Navigationspfad: Startseite > Dokumente > Textarchiv > 2011 > Neunergremium
Das Bundesverfassungsgericht hat am Donnerstag, 27. Oktober, entschieden, dass bis zu einer Entscheidung im Organstreitverfahren die Beteiligungsrechte des Bundestages an Maßnahmen des Euro-Rettungsschirms EFSF nicht von dem neunköpfigen Gremium wahrgenommen werden dürfen, dessen Mitglieder der Bundestag in seiner Sitzung am 26. Oktober gewählt hatte. Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert sagte dazu am Freitag, 28. Oktober 2011: „Wir haben gestern im Ältestenrat bereits Einvernehmen darüber gehabt, dass die nach der Wahl der Mitglieder des Gremiums eigentlich anstehende Konstituierung selbstverständlich so lange ausgesetzt bleibt, wie die Streitfrage in der Hauptsache nicht geklärt ist."
Die Frage, ob die im Gesetz zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus getroffenen Regelungen verfassungswidrig sind oder nicht, sei damit ausdrücklich noch nicht entschieden. Bis dahin werde sich der Bundestag, wenn erforderlich, mit konkreten Entscheidungen und entscheidungsbedürftigen Fragen auseinandersetzen.
Mit der Eilentscheidung hat sich am 28. Oktober auch der Haushaltsausschuss des Bundestages auseinandergesetzt (siehe unten unter "Weitere Informationen": Regierung sieht Handlungsfähigkeit im EFSF nicht eingeschränkt).
Die Eilentscheidung des Zweiten Senats bezieht sich auf einen Antrag der SPD-Bundestagsabgeordneten Prof. Dr. Peter Danckert und Swen Schulz auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, dass die Beteiligungsrechte des Bundestages bis zur Entscheidung im Organstreitverfahren („Hauptsache") nicht von diesem Gremium nach Paragraf 3 Absatz 3 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes wahrgenommen werden dürfen.
Die Abgeordneten sehen sich durch die Delegation der parlamentarischen Haushaltsverantwortung auf das „Neuner-Sondergremium", allesamt Mitglieder des Haushaltsausschusses, in ihrem Abgeordnetenstatus nach Artikel 38 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes verletzt. Darin heißt es, die Abgeordneten seien „Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen".
Die 17 Mitgliedstaaten der Europäischen Währungsunion hatten als Reaktion auf die Staatsschuldenkrise den „Euro-Rettungsschirm" geschaffen und eine privatrechtlich organisierte Zweckgesellschaft mit dem Namen „Europäische Finanzstabilisierungsfazilität" (EFSF) gegründet. Die EFSF erhält Garantien von den Euro-Mitgliedstaaten, um die Mittel an den Kapitalmärkten aufzunehmen, die sie für überschuldete Mitgliedstaaten bereitstellt.
Mit dem Stabilisierungsmechanismusgesetz von 2010 hatte der Bundestag die Voraussetzungen festgelegt, unter denen dieser finanzielle Beistand geleistet wird. Im Mai und Juli dieses Jahres kamen die Mitgliedstaaten überein, die maximale Darlehenskapazität der EFSF von 440 Milliarden Euro in vollem Umfang bereitzustellen und die EFSF mit weiteren, flexibleren Instrumenten auszustatten, um die Staatsschuldenkrise und die gestiegenen „Ansteckungsgefahren" zu bewältigen.
Der Bundestag hat diese Ausweitung des Rettungsschirms am 29. September beschlossen, am 14. Oktober traten die Änderungen in Kraft. Der deutsche Gewährleistungsrahmen beläuft sich danach auf 211 Milliarden Euro.
Neu geregelt wurden auch die Beteiligungsrechte des Bundestages. Danach muss das Parlament grundsätzlich den Entscheidungen des deutschen Vertreters in der EFSF zustimmen. Bei besonderer Eilbedürftigkeit und Vertraulichkeit soll dieses Beteiligungsrecht jedoch nach Paragraf 3 Absatz 3 des Gesetzes vom „Neuner-Sondergremium" ausgeübt werden. Besondere Eilbedürftigkeit oder Vertraulichkeit soll regelmäßig bei Notmaßnahmen zur Verhinderung von Ansteckungsgefahren vorliegen.
Die für den Erlass der einstweiligen Anordnung erforderliche Abwägung der Folgen ergibt für die Karlsruher Richter, dass den beiden Abgeordneten gewichtige Nachteile entstünden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge und sich das Organstreitverfahren später als begründet erwiese. Sie könnten zwischenzeitlich in ihren Statusrechten als Abgeordnete irreversibel verletzt werden.
Denn bis zur Entscheidung im Organstreitverfahren könnte das Sondergremium Entscheidungen treffen, die die Statusrechte der Antragsteller im Hinblick auf die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Bundestages berühren – etwa, indem das Sondergremium einer Notmaßnahme der EFSF auf Antrag eines Euro-Mitgliedstaates zustimmt.
Diese Rechtsverletzungen wären durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Organstreitverfahren nicht mehr rückgängig zu machen, heißt in der Begründung der Eilentscheidung. Die Bundesrepublik wäre nach einer Zustimmung völkerrechtlich bindende Verpflichtungen eingegangen.
Demgegenüber wögen die Nachteile weniger schwer, die entstünden, wenn das Gericht die einstweilige Anordnung erließe, dem Antrag aber im Organstreitverfahren der Erfolg versagt bliebe.
Wenn das Sondergremium seine Mitwirkungs- und Unterrichtungsrechte bis zur Entscheidung im Organstreitverfahren nicht ausübt, würde das die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung in diesem Zeitraum nicht beeinträchtigen. Vielmehr könne die Bundesregierung jederzeit notwendige Zustimmungen gegenüber dem Deutschen Bundestag beantragen, über die dann das Plenum entscheidet. (vom)