen Projekten. Für Ende 2010 bereitet er ein polnisch- und englischsprachiges Sammelwerk mit interdisziplinären Beiträgen über die Folgen des Holocaust in Polen vor.