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Mit einer Gedenkveranstaltung aller Verfassungsorgane hat Deutschland am Donnerstag, 23. Februar 2012, der Opfer der neonazistischen Mordserie und aller anderen Opfer rechtsextremistischer Gewalt gedacht. Diese Morde „sind eine Schande für unser Land“, sagte Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (CDU) im Konzerthaus am Gendarmenmarkt in Berlin. Ebenso wie Angehörige der Opfer rief sie zugleich alle Bürger der Bundesrepublik auf, entschieden gegen Intoleranz und Rassismus einzutreten. Dabei müsse der Kampf gegen Vorurteile, Verachtung und Ausgrenzung täglich geführt werden, in Elternhäusern, in der Nachbarschaft, in Schulen, Gemeinden und Betrieben, mahnte die Kanzlerin. Gefährlich seien nicht nur Extremisten, sondern auch diejenigen, die Vorurteile schüren und ein Klima der Verachtung erzeugen. „Aus Worten können Taten werden“, warnte Merkel.
Anlass der Gedenkstunde waren die im vergangenen November aufgedeckten zehn Morde einer Neonazi-Zelle an Kleinunternehmern türkischer und griechischer Herkunft sowie an einer Polizistin. Neben Angehörigen der Opfer sowie Merkel und Bundesratspräsident Horst Seehofer, der seit dem Rücktritt von Bundespräsident Christian Wulff die Befugnisse des Staatsoberhaupts wahrnimmt, nahmen auch Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert und der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Prof. Dr. Andreas Voßkuhle, an der Veranstaltung teil, ebenso wie zahlreiche Bundestagsabgeordnete und Vertreter der Länder. Ebenfalls eingeladen waren unter anderem Ehrenamtliche aus Initiativen gegen fremdenfeindliche Gewalt sowie Schulklassen und Sportvereine, die sich um die Integration verdient machen.
Merkel erinnerte an die zehn Opfer, „deren Leben ausgelöscht wurde - ausgelöscht durch kaltblütigen Mord“. Dabei hätten es nur wenige für möglich gehalten, dass rechtsextremistische Terroristen hinter den Morden stehen könnten, „nachdem bislang für typisch gehaltene Verhaltensmuster von Terroristen wie zum Beispiel Bekennerschreiben nicht vorlagen“. Dies habe auch dazu geführt, dass einige Angehörige jahrelang selbst zu Unrecht unter Verdacht gestanden hätten. Dies sei „besonders beklemmend“, sagte die Regierungschefin und fügte hinzu: „Dafür bitte ich Sie um Verzeihung.“
Merkel versprach zugleich, dass alles getan werde, um die Morde aufzuklären und "alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen“. Daran werde von allen zuständigen Behörden von Bund und Ländern mit Hochdruck gearbeitet. Sie versicherte, dass man entschieden gegen diejenigen vorgehe, „die andere wegen ihrer Herkunft, Hautfarbe, Religion verfolgen“. Überall, wo „an den „Grundfesten der Menschlichkeit gerüttelt wird“, sei Toleranz fehl am Platz.
Die Morde der Thüringer Terrorzelle seien auch „ein Anschlag auf unser Land“ gewesen, unterstrich Merkel. Allein mit staatlichen Mitteln ließen sich Hass und Gewalt jedoch kaum begegnen. Vielmehr brauche man auch „Bürger, die nicht wegsehen, sondern hinsehen“ und eine „starke Zivilgesellschaft“. Oft genug nehme man rechtsextreme Vorfälle nur „als Randnotiz" wahr, vergesse viel zu schnell und verdränge, „was mitten unter uns geschieht“, sagte Merkel.
Dies geschehe auch aus Gleichgültigkeit, die eine „verheerende Wirkung“ habe und „Risse mitten durch unsere Gesellschaft“ treibe, warnte sie. „Deutschland, das sind wir alle – wir alle, die in diesem Land leben, woher auch immer wir kommen, wie wir aussehen, woran wir glauben, ob wir stark oder schwach sind, gesund oder krank, mit oder ohne Behinderung, alt oder jung“, betonte die Bundeskanzlerin: „Wir sind ein Land, eine Gesellschaft."
Ismail Yozgat, Vater eines der Mordopfer, betonte, seine Familie wolle keine materielle Entschädigung, sondern seelischen Beistand. Ihr größter Wunsch sei, „dass die Mörder gefasst werden, dass die Helfershelfer und die Hintermänner aufgedeckt werden“. Dabei sei ihr Vertrauen in die deutsche Justiz groß.
Semiya Şimşek, Tochter des ersten Opfers der Mordserie und in Deutschland „geboren, aufgewachsen und fest verwurzelt“, mahnte, in „unserem Land, in meinem Land“ müsse sich jeder unabhängig von Nationalität, Migrationshintergrund, Hautfarbe, Religion, Behinderung, Geschlecht oder sexueller Orientierung frei entfalten können. Man müsse gemeinsam verhindern, dass auch anderen das Schicksal der von der Mordserie betroffenen Familien widerfährt, einen Angehörigen zu verlieren: „Wir alle gemeinsam, zusammen – nur das kann die Lösung sein“, unterstrich sie.
Gamze Kubaşik, deren Vater ebenfalls der Mordserie zum Opfer gefallen war, sprach in diesem Zusammenhang von der „Hoffnung auf eine Zukunft, die von mehr Zusammenhalt geprägt ist“.
Musikalisch umrahmt wurde die Veranstaltung mit Stücken von Johann Sebastian Bach und dem türkischen Komponisten Cemal Reşit Rey, gespielt vom international besetzten Orchester der Berliner Universität der Künste, sowie einem Medley aus „Fragile“ von Sting und „Imagine“ von John Lennon, das der Musikproduzent Mousse T. (Mustafa Gündogdu) für die Veranstaltung arrangiert hatte.
Zudem rezitierten die Schauspieler Iris Berben und Erol Sander Texte von Ahmet Muhip Diranas, Erich Fried, Bertolt Brecht und Josef Reding.
Bereits am Vortag hatten sich Mitglieder des Untersuchungsausschusses "Terrorgruppe nationalsozialistischer Untergrund (NSU)" des Bundestages mit Mitgliedern des Ausschusses für Menschenrechte der Großen Natioanlversammlung der Türkei zu einem Gedankenaustausch im Reichstagsgebäude getroffen.
Dazu erklärte der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses, Sebastian Edathy (SPD): "Wir schulden unseren türkischen und türkischstämmigen Mitbürgern, dass die grausame Mordserie rückhaltlos aufgeklärt wird. Nur so kann verlorengegangenes Vertrauen wiedergewonnen werden. Das Gespräch mit den türkischen Kollegen soll dazu beitragen, die Ernsthaftigkeit der Aufklärung durch den Untersuchungsausschuss zu erläutern." (sto)