Navigationspfad: Startseite > Dokumente > Textarchiv > 2011 > BVG Lammert
"Sehr zufrieden" hat sich Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert am Mittwoch, 7. September 2011, mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom gleichen Tag zur Griechenland-Hilfe und zum Euro-Rettungsschirm gezeigt. Mit dem Urteil habe das Gericht auch seine begründete Überzeugung zum Ausdruck gebracht, dass es ohne eine konstitutive Mitwirkung des Parlaments keine verfassungsfesten Lösungen gebe. Das Gericht habe festgestellt, dass der Bundestag seine Budgetverantwortung nicht durch unbestimmte haushaltspolitische Ermächtigung auf andere Akteure übertragen dürfe. Mit der Zurückweisung der Verfassungsbeschwerden habe das Gericht auch deutlich gemacht, dass es eine mangelhafte Sorgfalt in den Gesetzgebungen "offensichtlich nicht gibt". Der Gesetzgeber habe keine Kompetenzen delegiert, auch nicht an die Regierung. "Gewinner ist die Demokratie", sagte Lammert.
Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil drei Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen, die sich gegen deutsche und europäische Rechtsakte sowie weitere Maßnahmen im Zusammenhang mit der Griechenland-Hilfe und dem Euro-Rettungsschirm richten.
Dabei entschied der Zweite Senat, dass das Währungsunion-Finanzstabilitätsgesetz, das zur Griechenland-Hilfe ermächtigt, und das Gesetz zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus, das den Euro-Rettungsschirm betrifft, nicht das Wahlrecht aus Artikel 38 Absatz 1 des Grundgesetzes verletzen. Darin heißt es, dass die Bundestagsabgeordneten in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt werden und als Vertreter des ganzen Volkes an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen sind.
Die Richter stellen fest, dass der Bundestag durch die Verabschiedung dieser Gesetze weder sein Budgetrecht noch die Haushaltsautonomie zukünftiger Bundestage in verfassungsrechtlich unzulässiger Weise beeinträchtigt habe. Allerdings sei Paragraf 1 Absatz 4 des Euro-Stabilisierungsmechanismus-Gesetzes nur bei verfassungskonformer Auslegung mit dem Grundgesetz vereinbar.
In dieser Vorschrift heißt es, dass sich die Bundesregierung vor der Übernahme von Gewährleistungen im Sinne dieses Gesetzes bemüht, Einvernehmen mit dem Haushaltsausschuss des Bundestages herzustellen, der das Recht zur Stellungnahme hat. Muss eine Gewährleistung aus „zwingenden Gründen" übernommen werden, bevor das Einvernehmen hergestellt ist, so muss der Haushaltsausschuss „unverzüglich" nachträglich unterrichtet werden. Die Regierung muss eingehend begründen, dass die Übernahme der Gewährleistung vor Herstellung des Einvernehmens „unabweisbar" war.
Das Verfassungsgericht urteilt nun, dass diese Vorschrift so ausgelegt werden muss, dass die Bundesregierung vor der Übernahme von solchen Gewährleistungen verpflichtet ist, die vorherige Zustimmung des Haushaltsausschusses einzuholen. Lammert wertet dies so, dass das Bemühen der Regierung künftig nicht mehr ausreichen werde, sondern dass die Zustimmung des Haushaltsausschusses vorliegen müsse.
Durch das am 7. Mai 2010 vom Bundestag verabschiedete Gesetz zur Griechenland-Hilfe wurde das Bundesfinanzministerium ermächtigt, Gewährleistungen bis zur Höhe von 22,4 Milliarden Euro für Kredite an Griechenland zu übernehmen. Mit dem am 21. Mai 2010 verabschiedeten Euro-Stabilisierungsmechanismus-Gesetz ermächtigte das Parlament das Ministerium, Gewährleistungen zur Absicherung von Krediten bis zu einer Höhe von 147,6 Milliarden Euro zu übernehmen.
Dagegen hatten eine Reihe von Professoren und der CSU-Abgeordnete Dr. Peter Gauweiler Verfassungsbeschwerde eingereicht. Sie rügten unter anderem die Verletzung ihres Grundrechts auf Eigentum aus Artikel 14 sowie eine Beeinträchtigung des Wahlrechts aus Artikel 38 Absatz 1 des Grundgesetzes, vor allem unter den Aspekten einer Verletzung des Demokratieprinzips und einer Beeinträchtigung der Haushaltsautonomie des Deutschen Bundestages.
Das Gericht stellt unter anderem fest, dass die Entscheidung über Einnahmen und Ausgaben der öffentlichen Hand nach Artikel 38 „grundlegender Teil der demokratischen Selbstgestaltungsfähigkeit im Verfassungsstaat" in der Hand des Deutschen Bundestages bleiben muss. Auch in einem „System intergouvernementalen Regierens" müssten die Abgeordneten die Kontrolle über fundamentale haushaltspolitische Entscheidungen behalten. Lammert nannte dies die Umsetzung eines "glasklaren Verfassungslage".
Insofern sei es dem Bundestag untersagt, so das Gericht, finanzwirksame Mechanismen zu begründen, die zu nicht überschaubaren haushaltsbedeutsamen Belastungen ohne erneute konstitutive Zustimmung des Bundestages führen können.
Dem Bundestag als Gesetzgeber sei es verwehrt, dauerhafte völkervertragsrechtliche Mechanismen zu etablieren, die auf eine Haftungsübernahme für Willensentscheidungen anderer Staaten hinauslaufen – vor allem, wenn sie mit schwer kalkulieren Folgewirkungen verbunden seien.
Jede ausgabenwirksame solidarische Hilfsmaßnahme des Bundes größeren Umfangs im „internationalen oder unionalen Bereich" müsse vom Bundestag im Einzelnen bewilligt werden, heißt es in dem Urteil. Auch bei der Art und Weise des Umgangs mit den zur Verfügung gestellten Mitteln müsse hinreichender parlamentarischer Einfluss gesichert sein.
Auch auf diesen Aspekt des Urteils wies Lammert vor der Presse ausdrücklich hin. Die Mitwirkung des Haushaltsausschusses reiche aus, wenn es sich um die Abwicklung getroffener Entscheidungen handle. Das entspreche der Unterscheidung, die er in den vergangenen Wochen in die Diskussion eingebracht habe und die jetzt Grundlage des Gesetzgebungsverfahrens in den Fraktionen sei, betonte Lammert.
Der Zweite Senat kommt zum Ergebnis, dass die europäischen Verträge einem Verständnis der nationalen Haushaltsautonomie als einer wesentlichen, „nicht entäußerbaren Kompetenz der unmittelbar demokratisch legitimierten Parlamente der Mitgliedstaaten" nicht entgegenstehen, sondern sie im Gegenteil voraussetzen. Die strikte Beachtung der europäische Verträge gewährleiste, dass die Handlungen der EU-Organe in und für Deutschland über eine hinreichende demokratische Legitimation verfügen.
Lammert sieht darin einen "umgekehrten Begründungszusammenhang". Es gebe keine "Entleerung" von Zuständigkeiten der nationalen Parlamente aus den EU-Verträgen. Im Gegenteil: "Wir mussten die Regierungen ermächtigen, die Verträge überhaupt einzugehen." Die Verträge wiederum seien rechtliche Voraussetzung für die Gewährleistungen.
In der Urteilsbegründung heißt es weiter, dem Gesetzgeber komme hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit, für Gewährleistungen einstehen zu müssen, ein Einschätzungsspielraum zu, den das Bundesverfassungsgericht respektieren müsse. Dies gelte auch für die Abschätzung der künftigen Tragfähigkeit des Bundeshaushalts und des wirtschaftlichen Leistungsvermögens der Bundesrepublik.
Lammert wertet dies so, dass es einen "notwendigen Ermessensspielraum" des Gesetzgebers bei der Einschätzung der Tragfähigkeit des Bundeshaushalts und der Wahrscheinlichkeit, für Gewährleistungen einstehen zu müssen, gibt, den das Gericht den gewählten Organen "nicht abnehmen kann". Im Eilurteil des Bundesverfassungsgerichts sei noch vom "Einschätzungsspielraum der Bundesregierung" die Rede gewesen.
Dem Richterspruch zufolge erweisen sich die beiden beanstandeten Gesetze als „mit dem Grundgesetz vereinbar". Der Bundestag habe sein Budgetrecht nicht in verfassungsrechtlich unzulässiger Weise entleert und den substanziellen Bestimmungsgehalt des Demokratieprinzips nicht missachtet.
Es könne nicht festgestellt werden, so der Senat, dass die Höhe der übernommenen Gewährleistungen die haushaltswirtschaftliche Belastungsgrenze derart überschreitet, dass die Haushaltsautonomie praktisch vollständig leerliefe. Die Beurteilung des Gesetzgebers, dass die Gewährleistungsermächtigungen von rund 170 Milliarden Euro für den Bundeshaushalt tragbar seien, überschreite nicht seinen Einschätzungsspielraum und sei daher verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
Gleiches gelte für die Erwartung, dass selbst im Fall der vollständigen Realisierung des Gewährleistungsrisikos die Verluste über höhere Einnahmen, Ausgabenkürzungen und über längerfristige Staatsanleihen noch refinanzierbar wären. Keines der beiden angegriffenen Gesetze begründe oder verfestige einen Automatismus, durch den der Bundestag sich „seines Budgetrechts entäußern" würde.
Die Überlegungen in den Fraktionen im Hinblick auf die Bereitschaft zu einer einvernehmlichen Regelung befinden sich nach Aussage des Bundestagspräsidenten auf der Linie dieses Urteils, "sodass wir zu klaren gesetzlichen Regelungen der künftigen parlamentarischen Beteiligung kommen werden".
Auch der Vorsitzende des Rechtsausschusses des Bundestages, Siegfried Kauder (CDU/CSU), stellt fest, das Gericht habe mit seiner Entscheidung bestätigt, dass das Parlament seiner Verpflichtung nachkommen müsse, Regierungsvorlagen kritisch zu prüfen. Der Bundestag habe das Heft in der Hand und dürfe sich bei seinen Beratungen nicht unter Druck setzen lassen. "Damit unterstreicht Karlsruhe das Recht der Parlamentarier, über die wesentlichen Elemente der Euro-Rettungspakete frei zu entscheiden", so Kauder.
Das Gericht räume den Abgeordneten einen breiten Raum politischer Gestaltung ein, ziehe aber auch klare Grenzen. Der Versuchung, parlamentarische Rechte "vertrauensvoll" in die Hände der Regierung zu geben, müsse das Parlament widerstehen. Es entspreche dem Wählerauftrag, eigenständig und selbstbewusst auch Regierungsvorlagen auf ihre Vereinbarkeit mit der Verfassung zu prüfen. Dieser Verpflichtung sei der Bundestag nachgekommen. (vom)