Navigationspfad: Startseite > Dokumente > Textarchiv > 2011 > Anwerbeabkommen Türkei
Knapp 50 Jahre nach der Unterzeichnung des deutsch-türkischen Anwerbeabkommen vom 30. Oktober 1961 haben Vertreter aller Fraktionen am Mittwoch, 26. Oktober 2011, den Beitrag türkischstämmiger Mitbürger zur Entwicklung in Deutschland gewürdigt. Die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, Staatsministerin Prof. Dr. Maria Böhmer (CDU), verwies im Bundestag darauf, dass allein zwischen 1961 und 1972 rund 750.000 türkische Frauen und Männer in die Bundesrepublik gekommen und hier "dringend als Arbeitskräfte gesucht" worden seien. Mit ihrem "unermüdlichen Einsatz" hätten sie "maßgeblich zum Wohlstand unseres Landes beigetragen".
Heute lebten viele türkischstämmige Familien schon in der dritten oder vierten Generation in Deutschland, fügte Böhmer hinzu: "Sie sind Teil unserer Gesellschaft, und Deutschland ist ihre Heimat geworden", sagte die Staatsministerin.
Sie betonte zugleich, dass sich die Bundesregierung in den vergangenen Jahren "mit aller Kraft für eine bessere Integration eingesetzt". Sie wolle den Migranten die gleichberechtigte Teilhabe ermöglichen und den Zusammenhalt im Lande stärken. Integration sei eine "Schlüsselaufgabe" für Deutschland. Sie müsse gefördert, aber auch gefordert werden.
Die SPD-Abgeordnete Aydan Özoğuz erinnerte daran, dass die "ersten Gastarbeiter" aus der Türkei oft "harte Tätigkeiten" ausgeübt hätten, für die man keine einheimischen Arbeitskräfte habe finden können. Diesen Menschen sei nicht allzu oft dafür gedankt worden, doch wäre das "Wirtschaftswunder" in Deutschland "sicherlich ohne ihre Mithilfe nicht vollendet worden".
Özoğuz fügte hinzu, als starkes Signal für das deutsch-türkische Zusammenleben sei "der Schritt zu echter doppelter Staatsangehörigkeit" für die Sozialdemokraten überfällig.
Der FDP-Parlamentarier Serkan Tören betonte, der 30. Oktober 1961 markiere den "Beginn der Arbeitsmigration" in die Bundesrepublik. "Die türkischen Migranten der ersten Stunde haben unser Land mit aufgebaut und unseren Wohlstand mit begründet", sagte Tören. Heute lebten rund 2,5 Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln in Deutschland, von denen knapp eine Million deutsche Staatsangehörige seien.
Tören verwies darauf, dass 38 Prozent der Jugendlichen mit türkischer Herkunft über keine Ausbildung verfügten. Es gebe aber auch positive Entwicklungen. So machten "aktuell rund 23 Prozent der Frauen mit türkischer Herkunft das Abitur gegenüber 18 Prozent der Gesamtgruppe". Im Großen und Ganzen sei die Zuwanderung aus der Türkei "eine Erfolgsgeschichte für uns alle".
Für die Linksfraktion sagte ihre Abgeordnete Sabine Zimmermann, wenn die Einwanderung aus der Türkei als Erfolgsgeschichte dargestellt werden könne, "dann nicht wegen, sondern trotz der herrschenden Migrations- und Integrationspolitik". Jahrzehntelang habe die offizielle Politik der Bundesregierung darauf basiert, den Betroffenen politische und soziale Rechte zu verweigern.
Bei Integrationshilfen oder Sprachkursangeboten habe Fehlanzeige geherrscht. Wenn heute türkische Migranten überdurchschnittlich oft keinen Schul- und Berufschulabschluss haben, sei "dies nicht zuletzt auch eine Folge von 50 Jahren Diskriminierung und Dequalifizierung".
Der Grünen-Parlamentarier Memet Kilic kritisierte, dass es immer wieder Schuldzuweisungen gegen Einwanderer gegeben habe. Ende der siebziger Jahre hätten sich Union und SPD bei einer "Das-Boot-ist-voll"-Politik überboten. Nach der deutschen Wiedereinigung habe diese Politik überhandgenommen - mit verheerenden Folgen: "In Mölln und Solingen wurden türkischstämmige Emigranten verbrannt", sagte Kilic.
Er mahnte, man müsse "von der Vergangenheit lernen und mutig in die Zukunft schauen". Das Bildungssystem müsse so geregelt werden, dass die Schulerfolge von Kindern weder vom Geldbeutel noch von der Herkunft ihrer Eltern abhängen. Auch müssten Einbürgerungen unter Hinnahme von Mehrstaatlichkeit erleichtert und das kommunale Wahlrecht auf Nicht-EU-Bürger erweitert werden.
Auch der CDU-Abgeordnete Reinhard Grindel hob den "positiven Beitrag" hervor, "den unsere türkischen Mitbürger zum wirtschaftlichen, aber auch sozialen Wohlstand in unserem Land geleistet haben". Grindel fügte hinzu, man höre von einer wachsende Zahl junger Türken, die Deutschland "auch deshalb verlassen, weil sie - wahrscheinlich zu Recht - den Eindruck haben, dass sie wegen ihres Migrationshintergrund nicht die beruflichen Chancen bekommen, die sie aufgrund ihrer Ausbildung verdienen".
Es liege aber "gerade angesichts der demografischen Entwicklung" im ureigensten Interesse Deutschlands, "dass alle ausländischen Mitbürger in unserem Land eine gute Perspektive haben, weil nur dann unser Land insgesamt eine gute Perspektive hat".(sto)