Navigationspfad: Startseite > Dokumente > Textarchiv > 2011 > 50 Jahre Europäische Sozialcharta
Aus Sicht Johann Wadephuls spielt die Europäische Sozialcharta, die vor 50 Jahren im Oktober 1961 von zunächst 13 Mitgliedsländern des Europarats unterzeichnet wurde, beim Ausbau sozialer Standards auf dem Kontinent eine zentrale Rolle. Während die Konvention von 1961 vom Bundestag ratifiziert wurde, ist dies bei der 1999 revidierten Fassung bislang nicht der Fall. Wie der CDU-Abgeordnete im Interview mitteilt, stehen einem solchen Schritt noch einige Probleme wie etwa die strittige Auslegung des Diskriminierungsbegriffs im Weg. Die Europaratscharta proklamiert zahlreiche soziale Grundrechte wie beispielsweise das Streikrecht, das Verbot von Zwangs- und Kinderarbeit, den Anspruch auf Schul- und Berufsausbildung, das Recht auf ein Altern in Würde oder den Anspruch auf medizinische Grundversorgung. Wadephul gehört dem Sozialausschuss des Bundestages und der Bundestagsdelegation bei der Parlamentarischen Versammlung des Europarats an. Das Interview im Wortlaut:
Die Sozialcharta ist anders als die Straßburger Menschenrechtskonvention in Öffentlichkeit und Politik kaum von Belang. Ist es nicht von Bedeutung, soziale Rechte in solch einer Charta zu definieren? Hat die Sozialkonvention in den vergangenen 50 Jahren in den Europaratsländern Spuren hinterlassen?
Bislang haben 43 der 47 Mitgliedsnationen des Staatenbunds die Sozialcharta unterzeichnet, 31 Länder haben dieses Abkommen zudem ratifiziert. Allein diese Zahlen belegen die Bedeutung der Konvention. Auch wenn die einzelnen Nationen ihre Sozialpolitik eigenständig regeln, so nähern sich die europäischen Staaten sozialpolitisch doch einander an. Dabei spielen die Normen der Sozialcharta eine zentrale Rolle.
Im internationalen Vergleich hat die Bundesrepublik hohe Sozialstandards. Erfüllt Deutschland alle Straßburger Vorgaben? Oder verstößt man auch hierzulande gegen die Konvention?
Nach einem Bericht des Straßburger Sozialrechtsausschusses, der die Einhaltung der Charta überwacht, lassen einige deutsche Tarifverträge höhere Wochenarbeitszeiten zu als dies nach den Maßstäben der Konvention erlaubt ist. Zudem kritisieren die Experten des Europarats, dass bei uns General- und Sympathiestreiks untersagt sind. Auch moniert die Straßburger Kommission, das Recht auf eine angemessene Entlohnung werde nicht voll respektiert. Nun liegen in allen Europaratsstaaten mehr oder weniger gravierende Verstöße gegen die Charta vor. In Deutschland sind hohe Sozialstandards gewährleistet, vor allem durch staatliche Sozialleistungen, das Arbeitsrecht und Tarifverträge. Trotz geringfügiger Verstöße gegen die Richtwerte der Konvention sind individuelle und kollektive Arbeitnehmerrechte bei uns stark ausgeprägt.
Anders als die Sozialcharta von 1961 hat der Bundestag die 1999 revidierte Fassung der Konvention bis heute nicht ratifiziert. Gerät da die reiche Bundesrepublik nicht in ein schlechtes Licht?
Wir haben uns nichts vorzuwerfen. Deutschland ist in Europa sozialpolitisch ein Vorbild, das hiesige Niveau muss andernorts vielfach erst noch erreicht werden. Gleichwohl arbeiten wir stets an Verbesserungen, die aber wirtschaftlich und finanziell machbar sein müssen, was in Krisenzeiten nicht immer einfach ist. Derzeit wird die Möglichkeit einer Ratifizierung der revidierten Konvention ausgelotet. Ich rechne damit, dass die Beratungen im Sozialausschuss bald beginnen. Ein Datum für eine Ratifizierung ist noch nicht absehbar.
Welche Einwände existieren gegen die neue Version der Sozialcharta?
Ein wesentlicher Kritikpunkt ist aus meiner Sicht, dass die Kategorie Diskriminierung zu weit gefasst ist. Strittig ist auch, inwieweit die Sozialrechtskommission des Europarats beanspruchen kann, diesen Diskriminierungsbegriff verbindlich auszulegen. Der Straßburger Neigung zu gesetzlichen Regelungen im Arbeitsrecht stehen die guten deutschen Erfahrungen entgegen, in diesem Bereich der Rechtsprechung Vorrang einzuräumen. Manches ist in der neuen Konvention sehr weitreichend formuliert, so das Recht auf Wohnung. Dann geht es im Detail etwa um die Frage, wie bei der Entlohnung die Gleichbehandlung von Frauen und Männern gewährleistet werden soll, ich denke, in diesem Punkt sollte man nicht alles über die Sozialcharta vorgeben. Nicht jede Lebenslage muss bis ins kleinste Detail geregelt werden. Im Konfliktfall können letztlich auch Arbeitsgerichte entscheiden.
Umstritten sind die Kompetenzen des Sozialrechtsausschusses. Will Straßburg zu stark in die deutsche Politik hineinregieren?
Weder diese Kommission noch das Ministerkomitee als höchstes Gremium im Europarat können die Mitgliedsnationen zum Erlass bestimmter Gesetze zwingen. Der Staatenbund kann lediglich Kritik üben und Empfehlungen gegenüber nationalen Regierungen und Parlamenten aussprechen, was faktisch natürlich Forderungen sind. Die Mitgliedsländer entscheiden gleichwohl souverän, ob und in welchem Maße sie sich Straßburger Konventionen unterwerfen. Was die Umsetzung der Sozialcharta angeht, so kommt Deutschland seinen Verpflichtungen durchaus nach.
Gibt es bei der Frage der Ratifizierung Differenzen zwischen Koalition und Opposition oder nimmt man dazu im Bundestag eine gemeinsame Haltung ein?
Auch die Sozialpolitik der Koalition wird, wie sollte es anders sein, von der Opposition kritisiert, die Sozialcharta und deren Ratifizierung sind ebenfalls umstritten. Wir aber stehen zu unserer Linie. Man sollte im Übrigen nicht übersehen, dass auch die positive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt für viele Bürger einen spürbaren sozialen Fortschritt markiert.
(kos)