Navigationspfad: Startseite > Dokumente > Protokolle > Tagesaktuelles Plenarprotokoll > Tagesaktuelles Protokoll der 188. Sitzung vom 29. Juni 2012
**** NACH § 117 GOBT AUTORISIERTE FASSUNG ****
*** bis 18.55 Uhr ***
Deutscher Bundestag
188. Sitzung
Berlin, Freitag, den 29. Juni 2012
Beginn: 9.00 Uhr
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Die Sitzung ist eröffnet.
Vor Eintritt in die Tagesordnung will ich Ihnen Folgendes bekannt geben: Der Kollege Garrelt Duin hat mit Wirkung vom 21. Juni 2012 auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Für ihn ist die Kollegin Gabriele Groneberg nachgerückt.
Im Namen des ganzen Hauses begrüße ich die neue Kollegin sehr herzlich und wünsche gute Zusammenarbeit.
Der Ältestenrat hat sich in seiner gestrigen Sitzung darauf verständigt, während der Haushaltsberatungen ab dem 10. September keine Befragung der Bundesregierung, keine Fragestunde und auch keine Aktuelle Stunde durchzuführen. Als Präsenztage sind die Tage von einschließlich Montag, 10. September 2012, bis Freitag, 14. September 2012, festgelegt worden. Sind Sie damit einverstanden? - Davon gehe ich aus. Dann verfahren wir so.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 44 a bis 44 d auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hilde Mattheis, Bärbel Bas, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Für eine umfassende Pflegereform - Pflege als gesamtgesellschaftliche Aufgabe stärken
- Drucksache 17/9977 -
Ãœberweisungsvorschlag:
A. f. Gesundheit (f)
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
A. f. Wirtschaft und Technologie
A. f. Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz
A. f. Arbeit und Soziales
A. f. Familie, Senioren, Frauen und Jugend
A. f. Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
A. f. Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
b) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuausrichtung der Pflegeversicherung (Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz - PNG)
- Drucksachen 17/9369, 17/9669 -
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit (14. Ausschuss)
- Drucksachen 17/10157, 17/10170 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Willi Zylajew
- Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/10166 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Alois Karl
Ewald Schurer
Otto Fricke
Michael Leutert
Katja Dörner Verabschiedung
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit (14. Ausschuss)
- zu dem Antrag der Abgeordneten Kathrin Senger-Schäfer, Diana Golze, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Pflege tatsächlich neu ausrichten - Ein Leben in Würde ermöglichen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Elisabeth Scharfenberg, Birgitt Bender, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÃœNDNIS 90/DIE GRÃœNEN
Für eine grundlegende Reform der Pflegeversicherung - Nutzerorientiert, solidarisch, zukunftsfest
- zu dem Antrag der Abgeordneten Elisabeth Scharfenberg, Fritz Kuhn, Dr. Harald Terpe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÃœNDNIS 90/DIE GRÃœNEN
Versorgungslücke nach Krankenhausaufenthalt und ambulanter medizinischer Behandlung schließen
- Drucksachen 17/9393, 17/9566, 17/2924, 17/10157, 17/10170 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Willi Zylajew Beschlussfassung
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit (14. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Birgitt Bender, Fritz Kuhn, Elisabeth Scharfenberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Leistungen bei Schwangerschaft und Geburt aus der Reichsversicherungsordnung in das Fünfte Buch Sozialgesetzbuch überführen und zeitgemäß ausgestalten
- Drucksachen 17/5098, 17/9376 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Mechthild Rawert Beschlussfassung
Über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Neuausrichtung der Pflegeversicherung werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Gibt es dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Elke Ferner von der SPD-Fraktion das Wort.
Elke Ferner (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Wir debattieren heute nicht nur über den Entwurf des Pflege-Neuausrichtungs-Gesetzes der Bundesregierung, sondern auch über einen Antrag der SPD-Fraktion. Ich möchte mich aber trotzdem auf den Entwurf des Pflege-Neuausrichtungs-Gesetzes konzentrieren, weil wir heute darüber namentlich abstimmen. Ich sage Ihnen: Diese sogenannte Pflegereform der schwarz-gelben Regierung und der schwarz-gelben Koalition ist ein Stück aus dem Tollhaus.
- Doch, Herr Lanfermann, es ist so. Zunächst herrscht zwei Jahre Stillstand - erst unter Herrn Rösler und dann unter Herrn Bahr -, dann wird ein Pflegereförmchen vorgelegt, das die eigentlichen Probleme noch nicht einmal ansatzweise löst. Die Definition des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs und der damit verbundenen Leistungen wird sogar auf die nächste Wahlperiode verschoben. Es gibt keine durchgreifenden Verbesserungen für demenziell Erkrankte. Das Thema Fachkräftemangel kommt schlicht und ergreifend bei Ihnen nicht vor.
Weil es bei dieser Koalition kaum ein Gesetz gibt, das nicht auch Geschenke für die eigene Klientel beinhaltet, können sich die Versicherer auf den sogenannten Pflege-Bahr freuen. Damit wollen Sie angeblich das Demografierisiko beseitigen. Wenn man aber genauer hinschaut, dann erkennt man, dass das eine unglaubliche Täuschung ist. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, glauben nicht einmal selber, dass der Pflege-Bahr überhaupt von jemandem in Anspruch genommen wird. Zunächst sind 100 Millionen Euro für die Förderung vorgesehen. Wenn man das einmal ausrechnet: Das reicht gerade für 1,7 Millionen Verträge. Das sind schlappe 2 Prozent aller 82 Millionen Versicherten. Das ist ein Witz und hat mit Vorsorge überhaupt nichts zu tun.
Betrachten wir das einmal anders herum: Was würde es denn die Steuerzahler kosten, wenn alle 82 Millionen Versicherten diese Förderung in Anspruch nehmen würden? Dann wären wir bei 5 Milliarden Euro. Die Frage, wo das Geld herkommen soll, beantworten Sie wie immer überhaupt nicht.
Wir haben schon gestern bei der Debatte zum Betreuungsgeld gehört, dass die Ausgaben dafür und weitere mögliche Mehrausgaben irgendwie über globale Minderausgaben erwirtschaftet werden sollen. Damit kommt man aber noch nicht einmal auf 5 Milliarden Euro. Wenn jetzt noch zusätzliche 5 Milliarden Euro über globale Minderausgaben erwirtschaftet werden sollen, werden sich die anderen Ressorts vermutlich riesig freuen. Herr Ramsauer beispielsweise könnte dann weniger Straßen bauen, oder Frau von der Leyen könnte weniger für Behinderte tun. Das wird noch eine nette Diskussion werden.
- Herr Lanfermann, regen Sie sich doch nicht so auf! - Es geht doch darum, dass die Leistungen aus der Pflegeversicherung jetzt noch zusätzlich ergänzt werden müssen. Das wiederum ist der Einstieg in eine Kopfpauschale, ein Einstieg in den Ausstieg aus der paritätischen Finanzierung.
Das ist schwarz-gelbe Klientelpolitik, weg von der Solidarität, hin zur Individualisierung von Risiken, die eigentlich paritätisch abgesichert werden müssten.
Wenn ich darüber nachdenke, wie das Ganze einmal aussehen könnte, dann kann ich Ihnen schon jetzt prophezeien: Ganz gezielt werden alle Mühseligen und Beladenen in einen Basistarif hineingesteuert. Die privaten Versicherer haben bereits mit dem Basistarif in der privaten Krankenversicherung geübt; und genau so wird das beim geförderten Tarif auch werden. Diejenigen, die einigermaßen gesund sind, werden in einen Tarif gesteuert, bei dem es keine Förderung gibt, der aber billiger sein wird als der Tarif, der gefördert wird.
Der geförderte Tarif wird ein toter Tarif werden, weil kaum jemand in diesen Tarif hineingeht; denn er wird nicht mehr bezahlbar sein.
Schauen Sie doch einmal, was eine private Zusatzpflegeversicherung heute kostet: Sie kostet für einen 50-jährigen Mann 35 Euro; für die gleichaltrige Frau kostet sie bereits mehr als 50 Euro. Das heißt aber auch: Der Krankenpfleger zahlt genauso viel wie der Chefarzt, und die Krankenschwester zahlt sogar noch mehr als der Chefarzt. Was daran gerecht sein soll, das entzieht sich meinem Verständnis.
Während der Finanzkrise haben wir ja gelernt, dass die kapitalgedeckten Systeme eben nicht die wirklich vorteilhaften Systeme waren; das waren vielmehr die umlagefinanzierten. Selbst Herr Spahn hat sich vor einer Woche noch darüber beklagt, dass die Beiträge in der privaten Krankenversicherung so enorm steigen. Da muss ich Sie doch fragen, Herr Spahn: Wie kommen Sie denn überhaupt auf die Idee, ausgerechnet heute diesem Pflege-Bahr zuzustimmen, obwohl doch erkennbar ist, dass diese Systeme nicht dazu taugen, zukünftige Risiken abzusichern?
Ich sage Ihnen: Die Kopplung, die jetzt vorgenommen wurde - nämlich Pflege-Bahr für Betreuungsgeld -, wird nicht funktionieren. Ich bin einmal gespannt, ob die FDP, der Sie die Zustimmung zum Betreuungsgeld mit dieser Kopplung abgekauft haben, nach der Sommerpause auch noch zu dieser Position stehen wird. Das werden wir ja sehen.
Eines ist aber sicher: Wir brauchen weder den Pflege-Bahr noch das Betreuungsgeld, und die zuständigen Minister brauchen wir genauso wenig.
Schönen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt die Kollegin Christine Aschenberg-Dugnus von der FDP-Fraktion.
Christine Aschenberg-Dugnus (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das heute zu beschließende Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz wird sehr viele Pflegebedürftige besserstellen, ganz besonders Demenzkranke. Das ist das, was die Menschen wirklich interessiert, Frau Ferner, und nicht Ihre theoretischen Abhandlungen darüber, was möglicherweise alles nicht klappen könnte.
Mit einem umfangreichen Maßnahmenpaket richten wir die Pflege neu aus. Wir beschließen heute erstmals die Einführung von eigenständigen Leistungen für Demenzkranke ab Pflegestufe 0 im Vorgriff auf den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff. Das sind ganz konkret zum Beispiel bis zu 1 250 Euro für Sachleistungen in Pflegestufe II oder Pflegegeld in Höhe von 525 Euro. Und auch das interessiert die Menschen: Sie wollen konkrete Angaben darüber, was wir mit diesem Gesetz ausrichten.
Der Gesetzentwurf beinhaltet auch mehr Wahlmöglichkeiten durch die Flexibilisierung des Leistungsrechts. Die Angehörigen selbst sollen entscheiden können, welche individuellen Leistungskomplexe oder Zeitkontingente sie zur Versorgung ihrer Familienmitglieder haben wollen. Wer Kinder hat, der weiß, was es bedeutet, den eigenen Beruf, Schule, Sport und Freizeit der Kinder zu koordinieren. Wer zudem noch einen Angehörigen pflegt und diese wichtige Aufgabe meistert, weiß, dass man seinen Angehörigen mitunter ungern alleine lässt, um die Kinder zum Beispiel zum Fußballtraining zu bringen. Kann man sich jedoch für ein Zeitkontingent zur Betreuung des altersverwirrten Vaters entscheiden, ist nicht nur das möglich. Auch zum Beispiel ein notwendiger Behördengang oder der Einkauf im Supermarkt sind noch drin, wenn man weiß, dass der altersverwirrte Vater vom ambulanten Pflegedienst gut versorgt wird. Das ist es, was die Menschen interessiert.
Mit dieser Flexibilisierung wollen wir erreichen, dass Angehörigenpflege, Kinder, Familienleben und Beruf unter einen Hut zu bringen sind. Pflege kann nun individueller gestaltet werden. Das ist auch im Sinne der Pflegekräfte, die nicht länger innerhalb eines starren Zeitkorsetts Pflege im Akkord leisten müssen.
Unser Gesetzentwurf bietet aber noch viel mehr.
Ich will nur einige Punkte nennen. Wir schaffen unnütze Bürokratie ab,
wir optimieren und beschleunigen den Begutachtungsprozess und die Pflegeberatung; denn nur wer gute Beratung erhält, kann fundierte Entscheidungen über die Pflegeleistungen treffen. Wir fördern und erproben alternative Wohnformen, was für die Zukunft ganz wichtig ist, wir verbessern die ärztliche und zahnärztliche Versorgung in stationären Pflegeeinrichtungen, und wir sorgen dafür, dass mehr Geld für die Pflege Demenzkranker in den Heimen zur Verfügung steht.
Uns ist es besonders wichtig, dass das Ganze bezahlbar bleibt. Mit der Anhebung der Beiträge um 0,1 Prozentpunkte stellen wir sicher, dass alle diese Leistungsverbesserungen seriös finanziert sind. Ebenso wichtig ist es uns, dass die Pflegeleistung auch in Zukunft bezahlbar bleibt; denn die Pflegeversicherung ist - das wissen wir alle - nur eine Teilabsicherung. Mit einem Zuschuss von 60 Euro im Jahr oder 5 Euro im Monat wollen wir einen Anreiz für die Bürger schaffen - das alles ist freiwillig -, um für den Fall, dass man selbst pflegebedürftig wird, vorzusorgen. Das lohnt sich. Der Zuschuss wird unabhängig vom Einkommen gewährt und steht jedem offen, weil es einen Kontrahierungszwang gibt, also keine Risikoprüfung.
Im Gegensatz zum Riestern ist das Ganze auch schlank und bürokratiearm;
denn der Versicherer ruft den Zuschuss ohne Zutun des Versicherten direkt beim Staat ab. Das ist der große Vorteil gegenüber der steuerlichen Absetzbarkeit. Diese hätte ein Mehr an Bürokratie bedeutet und all diejenigen ausgeschlossen, die kaum oder gar keine Steuern zahlen. Uns war besonders wichtig, dass dieser Zuschuss jedem Bürger zusteht. Ein weiterer Vorteil: Das Geld ist vor dem Zugriff des Staates geschützt.
Unser Angebot richtet sich gerade an die jüngere Generation, die Generation, die am stärksten vom demografischen Wandel betroffen ist. In der Anhörung des Gesundheitsausschusses wurde uns bestätigt, dass wir attraktive und kostengünstige Produkte durch die Versicherungen anbieten werden. Gerade für junge Menschen wird es sehr interessant sein, zusätzlich vorzusorgen. Zu der Kritik, die Sie in den letzten Tagen geäußert haben, kann ich nur sagen: Sie haben es einfach nicht verstanden. Die Privatvorsorge ist auf die Zukunft ausgerichtet.
Das bringt deutlich mehr als Ihr Märchen von der Bürgerversicherung, mit dem Sie hier immer wieder ankommen. Damit doktern Sie nur im Hier und Jetzt herum, und es bringt überhaupt nichts, um zukünftig für Generationengerechtigkeit zu sorgen.
Ich verstehe ja, dass die Opposition kritisieren muss.
Erkennen Sie aber bitte an, dass es den Pflegebedürftigen ab dem 1. Januar 2013 erheblich bessergehen wird.
Das Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz schafft Leistungsverbesserungen, mehr Wahlmöglichkeit, es ist seriös finanziert und zukunftsfest. Das Gesetz sorgt punktgenau und zielgruppenscharf für Verbesserung im Sinne der Pflegebedürftigen, der Angehörigen und der Pflegekräfte.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort die Kollegin Kathrin Senger-Schäfer.
Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE):
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Linke wird den Entwurf des Pflege-Neuausrichtungs-Gesetzes ablehnen, und das hat gewichtige Gründe.
Das Pflegerisiko wird erstens privatisiert. Die Pflegevorsorge werfen Sie dem Markt zum Fraß vor. Frau Aschenberg-Dugnus, Pflege wird nicht individueller, sondern das Risiko wird individueller, und das ist das Problem.
- Doch, ich habe das sehr wohl verstanden.
Zweiter Grund: Die Bundesregierung kann oder will den neuen Pflegebegriff nicht umsetzen.
Beides ist ein Armutszeugnis und disqualifiziert fachlich auf ganzer Linie.
Drittens. Dieses Gesetz bringt erhebliche Verschlechterungen für die Beschäftigten in den Pflegeberufen. Das ist schäbig; denn in diesem Bereich erleben wir derzeit einen Fachkräftemangel, der uns noch das Genick brechen wird, wenn hier kein Umdenken einsetzt.
Was wir den Menschen im Land sagen müssen, was viele wirklich nicht wissen, ist: Schwarz-Gelb treibt das Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz im Schweinsgalopp durchs Parlament,
nach dem Motto: Geschwindigkeit statt Sachverstand, Herr Spahn.
Das ist abenteuerlich und aus demokratischer Sicht höchst fragwürdig.
Was ist denn der Kern des Problems? Die Pflegeversicherung ist, wie wir gehört haben, nur eine Teilkostenabsicherung. Das war von Anfang an aus Kostengründen so gewollt. Das Verheerende ist, dass viele Menschen gar nicht wissen, was das heißt. Das heißt nämlich, dass sie einen immer größeren Teil der Pflegekosten aus dem eigenen Geldbeutel bezahlen müssen, und das können viele nicht. Was ist die Folge? Wer arm und pflegebedürftig ist, muss aus Kostengründen von den Angehörigen gepflegt werden. Und dabei geht es um Müssen und nicht um Wollen.
Wer niemanden hat, der die Pflege übernehmen kann, muss auf Sozialhilfe zurückgreifen. Das ist immer häufiger der Fall, obwohl die Pflegeversicherung genau das verhindern sollte. Die Frage ist: Wie lange wird das noch funktionieren, wenn beispielsweise die Kommunen, die Träger der Sozialhilfe sind, finanziell mit dem Rücken zur Wand stehen? Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, schaffen keine Abhilfe, auch wenn Sie uns das mit dem Pflege-Riester vorgaukeln wollen.
Im Gegenteil: Er dient einzig und allein der Demontage des Sozialstaates, und das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen.
Ich warne Sie an dieser Stelle ausdrücklich: Wer den Sozialstaat aushebelt, legt die Axt an die Wurzeln der Demokratie.
- Ja, besser als Sie, Herr Spahn. Hören Sie einmal gut zu.
Wie Ihnen Fachleute, beispielsweise vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, von Sozialverbänden und Gewerkschaften attestieren, ist Ihre Pflegezusatzversicherung im Ergebnis sozial ungerecht und völlig unsinnig; denn die privaten Versicherer orientieren sich natürlich an knallharten Renditen. Das entspricht ihrem Wesen, weil sie privatwirtschaftliche Unternehmen sind. Geringverdienende und Menschen mit einem höheren Pflegerisiko können sich eine Pflege-Riester-Versicherung gar nicht leisten. Wie sollen beispielsweise Friseurinnen in Berlin - hören Sie gut zu -, die durchschnittlich brutto 961 Euro verdienen, neben allen anderen Abgaben auch noch die Beiträge für den Pflege-Riester schultern? Selbst nach Abzug des Zuschusses in Höhe von 5 Euro bleiben monatliche Beiträge, die locker rund 50 Euro betragen.
Bei der Riester-Pflege folgt man dem Aschenputtel-Prinzip: Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. Das führt weder zu langfristiger Sicherheit noch zu bezahlbaren Beiträgen. Besserverdienern und Gesunden ist es dagegen natürlich möglich, auf günstigere, nicht geförderte Produkte zurückzugreifen. Das führt am Ende zu einer Zweiklassenpflege, und genau das will die Linke verhindern.
Pflege ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Das bestreiten auch Sie nicht, meine Damen und Herren von der Union und von der FDP. Aber warum bekommt die private Versicherungsindustrie die Möglichkeit, ihre Profite auf dem Rücken der gesamten Gesellschaft und auf Kosten der Solidarität zu sichern?
Erklären Sie uns das.
Wie sieht es eigentlich mit den Beschäftigten aus, zum Beispiel mit denen, die eine anspruchsvolle Pflegeausbildung absolvieren, aber bereits jetzt für sich keine Zukunft im Bereich der Pflege sehen, weil die erlernten guten Pflegekonzepte aufgrund des Personalmangels und der extremen Arbeitsbedingungen gar nicht umsetzbar sind? Hier soll fortan nicht mehr die Zahlung einer ortsüblichen Vergütung, sondern der Pflegemindestlohn ausreichend sein.
Damit wird - ich betone das - die unterste Haltelinie, die Lohndumping eigentlich verhindern sollte, zum Instrument für Lohndrückerei missbraucht.
Das ist ein unglaublicher Schlag ins Gesicht aller Pflegekräfte.
- Sie sind gleich dran. Dann können Sie Ihre Argumente vortragen.
Die Linke fordert - hören Sie bitte zu -: Die Leistungen der Pflegeversicherung müssen umfassend ausgebaut werden und sich perspektivisch am individuellen Bedarf orientieren. Das will ich ausdrücklich betonen; denn dafür steht die Linke. Der Teilkaskocharakter gehört abgewickelt, nicht die umlagefinanzierte soziale Pflegeversicherung.
Dafür muss es eine gerechte und stabile Finanzierung geben. Das wissen wir. Wir haben die solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung durchrechnen lassen. Es gibt ein Gegenkonzept. Wir brauchen keinen christlich-liberalen Rohrkrepierer, der die Ungleichheit in der Pflege zementiert.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Jetzt hat das Wort der Kollege Jens Spahn für die CDU/CSU-Fraktion.
Jens Spahn (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn es hier ein Stück aus dem Tollhaus gibt, liebe Kollegin Ferner, dann ist es das, was Sie hier gerade vorgetragen haben. Erst einmal zum Zeitplan: Die erste Lesung war im April. Wir haben im ganzen letzten Jahr - auch hier im Deutschen Bundestag - mehrfach über Pflege debattiert. Da konnte es Ihnen mit einer Pflegereform gar nicht schnell genug gehen. Hier jetzt zu behaupten, wir hätten das durchs Parlament gepeitscht, ist ein Witz, so wie Ihre ganze Rede.
Ein Stück aus dem Tollhaus, Frau Kollegin Ferner, ist vor allem gewesen, dass Sie gesagt haben, es würde sich nichts für die Menschen verbessern. Werfen Sie einmal einen Blick in den Gesetzentwurf, und schauen Sie sich an, welche Verbesserungen für die Menschen dort vorgesehen sind. Es ist ein Stück aus dem Tollhaus, dass Sie sagen, es gebe keine Verbesserung für Menschen, die zu Hause pflegen, für pflegende Angehörige und für demenziell Erkrankte. Das ist ein Stück aus dem Tollhaus; da haben Sie recht.
Wir setzen hier zusätzliches Geld ein, vor allem für Menschen mit Demenz. Wir werden pflegende Angehörige besser unterstützen, damit sie die Gelegenheit haben, eine Auszeit zu nehmen, damit sie sich erholen können. Denn es ist eine enorme psychische und physische Belastung, zu Hause zu pflegen. Jeder, der das in seiner Familie einmal erlebt hat, weiß, was das im konkreten Alltag bedeutet und dass dort dringend Unterstützung nötig ist, dass insbesondere auch die Möglichkeit gegeben werden muss, einmal eine Auszeit zu nehmen.
- Wir regeln das jetzt, und Sie sagen, das sei ein Stück aus dem Tollhaus und ein Schlag ins Gesicht der Menschen. Das wurde hier gerade gesagt.
Das Gleiche gilt für die neuen Wohnformen. Die Menschen möchten - das zeigen alle Umfragen -, so lange es geht, zu Hause leben und zu Hause gepflegt werden.
Sie möchten, wenn es sich eben vermeiden lässt, nicht in eine stationäre Einrichtung. Deswegen fördern wir neue Wohnformen. Wir wollen es den Pflegebedürftigen ermöglichen, in Wohngemeinschaften zusammenzuleben und dort ambulant betreut zu werden. Wir legen hierzu ein Maßnahmenprogramm auf. Sie kritisieren das hier als ein Stück aus dem Tollhaus. Erklären Sie einmal den Menschen, was Sie hier gerade gesagt und wie Sie bessere Leistungen abqualifiziert haben.
Ebenso ist im Gesetzentwurf eine Verbesserung für die stationären Einrichtungen vorgesehen. Auch das haben Sie mit keinem Wort gewürdigt. Vor allem in den stationären Einrichtungen leben immer mehr Menschen mit schwerster Demenz, die schwerstpflegebedürftig sind; der Anteil dort steigt sehr stark. Deswegen sehen wir insbesondere bei der ärztlichen und zahnärztlichen Versorgung in den Pflegeheimen eine Verbesserung vor. Es wird zum Teil immer schwieriger, am Wochenende einen Arzt zu finden, der bereit ist, einen Hausbesuch zu machen. Die zahnärztliche Versorgung im Pflegeheim ist schwierig, weil der Zahnarzt beim Hausbesuch die Ausrüstung mitbringen muss. Deswegen gibt es in diesem Bereich eine zusätzliche Unterstützung.
Wir verbessern den sogenannten Betreuungsschlüssel, das heißt, es gibt mehr Personal für Menschen mit Demenz, die nicht nur für die Pflege, sondern auch für die Betreuung zur Verfügung stehen, die also die Patienten zum Beispiel in den Arm nehmen, mit ihnen spazieren gehen und Gespräche führen. Vor allem sorgen wir dafür - das haben Sie nicht verstanden; deswegen habe ich gerade den Zwischenruf gemacht -, dass die Bezahlung der Pflegekräfte tendenziell besser wird.
Indem wir in den Verhandlungen mit den Pflegekassen und den Sozialhilfeträgern sagen, dass eine tarifliche Bezahlung nicht als unwirtschaftlich gelten kann, setzen wir als Gesetzgeber ein deutliches Zeichen, dass wir eine tarifliche Bezahlung für die Pflegekräfte wollen und dass wir sie bei ihrer schweren Tätigkeit unterstützen.
Deswegen ist dieser Gesetzentwurf gerade für diejenigen, die in Pflegeeinrichtungen tätig sind, ein wichtiges Zeichen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Spahn, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert?
Jens Spahn (CDU/CSU):
Ja.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Bitte schön, Herr Seifert.
Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE):
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Kollege Spahn, Sie haben uns ja gerade geschildert, was Sie alles Tolles machen wollen, insbesondere für Menschen mit Demenz und andere Pflegebedürftige. Sie haben ausgeführt, wie wichtig es ist, sich um die Betroffenen auch emotional zu kümmern und mit ihnen zu reden. Sie wissen so gut wie ich, dass das in der Praxis bzw. im Alltag im Heim fast nicht möglich ist. Jetzt frage ich Sie: Wieso scheuen Sie die Einführung des neuen Pflegebegriffs, den es bereits gibt, wie der Teufel das Weihwasser?
Der neue Pflegebegriff ist die Voraussetzung dafür, dass man sich mehr in Richtung Teilhabe orientiert, dass es also nicht nur darum geht, die Menschen zu pflegen - mit dem Ziel, dass sie satt, sauber und still sind -, sondern dass man ihnen auch ermöglicht, am Leben der Gemeinschaft teilzuhaben, auch außerhalb des Heimes. Diesen Schritt scheuen Sie wie der Teufel das Weihwasser. Warum? Sie brauchen doch nur den neuen Pflegebegriff einzuführen und dann entsprechende Ableitungen vorzunehmen. Das tun Sie aber nicht.
Jens Spahn (CDU/CSU):
Das Gegenteil ist der Fall;
das wissen doch eigentlich auch Sie, Herr Seifert.
Der Beirat zur Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs hat ein erstes Gutachten erstellt, in dem er die Grundzüge des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs beschreibt und die Wege, die man gehen kann, aufzeigt. Aber in der Pflegeszene und in der Pflegewissenschaft gibt es niemand Sachkundiges,
der sagt, dass man auf Grundlage dieses Gutachtens einfach so den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff umsetzen kann.
Selbst die ehemalige Bundesgesundheitsministerin Schmidt hat im Dezember letzten Jahres gesagt, dass man noch mindestens zwei bis drei Jahre braucht, bis man so weit ist, den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff einführen zu können.
Unser Kollege Wolfgang Zöller arbeitet zusammen mit Herrn Voß, sehr vielen Sachverständigen aus der Pflege, Pflegewissenschaftlern und anderen daran, eine neue Einstufung vorzunehmen, die auch demenzielle Erkrankungen besser als bisher berücksichtigt. Wir leisten die dafür nötigen Vorarbeiten, und zwar mit sehr viel Energie. Der Beirat tagt regelmäßig. Wahrscheinlich werden uns bald Ergebnisse vorliegen. Sie sollten das nicht abqualifizieren. Denn Sie wissen so gut wie ich: Diese Vorarbeiten sind nötig, um sicherzustellen, dass der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff vernünftig umgesetzt werden kann.
Wir sorgen mit diesem Gesetz für Verbesserungen für Menschen mit Demenz und pflegende Angehörige. Es kommt zu einer stärkeren Förderung neuer Wohnformen. So tragen wir dazu bei, dass mehr Menschen zum Beispiel in Wohngemeinschaften zusammenleben und ihren Alltag besser organisieren können. Außerdem kommt es zu Verbesserungen im Hinblick auf die stationären Einrichtungen, was die ärztliche und zahnärztliche Versorgung angeht, und insbesondere im Hinblick auf die Pflegefachkräfte.
Man kann natürlich sagen, das alles sei zu wenig. Als Opposition kann man immer fordern, dass dafür noch mehr Geld zur Verfügung gestellt werden muss. Allerdings sagen Sie nie, wie das finanziert werden soll.
Auch von der Opposition hätte man erwarten können, dass Sie mit einem Satz anerkennen, welche Verbesserungen dieses Gesetz insbesondere für die vielen Millionen Menschen, die in der Pflege tätig sind, die zu Hause pflegen oder pflegebedürftig sind, mit sich bringt. Die Menschen jedenfalls haben mehr davon, dass wir ihnen mit diesem Gesetz in ihrem Alltag konkret helfen, als von den Luftschlössern, die Sie regelmäßig bauen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Das Gleiche gilt im Prinzip auch für die Pflegevorsorge. Die Pflege ist im Grunde die gesellschaftspolitische Herausforderung für dieses Land. Dieses Thema ist eine Herausforderung für jede Familie. Nicht jeder hat Kinder, aber jeder hat Eltern. Jeder weiß, dass dieses Thema in der eigenen Familie früher oder später wahrscheinlich auf der Tagesordnung steht, weil zum Beispiel der Lebenspartner oder die Eltern betroffen sind.
So wie sich jede Familie Gedanken darüber machen muss, wie sie mit einer solchen Situation umgeht, und zwar idealerweise schon sehr früh - man schiebt dieses Thema ja immer weit von sich weg -,
so müssen auch wir uns in Deutschland, und zwar als Gesellschaft, Gedanken darüber machen, wie wir für eine Zeit - ich spreche jetzt von den Jahren 2025, 2030 und 2035 - Vorsorge betreiben, von der wir schon jetzt wissen, dass es dann sehr viele über 80-Jährige und sehr viele Pflegebedürftige in Deutschland geben wird. Ich finde es, gerade im Interesse der Pflegebedürftigen des Jahres 2035, verantwortungsvoll, sich Gedanken darüber zu machen, wie man die Pflege dann noch finanzieren kann. Deswegen wollen wir Anreize für eine stärkere private Vorsorge in diesem Bereich setzen.
Eines verschweigen Sie in Ihren Reden - Sie haben gerade schon wieder gesagt, das sei eine Privatisierung des Risikos -:
Wer trägt denn heute das finanzielle Risiko der Pflege? Die Pflegeversicherung zahlt nur feste Beträge, nur Teilleistungen. Jemand, der als Härtefall gilt und in einer stationären Einrichtung untergebracht ist, bekommt maximal 1 800 Euro im Monat. In den meisten Einrichtungen kostet die Pflege aber mindestens 3 000 oder 3 500 Euro im Monat. Die Differenz zahlen die Menschen bzw. ihre Familien schon heute selbst.
Wenn sie es sich nicht leisten können, zahlt sie der Sozialhilfeträger. Das wissen Sie genauso gut wie ich. Dass wir die Kosten zu 100 Prozent übernehmen, fordert ja auch keiner von Ihnen. Das wären Summen, die derzeit nicht zu finanzieren wären. Schauen Sie sich einmal in Europa um, wie die finanzielle Lage insgesamt ist.
Wir streben keine Individualisierung des Risikos an, sondern tun etwas gegen das heute bestehende finanzielle Risiko vieler Familien und Pflegebedürftigen. Wir wollen Anreize dafür setzen, dass man Vorsorge gegen dieses Risiko, das man hat, betreibt. Für die Differenz zwischen den eigenen Mitteln und den Kosten der Pflege, die jeder selbst tragen muss - gegebenenfalls muss die Familie eintreten; manchmal muss das eigene Haus verkauft und Vermögen aufgebraucht werden -, muss Vorsorge getroffen werden. Deswegen ist es richtig, dass wir einen Einstieg in eine Vorsorgeförderung machen.
Mehr Menschen sollen sich so dafür entscheiden, privat vorzusorgen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Spahn, auch die Kollegin Dittrich würde gerne eine Zwischenfrage stellen, wenn Sie erlauben. - Bitte schön, Frau Dittrich.
Heidrun Dittrich (DIE LINKE):
Danke schön, Herr Präsident. - Sehr geehrter Herr Spahn, als seniorenpolitische Sprecherin meiner Fraktion weiß ich,
dass es bei den Frauen die höchste Altersarmut gibt. Sie haben gesagt, dass die Menschen Zuschüsse vom Sozialamt bekommen können, wenn sie in Pflegeheimen sind und die Kosten dafür nicht selbst tragen können. Gleichzeitig wissen Sie, dass die richtig guten Seniorenresidenzen keine Pflegepatienten aufnehmen, die vom Sozialamt bzw. vom Staat Zuschüsse bekommen. Der Aufenthalt in diesen Residenzen, der monatlich 4 000 Euro und mehr kostet, muss komplett selbst bezahlt werden können. Wer hat solche Renten? Die Frauen nicht!
Daneben haben Sie die europäische Wirtschaftskrise angesprochen. Seit Jahren wird im Sozialstaat eingespart. Den größten Mangel haben wir in der Altenpflege. Dieser Beruf ist nicht mehr attraktiv.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Bitte kommen Sie zur Frage.
Heidrun Dittrich (DIE LINKE):
Meine Frage ist: Wie wollen Sie vor dem Hintergrund, dass Frau von der Leyen vorgeschlagen hat, die entlassenen Schlecker-Beschäftigten könnten doch einen Schnellkurs in der Pflege machen und dann als Leiharbeiterinnen tätig werden, dafür sorgen, dass durch diesen Beruf eine vernünftige Pflege erfolgt? Ist das Ihre Lösung?
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Frau Kollegin Dittrich, Sie sollen fragen und keine Statements abgeben.
Heidrun Dittrich (DIE LINKE):
Ist der Bundesfreiwilligendienst statt einer Ausbildungsoffensive in der Altenpflege Ihre Lösung?
Jens Spahn (CDU/CSU):
Sie haben sehr viele Themen angesprochen. Ich will versuchen, auf zwei einzugehen.
Erster Punkt. Ich weiß nicht, woher Sie die Dreistigkeit nehmen, zu behaupten, die sozialen Ausgaben in Deutschland seien in den letzten Jahren reduziert worden. Die Bundesrepublik Deutschland gibt in diesem Jahr, 2012, so viel für soziale Leistungen aus wie noch nie zuvor in ihrer Geschichte.
Es ist eine Unverschämtheit, dass Sie hier suggerieren, es sei anders.
Das tun Sie auch noch in einer Debatte, in der wir über Leistungsverbesserungen in der Pflegeversicherung von 1 Milliarde Euro sprechen. Für uns ist 1 Milliarde Euro viel Geld. Wir wissen, dass Sie immer schnell dabei sind, wenn es darum geht, schuldenfinanziert Geld auszugeben. Wir debattierten hier über zusätzliche Leistungen in der Pflegeversicherung von 1 Milliarde Euro. Das sind 5 Prozent mehr. Ich muss schon sagen: Es ist dreist, dass Sie jetzt sagen, es gebe Sozialabbau.
Zweiter Punkt. Wir haben vielleicht ein unterschiedliches Gesellschaftsbild. Nicht jeder muss in einer Nobelseniorenresidenz wohnen. Wer es sich leisten kann und wer sich den goldenen Rollator leisten will, der soll sich das in Gottes Namen leisten. Für uns ist allerdings entscheidend, dass jeder in diesem Land, unabhängig davon, wie alt er ist, welches Einkommen er hat, wo er lebt - in der Stadt oder auf dem Land -, aus welcher sozialen Schicht er kommt und welche sonstigen Hintergründe er hat, Zugang zu einer menschenwürdigen Pflege hat. Das ist in diesem Land sichergestellt, und Sie sollten nichts anderes suggerieren.
Wer sich mehr leisten kann, der soll sich auch mehr leisten dürfen. Das ist jedenfalls unser Gesellschaftsbild. Wir wollen aber, dass für jeden eine menschenwürdige Pflege gesichert ist, und das ist in Deutschland gesichert. Auch hier sollten Sie nichts anderes suggerieren.
Es ist ja ganz gut, dass in solchen Debatten auch einmal unser unterschiedliches Gesellschaftsbild deutlich wird.
Das gilt auch hinsichtlich der Vorsorge. Wir sind der Auffassung, dass jeder im Rahmen seiner Möglichkeiten vorsorgen muss. Auch das ist eine Form von Solidarität. Solidarität heißt nicht nur, dass die anderen für mich zahlen,
sondern Solidarität heißt auch, dass jeder im Rahmen seiner Möglichkeiten für sich Vorsorge betreibt.
Damit wir die Möglichkeiten für diejenigen verbessern, die es etwas schwerer im Leben haben, soll es für die Pflegevorsorge eine Zulage von 60 Euro im Jahr geben. Da kann man sich mit den eigenen Beiträgen, besonders wenn man früh beginnt, eine Menge an zusätzlicher Leistung in der Pflege sichern.
Wir stellen sicher, dass es einen Tarif gibt, den jeder abschließen kann, unabhängig vom Alter, von Vorerkrankungen und vom Einkommen. Jeder hat Zugang zu diesem Tarif. Wir sind sehr sicher - das ist übrigens auch in der Anhörung deutlich geworden -, dass dieser Tarif in Zukunft sogar der Regeltarif in der Pflegezusatzversicherung werden könnte. Es wird attraktive Angebote geben. Lassen Sie sich doch einmal zum 1. Januar 2013 positiv überraschen.
Sie werden sehen, dass es für die Menschen attraktiv ist, zusätzlich vorzusorgen.
Wenn hier ein unterschiedliches Gesellschaftsbild deutlich wird, dann habe ich damit kein Problem. Denn ich bin der festen Überzeugung, dass es die große Mehrheit in diesem Land genauso sieht wie wir.
Derjenige, der im Rahmen seiner Möglichkeiten privat Vorsorge leisten kann, soll diese Vorsorge machen. Wir stellen aber natürlich sicher, dass jeder, dem es nicht möglich war, vorzusorgen, eine menschenwürdige Pflege bekommt. Solidarität ist keine Einbahnstraße. Ein bisschen selber für sich mitzudenken, im Rahmen der Möglichkeiten, gehört dazu. Auch da setzen wir einen guten Anreiz.
Insofern gehen wir heute morgen einen wichtigen Schritt nach vorne für die Pflegebedürftigen in diesem Land, für pflegende Angehörige und vor allem für die Pflegebedürftigen in den Jahren 2030 und später.
Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Für die Fraktion der Grünen hat jetzt das Wort die Kollegin Elisabeth Scharfenberg.
Elisabeth Scharfenberg (BÃœNDNIS 90/DIE GRÃœNEN):
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! In der letzten Legislaturperiode haben wir uns in der Pflege weiterentwickelt. Heute wollen Sie sich neu ausrichten. Offen gesagt: Mit dem Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz richtet die schwarz-gelbe Koalition nichts neu aus.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, Sie richten eine Menge an.
Sie können sich jedes noch so kleine Detail Ihres Gesetzes schönreden, Frau Aschenberg-Dugnus, Herr Spahn, es ändert nichts daran: Sie geben auf die wirklich großen Herausforderungen in der Pflege keine Antwort.
In unserem Grünen-Antrag machen wir sehr deutlich, welche Themen wirklich angepackt werden müssen. Das ist die Reform des Pflegebegriffes. Bei Ihnen Fehlanzeige! Finanzierungsreform - Fehlanzeige! Quartiersorientierte Versorgungsstrukturen - Fehlanzeige! Entlastung pflegender Angehöriger -
Fehlanzeige!
Maßnahmen gegen Personalmangel -
Fehlanzeige! Das Gegenteil ist der Fall, aber dazu komme ich noch.
Bei der überfälligen Reform des Pflegebegriffs sind Sie nicht einen Schritt weitergekommen. Sie haben recht: Man kann einen neuen Pflegebegriff nicht von jetzt auf gleich einführen, aber man kann daran weiterarbeiten.
Sie aber haben zweieinhalb Jahre lang überhaupt nichts unternommen.
Sie haben die Empfehlungen des Expertenbeirates verstauben lassen. Erst im März dieses Jahres wurde der Beirat wieder eingesetzt. Und was man so hört, geht es ja nur äußerst zäh voran. Ich glaube, das liegt am allerwenigsten an den Experten selbst.
Herr Minister, Worthülsen, wohin man schaut.
Als Beispiel nenne ich den Kampf gegen den Personalmangel. Künftig wird für die Zulassung einer Pflegeeinrichtung die Zahlung des Pflegemindestlohns ausreichend sein. Derzeit gilt die Zahlung einer ortsüblichen Vergütung, und die ist an vielen Orten höher als der Pflegemindestlohn.
Der Mindestlohn ist als Lohnuntergrenze von zentraler Bedeutung. Wir Grüne haben uns immer dafür eingesetzt. Der Mindestlohn darf aber nicht zum Normlohn werden. Genau das will jedoch die Koalition.
Sie will Billigpflege. Was ist das für ein Kampf gegen den Personalmangel, frage ich Sie, Herr Minister. Sie werden damit keine neuen Pflegekräfte gewinnen.
Worthülse „nachhaltige Finanzierung“. Auch hier tun Sie nichts. Selbst Ihre minimalen Leistungsverbesserungen - ja, es gibt welche; aber eben minimal - sind gerade mal bis 2015 gegenfinanziert. Sie sollten endlich den Weg frei machen für eine solidarische Pflegebürgerversicherung.
Das wäre eine gerechte Lösung für alle. Es geht um eine bessere Pflege zu bezahlbaren Beiträgen - und das bis weit in die Zukunft.
Aber stattdessen kommt nun der Pflege-Bahr. Herr Minister, dass Ihnen das nicht peinlich ist!
Das soll ein Beitrag zu einer nachhaltigen Finanzierung sein? Das ist doch eher ein schlechter Witz. Allen bleibt doch wirklich das Lachen im Halse stecken: den Sozialverbänden, den Gewerkschaften, den Verbraucherzentralen, dem Bund der Versicherten, den gesetzlichen Krankenkassen, namhaften Wirtschaftswissenschaftlern und Instituten und selbst den Arbeitgeberverbänden. Die Presse landauf, landab berichtet von dem Unsinn „Pflege-Bahr“. Das ist der Ausstieg aus der Solidarität.
Geringverdiener und Ältere, die es am nötigsten hätten, werden vom Pflege-Bahr nichts haben. Trotz des Zuschusses von 5 Euro wird eine private Versicherung viel zu teuer.
Geringverdiener und Ältere können sich diese Zusatzversicherung allzu oft nicht leisten, auch mit 5 Euro Zuschuss nicht. Junge und Gesunde werden die 5 Euro Zuschuss gar nicht in Anspruch nehmen. Ich denke, die alten Tarife ohne Förderung werden sicherlich immer noch günstiger sein als die unattraktiven geförderten Produkte.
Der Pflege-Bahr ist unsozial und überflüssig. Das wissen Sie selbst genauso wie die privaten Versicherungsunternehmen. Sie wollen mit dem Pflege-Bahr den Einstieg in die Privatisierung des Pflegerisikos. Das ist die eigentliche Botschaft dieses Unsinns.
Wir werden diesen Unsinn so bald wie möglich wieder rückgängig machen.
Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz - zumindest die Namensgeber waren kreativ. Der Inhalt hat mit Neuausrichtung nichts zu tun. Es ist unfassbar, dass Sie in einer Zeit, in der es uns nicht an Erkenntnissen fehlt, deren Umsetzung verweigern. Herr Spahn, Sie haben in Ihrer Rede hoch und runter aufgesagt, um was es geht. Daher sollten Sie das eigentlich verstanden haben. Dass es Ihnen nicht peinlich ist, die Leistungsverbesserung bei der Betreuung von Demenzkranken als große Leistung hinzustellen:
Es sind 35 Sekunden pro Demenzkranken pro Tag an zusätzlicher Betreuung. Das traut sich diese Koalition hier laut zu sagen.
Ich frage mich, wie Sie dies vor den pflegebedürftigen Menschen und deren Angehörigen, vor den Pflegekräften und vor den Ehrenamtlichen und auch vor Ihren Wählerinnen und Wählern verantworten können. Ich gehe fest davon aus, dass wir in der nächsten Wahlperiode genügend Unterstützung haben, diesen Unfug wieder rückgängig zu machen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Elisabeth Scharfenberg (BÃœNDNIS 90/DIE GRÃœNEN):
Ja. - Wir werden dann die Aufgaben anpacken, die Sie heute liegen gelassen haben.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr.
Daniel Bahr, Bundesminister für Gesundheit:
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jeden Tag leisten Pflegekräfte, Familien und pflegende Angehörige ihren Einsatz, damit menschenwürdiges Altern in Deutschland möglich ist. Diesen Einsatz werden wir mit dem Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz unterstützen. Es ist die christlich-liberale Koalition,
die diejenigen in den Mittelpunkt stellt, die tagtäglich eine menschenwürdige Pflege für ihre Angehörigen gewährleisten.
Wir konzentrieren uns mit unseren Maßnahmen darauf, die Familien in Deutschland zu stützen, die die Hauptlast der Pflege in Deutschland tragen.
Durch das Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz wird keiner schlechter-, aber viele Menschen in Deutschland bessergestellt. Bei dem, was Sie hier veranstalten, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, hat man fast den Eindruck, Sie sind in einer Parallelwelt.
Wir erleben gerade große Verunsicherung in Europa. Während in allen anderen Ländern um uns herum die Sozialausgaben reduziert und die Sozialleistungen eingeschränkt werden, ist es in dieser Situation die Priorität der christlich-liberalen Regierung, Mehrausgaben zu beschließen: Verbesserungen für Demenzkranke, Verbesserungen für pflegende Angehörige. Das ist die richtige Prioritätensetzung, die Christlich-Liberal hier heute beschließt.
Erinnern wir uns einmal: Wer hat denn 1994 die Pflegeversicherung geschaffen? Es war eine christlich-liberale Koalition, die in Deutschland die Pflegeversicherung eingeführt hat.
Als Rot-Grün regiert hat, was hat sich denn da in der Pflege getan?
Null und nichts! Sie haben überhaupt nichts in der Pflege getan.
Es ist erneut eine christlich-liberale Koalition, die für Verbesserungen der Menschen sorgt.
Seinerzeit ist die Pflegeversicherung eine Versicherung gewesen, die sich nur an den Verrichtungen orientiert hat und die Demenz nicht berücksichtigt hat.
Wir haben gemeinsam lange darüber diskutiert, die Demenz zu berücksichtigen.
- Das scheint Sie offenbar zu treffen, sonst würden Sie nicht so zetern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, falsche Behauptungen werden nicht dadurch besser, dass sie wiederholt werden, wie die falschen Zahlen, mit denen hier gearbeitet wird.
Die Wahrheit ist: Sie haben in Ihrer rot-grünen Regierungszeit nichts gemacht.
Frau Kollegin Ferner, was mich an Ihrer Rede am meisten beeindruckt hat, war das gequälte Gesicht von Franz Müntefering, als er den Klamauk anhören musste, den Sie hier veranstaltet haben.
Ich habe großen Respekt vor der rot-grünen Bundesregierung, die in einer schwierigen Situation erkannt hatte, dass wir uns angesichts der demografischen Entwicklung und der alternden Bevölkerung nicht allein auf eine umlagefinanzierte Sozialversicherung verlassen können. Bei der Rente hat Rot-Grün seinerzeit einen historischen Schritt gemacht und mit der Riester-Rente den Einstieg in die Kapitaldeckung geschafft.
Denn Sie haben erkannt, was wir zuvor gesagt hatten: dass es zur Sicherung des Lebensstandards nicht reicht, sich allein auf die gesetzliche umlagefinanzierte Rente zu verlassen. Dann haben Sie die Riester-Rente eingeführt.
Die gleiche Kritik, die wir heute hören, können Sie in den Artikeln aus der Zeit, als Rot-Grün die Riester-Rente beschlossen hat, nachlesen. Damals kam die gleiche Kritik.
Es hieß, es würde sich nicht lohnen; das würde keiner machen. 16 Millionen Riester-Verträge in Deutschland sprechen die eindeutige Sprache, dass Eigenvorsorge und Kapitaldeckung sinnvoll sind, um die Lasten einer alternden Bevölkerung zu bewältigen.
Was bei der Riester-Rente wichtig war, ist auch in der Pflege nötig. Erkennen Sie das doch endlich an!
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Bahr, die Kollegin Birgitt Bender würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.
Daniel Bahr, Bundesminister für Gesundheit:
Gerne.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Bitte.
Birgitt Bender (BÃœNDNIS 90/DIE GRÃœNEN):
Herr Minister, können Sie mir bestätigen, dass die Riester-Rente, die Sie jetzt als historische Leistung von Rot-Grün würdigen, damals von der FDP-Fraktion geschlossen abgelehnt wurde?
Daniel Bahr, Bundesminister für Gesundheit:
Aber warum denn?
Wir haben doch nicht die Kapitaldeckung abgelehnt. Erinnern Sie sich einmal an die Zeit. Sie haben seinerzeit eine Riester-Rente vorgelegt, die so bürokratisch war, dass Sie selbst sie später ändern mussten. Das war der Grund, warum die FDP damals gesagt hat: im Ansatz richtig, aber schlecht gemacht. Sie haben es dann selbst erkannt und sie unbürokratischer gemacht. Erst dann hat sich die große Akzeptanz gegenüber der Riester-Rente gezeigt.
Es ist doch überhaupt nicht so, dass die FDP gegen Eigenvorsorge war. Das glauben Sie doch selbst nicht. Dass Sie so süffisant lächeln, zeigt doch, dass Sie selbst nicht glauben, dass die FDP gegen Eigenvorsorge ist.
Meine Damen und Herren, dieses Gesetz ist ein Fortschritt, der zu Verbesserungen für die Menschen führt, insbesondere für die Menschen, die bisher nichts aus der Pflegeversicherung bekommen haben. Erstmals erhalten 500 000 Menschen in Deutschland, die an Demenz erkrankt sind und bisher keine oder kaum Leistungen aus der Pflegeversicherung bekommen haben, Leistungen.
Frau Kollegin Scharfenberg, die von Ihnen in diesem Zusammenhang genannte Zahl ist falsch - das wissen Sie auch -; denn Sie beziehen sich allein auf die Demenz. Insofern ist die Zahl, die Sie gerade genannt haben, politisch willkürlich gesetzt.
Erstmals können sich Demenzkranke eine Unterstützung leisten, die sie bisher allein aus ihrem Portemonnaie bezahlen mussten.
Ich habe das gerade in einer Diakonie in Kaiserswerth erlebt. Dort gibt es ein Angebot, für 18 Euro einmal am Tag einen Cook-Service zu nutzen, um Unterstützung zu bekommen. Diese Leistungen können Menschen künftig durch die Verbesserungen, die wir vorsehen, nutzen.
Wir sorgen für Betreuung als eigenständige Leistung. Wir sehen eine Flexibilisierung der Leistungsinanspruchnahme, die Stärkung des Grundsatzes „Rehabilitation vor Pflege“, die Stärkung neuer Wohnformen, die Entlastung pflegender Angehöriger, die Stärkung der Selbsthilfe in der Pflege, die Verbesserung der medizinischen Versorgung in Pflegeheimen, eine stärkere Dienstleistungsorientierung der Medizinischen Dienste und der Pflegekassen und weniger Bürokratie vor. All das sind Verbesserungen, die den Menschen unmittelbar zugutekommen. Deswegen ist es ein gutes Gesetz.
Zu Recht wird von denjenigen, die tagtäglich in der Pflege arbeiten, immer beklagt, dass wir ein starres Korsett der Pflegegestaltung haben, dass sie den individuellen Bedürfnissen nicht gerecht werden können und dass sie nicht die nötige Zeit haben. Dieses Gesetz wagt den Einstieg, indem wir erstmals keine starren Leistungskomplexe mehr haben, sondern durch ambulante Pflegedienste den Pflegebedürftigen mehr Wahlmöglichkeiten anbieten können, indem beispielsweise Zeitkontingente vereinbart werden können, damit Pflegebedürftige selbst entscheiden können, welche Pflege, welche Betreuung und welche Unterstützung sie in Anspruch nehmen wollen.
Das zeigt die Grundhaltung dieser christlich-liberalen Koalition: freie Wahlmöglichkeiten für die Pflegebedürftigen, Abbau der Bürokratie und Stärkung vor allem der pflegenden Angehörigen, dass sie die Leistungen in Anspruch nehmen können, die sie für die Pflege ihrer pflegebedürftigen Eltern oder Großeltern brauchen.
Ich bleibe dabei: Das ist ein gutes Gesetz. Weil die Pflege eine große gesellschaftliche Herausforderung ist, müssen weitere gemeinsame Anstrengungen unternommen werden. Wir sind dabei, die Ausbildung zu verstärken und die Qualifizierung zur Pflegekraft in Deutschland zu unterstützen. Wir fördern die Motivation derjenigen, die täglich im Pflegebereich arbeiten, durch die Fortsetzung des Bürokratieabbaus und bringen einen neuen Pflegebegriff auf den Weg. Aber dazu sind, wie gesagt, Vorarbeiten nötig. Dies wird nicht liegen gelassen, sondern angegangen, damit unmittelbar Verbesserungen für die Menschen in Deutschland erreicht werden.
Das erreicht Christlich-Liberal. Das haben Sie nicht erreicht. Ihnen fällt nichts anderes ein als billige Polemik und schwache Kritik. Wenn Sie regiert haben, haben Sie konkret nichts verändert. Das muss immer Christlich-Liberal machen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt die Kollegin Hilde Mattheis von der SPD-Fraktion.
Hilde Mattheis (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Bahr, um zu wissen, was von Ihren Behauptungen zu halten ist, habe ich nur in die Gesichter der Unionskollegen schauen müssen. Herrn Zylajew leidet unter all dem, was Sie hier vorstellen.
Ich bin sicher, dass viele in den Unionsreihen insgeheim sagen: Hätten wir doch in der letzten Legislaturperiode nicht so viel Theater gemacht, als die SPD mit dem Pflege-Weiterentwicklungsgesetz viele Verbesserungen auf den Weg bringen wollte!
Aber das haben Sie verhindert. Jetzt kann ich Sie von Ihrem Leid nicht befreien.
Während Herr Bahr in seinem Ministerium seinen Chefplaner aus der privaten Versicherungswirtschaft den nächsten Baustein für eine Entsolidarisierung des Gesundheitssystems und insbesondere des Pflegesystems hat setzen lassen, haben wir uns im Dialog mit den Wohlfahrtsverbänden und den Gewerkschaften auf den Weg gemacht und ein Gesamtkonzept formuliert, das in weiten Teilen genau die richtigen Antworten gibt, die von Ihnen nicht kommen. Sie versuchen, mit kleinen Verbesserungen - gegen diese wird niemand in diesem Hause sein -
Ihre eigentliche Intention zu verbergen und einen Baustein für die Entsolidarisierung unserer Sozialversicherungssysteme zu setzen.
Es lohnt sich, in vielen Punkten das zu rekapitulieren, was Sie gerade gesagt haben, Herr Bahr. Sie sagten, für Menschen mit Demenz habe es bisher keine Leistungen gegeben. Ich weiß nicht, wo Sie in der letzten Legislaturperiode waren,
aber seit der letzten Legislaturperiode gibt es Pauschalen in Höhe von 100 oder 200 Euro für Menschen mit Demenz.
- Stimmt, jetzt gibt es eine weitere Verbesserung.
Was Sie aber nicht liefern, ist ein Pflegebedürftigkeitsbegriff, der das erfüllt,
was im Prinzip alle, die etwas von Pflege verstehen, fordern, Herr Spahn.
Alle wollen weg von der Minutenpflege, hin zu einer teilhabeorientierten Pflege, damit es nicht mehr passiert, dass Menschen nicht das zukommt, was sie zur Deckung der individuellen Bedarfe und zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben brauchen. Einen solchen Ansatz liefert Ihre Reform nicht; das wissen Sie genau.
Die vorgesehenen Verbesserungen, zum Beispiel betreffend die Wohngruppen, sind sicherlich in Ordnung.
Aber das, was Sie mit der Gießkanne verteilen, hat nichts mit Systematik zu tun und kommt langfristig nicht denjenigen zugute, die einen Wandel im Pflegebereich gebraucht hätten.
Ich konzentriere mich im Folgenden auf unseren Antrag. Wir wollen Verbesserungen für Pflegebedürftige durch die Reform des Pflegebedürftigkeitsbegriffs erzielen. Wir wollen Verbesserungen für pflegende Angehörige.
Da bleiben Sie die Antwort zum größten Teil schuldig. Was ist denn mit einer Lohnersatzleistung für eine Pflegezeit von einem halben Jahr? Was ist denn mit einer Lohnersatzleistung bei einer Freistellung von bis zu zehn Tagen? Da kommt nichts außer ein paar warme Worte für pflegende Angehörige und Fachkräfte. Ansonsten kommt von Ihnen nichts.
Ich komme zu unserem dritten großen Baustein, zu den Pflegekräften. Da müssen wir einiges tun. Was haben wir für den Mindestlohn in der Altenpflege gekämpft! Ich kann mich wirklich nicht daran erinnern, dass Sie uns da unterstützt haben. Da kam nichts.
Wir wollen eine generalistische Ausbildung und wissen, dass das auch die Länder - die von Ihren Parteien geführten Länder übrigens auch - verstanden haben. Denn es ist wichtig, dass in der Altenpflege keine Sackgasse für hochqualifizierte Leute entsteht. Vielmehr geht es darum, zu sagen: Ihr habt Berufsperspektiven, ihr könnt von dieser Arbeit eure Familie ernähren, und ihr habt Perspektiven, euch weiterzubilden.
Schauen Sie bitte in unseren Antrag: All das wollen wir auf den Weg bringen; denn neben einer guten Bezahlung sind natürlich die Ausbildung in einem Beruf und die Anerkennung des Berufes absolut wichtig.
Man kann heute nicht mehr akzeptieren, dass man für die Ausbildung in der Pflege Gebühren zahlen muss, während ein Auszubildender in der Kfz-Branche an so etwas selbstverständlich nicht denken muss. Ich weiß nicht, in welcher Welt Sie leben und warum Sie nicht wenigstens das jetzt aufgegriffen haben.
Ich komme zur Unterstützung der Kommunen. Herr Zylajew, Sie werden wahrscheinlich täglich Abbitte leisten,
dass die Union die Pflegestützpunkte so oft bekämpft hat.
- Doch, doch! Ich kann mich gut erinnern, Herr Zylajew. - Die Pflegestützpunkte sind wichtige Anlaufpunkte für niedrigschwellige Beratung: Case-und-Care-Management.
- Herr Spahn, Sie können lesen. Schauen Sie sich bitte die Berichte an. Dazu gibt es sehr gute Untersuchungen. Rheinland-Pfalz ist ein wunderbares Beispiel dafür. Alle geplanten Pflegestützpunkte sind dort umgesetzt worden. Sie sind im Prinzip eine niedrigschwellige Anlaufstelle für Angehörige und Pflegebedürftige. Auch haben sie einen präventiven Ansatz. Das ist wichtig.
Wir wollen die Infrastruktur der Kommunen weiter unterstützen. Da gibt es einiges zu tun. Wir hier können nicht sagen, was in den Städten an Pflegeinfrastruktur notwendig ist. Das müssen die Kommunen tun. Dafür brauchen sie aber unsere Unterstützung. Das wollen wir gewährleisten.
Meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, Sie haben unser Präventionsgesetz bisher immer torpediert. Dabei müssten Sie wissen: Prävention im Bereich der Pflege ist ebenfalls ein wichtiger Baustein bzw. eine wichtige Säule, um die richtigen Antworten auf die demografische Entwicklung zu geben.
Prävention und Reha sind für uns ebenfalls wichtige Punkte, zu denen wir von Ihnen fordern: Liefern Sie ein gutes Konzept, damit Prävention und Reha auch im Pflegebereich möglich werden.
- Ich bitte Sie, Sie machen da nur ein bisschen. Wo ist denn Ihr Konzept und Ihre Antwort darauf, dass die Krankenversicherungen als Kostenträger geriatrische Reha nicht so forcieren und unterstützen, wie das gebraucht wird?
Ich komme zum Schluss zu einem wichtigen Punkt. Natürlich hängt alles an der Finanzierung. Ihre 1,1 Milliarden Euro, Herr Bahr, sind doch wirklich weiße Salbe. Herr Zylajew geht doch durch die Lande und sagt: Wir brauchen 6 Milliarden Euro in diesem System, um die Leistungsansprüche auch so finanzieren zu können, dass Unterstützung wirklich bei den Leuten ankommt.
Wir wollen die Bürgerversicherung Pflege, und wir wollen natürlich auch einen Ausgleich zwischen der privaten und der sozialen Pflegeversicherung.
In diesem Sinne sage ich zu dem, was Sie, Herr Bahr, und Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen, hier vorlegen: Sie müssten sich der Ehrlichkeit halber heute bei der namentlichen Abstimmung zumindest enthalten;
denn das, was ich bisher von Ihnen gehört habe, entspricht nicht dem, was hier vorgelegt wurde.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Jetzt hat das Wort der Kollege Willi Zylajew von der CDU/CSU-Fraktion.
Willi Zylajew (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bedanke mich zunächst einmal für die Aufmerksamkeit, die meiner Mimik und Gestik heute Morgen zuteilwurde.
Damit täuschen Sie etwas darüber hinweg, dass alle Rednerinnen der Opposition einfach nicht zur Kenntnis nehmen, was wir mit dem Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz
zum Beispiel für Demente, für pflegende Angehörige und zum Beispiel für Menschen, die sich in einer Wohngemeinschaft organisieren wollen, erreichen, was wir zusätzlich anbieten.
Darüber hinaus nehmen Sie nicht zur Kenntnis, dass in diesem Gesetz etwas geregelt wird, was Sie in der Vergangenheit nicht geregelt haben:
festzulegen, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Pflege tarifgerecht bezahlt werden sollen. Wir haben mit den Formulierungen in § 84 Abs. 2 Satz 4 SGB XI und § 89 Abs. 1 Satz 3 SGB XI klargestellt: Die tarifliche Bezahlung von Kräften in der Pflege darf nicht als unwirtschaftlich zurückgewiesen werden. Das ist, Frau Senger-Schäfer, das Beste, was man für Pflegekräfte erreichen kann.
Das ist eine Hilfe.
Es gehört zur Wahrheit - darüber gehen Sie einfach hinweg -, dass tariflich gut bezahlte Frauen und Männer der überörtlichen Sozialhilfeträger und der Pflegekassen bisher immer wieder versuchen, bei den Trägern Lohndumping durchzudrücken. Die Träger wollen dies nicht. Sie wissen, dass sie gute Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ordentlich, also tariflich, bezahlen müssen. Diesem Lohndumping schieben wir jetzt einen Riegel vor. Wir sichern den Anspruch auf eine tarifliche Bezahlung.
Das ist uns wichtig. Mit diesem Gesetz erreichen wir etwas, was bisher noch niemand zustande gebracht hat.
Es reicht auch nicht, zu sagen: Wir haben doch eine höchstrichterliche Rechtsprechung. - Eine solche Rechtsprechung muss man einklagen. Dafür muss man sich auf einen Streit einlassen, der Zeit kostet, und in dieser Zeit passiert dann wieder nichts.
Hier finden wir im Übrigen auch Zustimmung von Verdi. Wir haben in den letzten Tagen die eine oder andere Zuschrift bekommen, in der Menschen die Sorge geäußert haben, dass wir uns nun am Mindestlohn orientieren; Sie haben das eben in Ihren Reden auch getan. Ich verstehe dies nicht. Den Mindestlohn haben wir doch damals gemeinsam erstritten, weil die Sorge bestand, dass uns ab dem 1. Mai 2011 eine Welle von Pflegekräften aus Osteuropa überrollt. Wir haben gesagt: Darauf ist die richtige Antwort der Mindestlohn. Ihn, und zwar einen Mindestlohn für Pflegehilfskräfte, nicht für Pflegekräfte, haben wir erkämpft.
Dieser Mindestlohn hat nach wie vor seine Bedeutung, weil er der Lohndrückerei durch die Pflegekassen und Sozialhilfeträger, nicht durch die Träger der Einrichtungen, einen Riegel vorschiebt. Ich glaube, das wollen wir beibehalten; da sind wir ganz klar. Lohndumping in der Pflege darf es nicht geben.
Es ist ausgerechnet eine christlich-liberale Koalition, die sich mit diesem Gesetz für die gute Bezahlung von Pflegekräften starkmacht. Das ist eine Riesenfortentwicklung. All Ihr Nachdenken über eine bessere Ausbildung - die wollen auch wir -, über Ausbildungsmodule ist zwar richtig, aber sie geht ins Leere, wenn man denen, denen man Arbeit in der Pflege anbietet, nicht auch eine sichere und ordentliche Bezahlung zusagt.
Die Pflege wird auf Dauer anspruchsvoller, qualitativ wie quantitativ. Für neue Wohnformen - dort haben Sie es mit Einzelkräften zu tun - benötigen wir Damen und Herren, die, auf sich alleingestellt, eine Arbeitsleistung erbringen müssen. Gerade der Erbringer dieser Arbeitsleistung ist auf eine ordentliche Bezahlung angewiesen. Menschen mit Demenz, erkrankte Senioren brauchen Verlässlichkeit, und wir schaffen Verlässlichkeit. Es muss möglich sein - dies steht jetzt eindeutig fest -, dass die Träger bei wirtschaftlicher Betriebsführung, ambulant wie stationär, die Aufwendungen finanziert bekommen. Dazu gehören dann eben auch die Lohnaufwendungen.
Es wäre ausgesprochen hilfreich, wenn wir hier in den Gesprächen mit den Ländern weiterkommen. Mir ist sehr daran gelegen, zu sagen: Mit diesem Gesetz erreichen wir ein Stück weit die Neuausrichtung und die Weiterentwicklung der Versorgung in der Pflegeversicherung. Da können wir verstehen, dass die Kritik, die Sie als Opposition vortragen, eine Pflichtübung ist. Aber ich denke, Sie wissen, dass wir hier inhaltlich etwas weiterbringen; dem müssten Sie sich eigentlich anschließen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort die Kollegin Dr. Martina Bunge.
Dr. Martina Bunge (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister, werte Kolleginnen und Kollegen der Koalition, ja, Sie haben ein paar Bonbons in dieses Gesetz gepackt;
aber ich denke, sie können nicht den Skandal verkleistern, der mit dem Pflege-Bahr oder, besser gesagt, mit dem Pflege-Riester einhergeht.
Wissen Sie alle genau, was wir hier heute verabschieden?
Die Sozialverbände laufen Sturm gegen diese haarsträubende soziale Ungerechtigkeit. Aber welche Bürgerin und welcher Bürger weiß genau, was auf ihn oder sie zukommt?
Herr Spahn, Sie sprachen vom Gesellschaftsbild. Da habe ich die Frage: Hätte denn solch ein Systembruch, ein Paradigmenwechsel, weg von der solidarischen, immer mehr hin zu einer privat abgesicherten Pflege, nicht eines breiten gesellschaftlichen Konsenses bedurft?
Diesen Anspruch, Herr Lanfermann, werte Kolleginnen und Kollegen der FDP, hatten Sie auch einmal, in der Opposition.
Herr Präsident, Sie gestatten mir sicher ein Zitat. Am 14. Dezember 2007 sagten Sie, Herr Lanfermann, an dieser Stelle bei der ersten Lesung des schon erwähnten Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes:
Die sogenannte Große Koalition wird in der Pflegedebatte ganz klein, möchte am liebsten gar nicht darüber sprechen, verschiebt die Debatte … und verkürzt die Debattenzeit …, sodass man nicht auf alle Themen eingehen kann.
Und Sie, Herr Bahr, warfen von Ihrem Platz aus etwas süffisant ein:
Das ist die breite gesellschaftliche Debatte, die Frau Schmidt angekündigt hat!
Darauf sagten Sie, Herr Lanfermann, zur Bestätigung:
Genau, das ist der breite Dialog.
Und was machen Sie beide hier und heute beim sogenannten Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz? Sie führen mit einem Änderungsantrag, der erst letzte Woche das parlamentarische Licht erblickt hat und diesen Montag auf Druck der Opposition in einer Anhörung behandelt wurde, einen Systemwechsel ein. Heute soll das Ungetüm verabschiedet werden. Da frage ich: Wo sind Sie bloß hingekommen?
Bloß um Ihre Klientel, die Versicherungswirtschaft, zu bedienen, schmeißen Sie alle guten parlamentarischen Gepflogenheiten über Bord. Das ist ein Skandal. Schlimm ist, dass Sie damit keines der Probleme in der Pflege lösen, vor denen wir eigentlich stehen.
Genauso sieht es mit den Problemen aus, mit denen sich die freiberuflichen Hebammen seit Jahren herumschlagen. Für diese Meisterleistung des Copy and Paste bei der Übertragung der rechtlichen Regelungen zur Hebammenversorgung aus der Reichsversicherungsordnung in das Sozialgesetzbuch werden Sie weder einen Doktortitel noch den Beifall der Hebammen und der werdenden Eltern bekommen.
Aber Sie beherrschen das Nichtstun wunderbar, Herr Bahr, und auch, jedes Nichts als Errungenschaft zu verkaufen. Die Hebammen bekommen von Ihnen nur leere Worte, warme Worte; aber die Situation bleibt, wie sie ist: miserabel. Nächsten Monat, also schon übermorgen, werden wieder die Haftpflichtprämien erhöht. Die Verhandlungen zwischen Kassen und Hebammen stocken, und die Bundesregierung schaut zu. Das ist untragbar, und deshalb werden wir dem Gesetz insgesamt nicht zustimmen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt das Wort die Kollegin Birgitt Bender.
Birgitt Bender (BÃœNDNIS 90/DIE GRÃœNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es soll in der Tat nicht unerwähnt bleiben, dass es in diesem Gesetz auch eine Neuregelung der Hebammenhilfe gibt. Erst haben Sie alle grünen Anträge abgelehnt, sie dann aber teilweise umgesetzt. Dafür gebührt Ihnen ein bisschen Lob. Es ist gut, dass die Reichsversicherungsordnung hier Vergangenheit ist. Aber ich will auch deutlich daran erinnern, dass es bei der Regelung der Hebammenhilfe noch offene Baustellen gibt. Das betrifft insbesondere die Frage der Haftpflichtversicherung und nicht zuletzt schlicht und einfach die angemessene Honorierung bei der Hebammenhilfe, die für uns alle wichtig ist.
Jetzt komme ich zum Thema Pflege-Bahr und dem Vergleich mit der Riester-Rente. Erstens, Herr Minister. Es sei daran erinnert: Die FDP hat die Riester-Rente gar nicht gewollt. Immerhin scheinen Sie etwas dazugelernt zu haben.
Zweitens stelle ich fest: Sie haben die Logik der Riester-Rente immer noch nicht verstanden, oder aber Sie versuchen, die Leute für dumm zu verkaufen; denn in der Rente sieht es doch so aus: Wer mehr in das Solidarsystem einzahlt, bekommt mehr heraus. Wer mit der Riester-Förderung privat vorsorgt, erhöht das Einkommen und damit die soziale Sicherheit im Alter. Deswegen war es richtig, diese Reform zu machen.
In der Pflege gilt: Wer als Bürgerin oder Bürger das Risiko der Pflegebedürftigkeit im Solidarsystem absichert, zahlt das, was sie oder er kann, nämlich nach Einkommen, und bekommt später das, was sie oder er im Pflegefall braucht. Wer hingegen beim Pflege-Bahr mit 5 Euro Subvention einen privaten Vertrag abschließt, zahlt mehr, je älter sie oder er ist, bekommt gar nichts, wenn sie oder er nicht pflegebedürftig wird, und bekommt im Pflegefall die Leistung nicht nach Bedarf, sondern je nach Einzahlung.
- Genau. - Das ist keine Steigerung der sozialen Sicherung bei Pflegebedürftigkeit.
Dieses Angebot ist nichts für Ältere und nichts für Geringverdienende, sondern es generiert nur einen Mitnahmeeffekt für die Besserverdienenden. Im Übrigen ist das eine höchst bürokratische Subventionierung der PKV. Deswegen ist das abzulehnen.
Diese Regelung mit dem Pflege-Bahr, seien wir doch ehrlich, entspricht voll der Ideologie der FDP. Aber ich sage Ihnen auch: Sie ist bar jeder politischen Vernunft.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Kollege Stephan Stracke von der CDU/CSU-Fraktion.
Stephan Stracke (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Gesundheitspolitik der christlich-liberalen Koalition ist eine Erfolgsgeschichte.
Sie ist eine Erfolgsgeschichte,
weil die gesetzliche Krankenversicherung noch nie so gut dastand wie derzeit.
Sie ist eine Erfolgsgeschichte, was unser Landärztegesetz angeht, weil wir damit die Voraussetzungen sichern, dass wir weiterhin eine flächendeckenende, wohnortnahe, hervorragende medizinische Versorgung in diesem Land haben werden. Genau an diese Erfolgsgeschichte knüpfen wir mit unserem Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz nahtlos an.
Dieses Gesetz ist ein gutes Gesetz. Was die Opposition hier aufführt, ist nichts anderes als ein Stück aus dem Tollhaus. Sie reden von Entsolidarisierung, aber genau das Gegenteil ist der Fall; denn die Menschen erleben doch das, was wir machen, als konkrete Verbesserung. Wir geben 1 Milliarde Euro mehr für die soziale Pflegeversicherung aus. Sie wissen: Wir geben derzeit 20 Milliarden Euro im Rahmen der sozialen Pflegeversicherung aus. 1 Milliarde Euro mehr entspricht 5 Prozent. Nennen Sie mir doch ein Beispiel,
in welchen anderen Zweigen des Sozialversicherungssystems wir ähnlich viel Geld ausgeben wie für die soziale Pflegeversicherung.
Sie nennen kein Beispiel. Es ist richtig, was wir hier tun. Wir stärken die Voraussetzungen für die Pflege, gerade für die Demenzbetroffenen in diesem Land. Wir haben rund 1 Million Demenzbetroffene. Wir wissen, dass alles auf eine Verdopplung der Zahl in den nächsten Jahrzehnten hindeutet. Deswegen machen wir etwas ganz gezielt für diese Betroffenen. Wir stärken die Versorgung für 500 000 Pflegebedürftige, indem wir hier ganz konkrete Verbesserungen bewirken, zum Beispiel indem wir Pflegesachleistungen in der Pflegestufe 0 einführen. Das ist im Übrigen ein Einstieg in weitere Pflegestufen
- genau! - und damit auch ein Vorgriff auf den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff.
Ich kann nicht erkennen, dass das eine Verschlechterung für die Menschen ist; genau das Gegenteil ist der Fall.
Es ist außerdem eine Verbesserung, dass wir den Pflegesachleistungsanspruch um die häusliche Betreuung erweitern. Der Einsatz von zusätzlichen Betreuungskräften auch für die Einrichtungen der Tages- und Nachtpflege ist ebenfalls eine Verbesserung.
All das zeigt: Wir setzen da an, wo die Einzelnen, die Bürgerinnen und Bürger, die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen konkrete Verbesserungen erwarten. Genau das tun wir!
Nun zu der Frage, was den Charakter der sozialen Pflegeversicherung in diesem Land ausmacht; Sie stellen das nämlich immer falsch dar, und das ärgert mich. Die soziale Pflegeversicherung ist ein ganz wichtiger Baustein der sozialen Sicherung. Sie hat sich bewährt und genießt höchste Akzeptanz bei den Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen. Sie führt auch zu einer finanziellen Entlastung.
Aber sie ist so angelegt, dass sie Teilleistungscharakter hat. Deswegen ist es doch richtig, dass wir jetzt beispielsweise die freiwillige private Pflegevorsorge stärken. Wir wissen doch genau: In dem Moment, wo jemand pflegebedürftig wird, muss er aus seinem Privatvermögen noch beträchtliche Beträge zuschießen. Das entspricht eben dem Teilleistungscharakter der sozialen Pflegeversicherung, den hier im Grunde auch keiner ernsthaft infrage stellt. Deswegen ist das, was wir jetzt beschließen, auch kein Systemwechsel, wie das so oft dargestellt wird; es ist genau das Gegenteil: Wir stärken die freiwillige private Pflegevorsorge,
und zwar durch eine staatliche Förderung. Wir nehmen dafür 60 Euro pro Jahr in die Hand. Ich glaube, das ist etwas, was den Menschen guttut. Damit werden sie in dem Fall, dass Pflegebedürftigkeit eintritt, finanziell stärker entlastet.
Insgesamt zeigt sich: Das, was wir hier auf den Weg bringen, ist ein gutes Gesetz, weil es an den Bedürfnissen der Menschen konkret ansetzt, weil es die Demenzbetroffenen und zugleich die pflegenden Angehörigen in den Mittelpunkt stellt. Ich glaube, das ist ein Gesetz, das nutzt. Ich bitte hier um Zustimmung.
Herzlichen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt die Kollegin Angelika Graf von der SPD-Fraktion.
Angelika Graf (Rosenheim) (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestern früh habe ich an einer Diskussionsrunde teilgenommen. Es ging um die Menschenrechte Älterer. Die Schirmherrschaft hatte die Kollegin Fischbach. Veranstaltet wurde diese Diskussion vom Deutschen Institut für Menschenrechte. Dabei kam auch die Pflegesituation in Deutschland sehr prominent zur Sprache.
Als Bundesvorsitzende der Seniorenarbeitsgemeinschaft in der SPD weiß ich sehr wohl, was ältere Menschen beschäftigt. Neben der wirtschaftlichen Sicherheit und der Unabhängigkeit sowie dem Wunsch, dass es ihren Kindern und Enkelkindern gutgeht, beschäftigt sie insbesondere, dass die Versorgung im Fall der Pflegebedürftigkeit gut gewährleistet ist. Die Menschen wollen dann nicht nur versorgt sein, sondern sie wollen eine ganzheitliche und würdevolle Pflege für jeden, unabhängig vom Geldbeutel. Das ist es, was für die Menschen einen hohen Stellenwert hat.
Deshalb, denken wir, ist ein ganzheitlicher Pflegebedürftigkeitsbegriff von extremer Wichtigkeit. Da frage ich mich und vor allen Dingen Sie - Sie haben auch in der Debatte heute keine wirkliche Antwort darauf geben können -, warum Sie den Pflegebedürftigkeitsbegriff, der 2009 unter der Vorgängerregierung von einer unabhängigen Kommission entwickelt worden ist, nicht übernommen haben, zumal Sie an dieser Vorgängerregierung beteiligt waren. Ich glaube nicht, dass der schwarz-gelbe Pflegebedürftigkeitsbegriff grundlegend anders aussehen wird als der schwarz-rote, der damals entwickelt worden ist. Die Pflegebedürftigen und all die, die in der Pflege arbeiten, haben durch Ihr Zögern und Ihr Nichthandeln viel wertvolle Zeit verloren, und das nur, weil Sie so eitel sind, einen eigenen Pflegebedürftigkeitsbegriff in die Welt setzen zu wollen.
Wir haben heute viel über das Reförmchen gesprochen, das Sie uns hier vorlegen. Ich teile alle Einschätzungen, die besagen, dass es einige Punkte gibt, die in Ordnung sind. Aber es gibt in diesem Gesetz definitiv keinen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff; es gibt keine wirklich wesentlichen Leistungserweiterungen und -verbesserungen, und es gibt vor allen Dingen auch keine zukunftsfeste Finanzierungsform, die Sie uns vorlegen.
Die Pflegereform bringt nur in kleinen Bereichen etwas: Das ist der schon besprochene finanzielle Aufschlag für Demenzerkrankte und ihre Angehörigen, und das sind die Pflege-WGs.
Lassen Sie mich zum Thema Pflege-WGs etwas sagen. Auch in der Debatte im Ausschuss habe ich das Gefühl gehabt: Sie haben sich in keiner Weise darum gekümmert, ob die Pflege-WGs mit den Heimgesetzen der Länder kompatibel sind.
Darauf gab es keine Antwort. Eine Antwort ist aber wichtig; denn es beschäftigt die Menschen vor Ort. Eventuell könnte es sein, dass die Umsetzung dieses interessanten Konzeptes nicht mehr möglich ist.
Sie haben uns mit der Reform einen Elefanten versprochen, und es ist eine Mücke geworden. Diese Mücke beißt auch noch giftig, wenn man etwa an den Pflege-Bahr denkt.
Dass es nicht vorwärtsgeht, gilt auch für den Bereich der Prävention und Rehabilitation. Gerade vor dem Hintergrund einer älter werdenden Gesellschaft muss uns doch klar sein, dass wir diese Bereiche massiv stärken müssen.
Herr Singhammer hat uns am letzten Montag den Vorschlag der Union für Präventionspezialtarife für die Krankenkassen als einen Quantensprung verkauft.
Damit wollte er die Untätigkeit der Koalition im Bereich der Prävention kaschieren. Wir warten immerhin schon seit drei Jahren auf eine entsprechende Strategie, und ich fürchte, dass sie in dieser Legislaturperiode nicht mehr kommen wird.
Auch in dem Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz finden wir keine Vorschrift für die Verbesserung präventiver Maßnahmen, die geeignet wäre. Dort steht: Die Pflegekassen müssen dem Antragsteller neben dem Leistungsbescheid eine Rehabilitationsempfehlung übermitteln. - Sonst steht dort nichts. Was soll das heißen? Das ist so dunkel und so wolkig, dass jeder alles dort hineininterpretieren kann, und im Endeffekt ist es nichts. Der Grundsatz „Prävention vor Rehabilitation und vor Pflege“ ist nicht nur eine Formel. Die Ziele der Prävention und der Rehabilitation im Alter sind die Vermeidung von Erkrankungen, Multimorbidität und Hilfebedürftigkeit. Das spart Kosten. Warum finden wir dazu nichts in dem Reformvorschlag, den Sie uns heute zur Abstimmung vorlegen?
Frau Bender hat deutlich gemacht, wo der Unterschied zwischen dem Pflege-Bahr und der Riester-Rente ist. Man sollte ergänzen: Für jemanden, der älter ist, der zum Beispiel über 50 Jahre alt ist, sind die Beträge exorbitant hoch. Dazu kommt die Wartezeit von fünf Jahren. Wie soll das funktionieren, wenn der- oder diejenige pflegebedürftig wird? Der- oder diejenige hat nichts von dem, was eingezahlt wurde. Also: Verkaufen Sie uns doch nicht für dumm! Wir durchschauen, was der Hintergrund dieses Gesetzes ist: Sie wollen den Einstieg in eine kapitalgedeckte Säule in der Pflegeversicherung. Sie geben den Versicherungen dafür Geld.
Das Allerschlimmste ist: Die staatlichen Fördermittel, die Sie dafür jetzt vorsehen, fehlen in der gesetzlichen Pflegekasse. Geben Sie das Geld, das Sie dafür ausgeben, lieber in die gesetzliche Pflegekasse; dann wären wir ein Stück weiter.
Ich fürchte aber, heute wird es mit dieser Erkenntnis nicht mehr klappen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt die Kollegin Maria Michalk für die CDU/CSU-Fraktion.
Maria Michalk (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Auch wenn die Opposition den ganzen Morgen behauptet, die Pflegeversicherung ist nichts, sagen wir: Die Pflegeversicherung ist eine Erfolgsgeschichte.
Wir entwickeln sie Schritt für Schritt weiter. Sie ist keine Vollkaskoversicherung, sondern ein Mix von Beitragszahlungen, staatlichen Hilfen, Solidarität und Eigenverantwortung.
Nicht immer ist das allen bewusst. Deshalb war die Diskussion um das Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz so wichtig. Sie hat verdeutlicht, dass wir uns über die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, zu denen auch die demografische Entwicklung beiträgt, noch viel klarer werden müssen. Wir können nicht irgendwelche Wolkenkuckucksheime bauen, sondern wir müssen die Realität betrachten.
Der erste Schritt auf dem Weg von einer verrichtungsbezogenen hin zu einer teilhabeorientierten Pflege wird getan; dazu sage ich gleich noch etwas. Jeder von uns weiß jedoch: Wenn wir dieses Gesetz heute beschließen, sind wir mit der Arbeit in diesem Bereich noch nicht am Ende, sondern wir werden uns damit Schritt für Schritt weiter auseinandersetzen. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass sich eine Fachkommission mit dem Pflegebedürftigkeitsbegriff beschäftigen wird.
Die zunehmende Tendenz vor Ort, die Pflegearbeit nach rein wirtschaftlichen Wettbewerbsaspekten zu betrachten, kann uns natürlich nicht kalt lassen. Zwar steht für uns das wirtschaftliche Handeln der Einrichtungen und der ambulanten Anbieter mit im Vordergrund - ja -, im Mittelpunkt muss jedoch die bestmögliche Versorgung der Pflegebedürftigen nach strukturierten Abläufen stehen.
Im Gesetzgebungsprozess wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass es in der Praxis Probleme bei der Abgrenzung der häuslichen Betreuungsleistungen des SGB IX zu den Leistungen der Eingliederungshilfe nach SGB XII geben könnte. Die Leistungen sind jetzt in § 124 SGB XI als Übergangsregelung definiert. Wir wollen uns seitens der Politik gemäß dem Prinzip der Selbstverwaltung und der fachlichen Bewertung durch die zuständigen Gremien nicht in jedes Detail einmischen. Deshalb bleibt es die Aufgabe des Expertenbeirats, eine fundierte inhaltliche Definition von „Leistung“ vorzulegen.
Es ist wünschenswert, dass auch Maßnahmen zur Rehabilitation sowie gute Pflege den Gesundheitszustand des Pflegebedürftigen verbessern. Moderne Medizin, eine gute Heil- und Hilfsmittelversorgung, die Kunst der Logopäden, der eigene Wille des Patienten bewirken immer wieder Wunder. Das können Sie ja nicht abstreiten. Nicht zuletzt ist deshalb in § 18 Abs. 6 SGB XI die gesonderte Rehabilitationsempfehlung für medizinische Reha durch den MDK oder beauftragte Gutachter dezidiert festgeschrieben.
Der MDK gibt zwar schon heute Empfehlungen zur Reha nach dem Checklistenmodell; besonders wichtig ist uns aber die Akzeptanz der Entscheidung. Deshalb muss der behandelnde Arzt frühzeitig einbezogen werden; auch hierfür haben wir eine konkrete Regelung in das Gesetz geschrieben.
Qualitätssicherung und Beschwerdemanagement gibt es jetzt bereits, aber das muss man verbessern. Auch ich bin nicht glücklich darüber, dass zehn Seiten lange Formulare ausgefüllt werden müssen und ein MDK-Mitarbeiter zur Prüfung eines Antrags drei Stunden benötigt. Hier wünsche ich mir intelligentere Lösungen. Diese werden aber nicht aus der Politik kommen; denn das Formular verdanken wir dem G-BA.
Ich möchte Ihnen noch drei Punkte nennen, bei denen wir ganz konkret Verbesserungen vornehmen; denn Sie behaupten immer: Das Gesetz enthält keine Verbesserungen. - Das Leben ist konkret; die Pflege ist konkret. Daher die folgenden Beispiele:
Erstens. Wir beschließen heute eine Ausweitung der im Versorgungsstrukturgesetz eingeführten zusätzlichen Leistungen für Personen mit dauerhaft erheblich eingeschränkten Alltagskompetenzen. Das betrifft beispielsweise Menschen, die eine Zahnarztpraxis nicht mehr oder nur mit hohem Aufwand aufsuchen können. Eine Hausbesuchstätigkeit von Vertragszahnärzten wird im Grunde genommen zusätzlich vergütet. Voraussetzung dafür ist eine Vereinbarung. Die Länder können Zuschläge vereinbaren.
Zweitens. Es ist schwer nachvollziehbar, dass an Tagen, an denen die Pflege der behinderten Menschen in der Familie erfolgt, das Pflegegeld nur gekürzt gewährt wird; das ist die heutige Praxis. Noch schwieriger ist nachzuvollziehen, warum in einem Ferienmonat, in dem ein behinderter Mensch zu Hause bei seiner Familie voll gepflegt wird, nicht das volle Pflegegeld gezahlt wird, obwohl die Familie während des gesamten Monats nicht durch ambulante Pflegeleistungen oder stationäre Pflege entlastet wird. Das ändern wir jetzt. Ab Januar nächsten Jahres erhalten Pflegebedürftige anteilig für die Tage der Hilfe das ungekürzte Pflegegeld. Sie können daher nicht behaupten, wir würden nichts tun. Wir tun ganz konkret etwas für Pflegefälle vor Ort.
Drittens. Wir reagieren auf die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung, die zu Hause gepflegt werden. Bisher hatten sie bis zum 18. Lebensjahr Anspruch auf Kurzzeitpflege. Der Gesetzentwurf sieht die Möglichkeit vor, die Kurzzeitpflege bis zum 25. Lebensjahr in Anspruch zu nehmen. Damit reagieren wir auf die besonderen Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen, die eine intensive, altersgerechte Pflege brauchen. Unserem Familiengedanken entsprechend haben wir vorgesehen, dass Angehörige eine Entlastung erfahren, indem sie im Falle von Krankheit oder im Urlaub für vier Wochen im Jahr eine vollstationäre Ersatzpflege in Anspruch nehmen können.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Frau Michalk, bitte.
Maria Michalk (CDU/CSU):
Ich bitte Sie herzlich, unserem Gesetzentwurf zuzustimmen, weil er ganz konkrete Verbesserungen für die pflegebedürftigen Menschen enthält.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich nun dem Kollegen Lothar Riebsamen von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Lothar Riebsamen (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei aller Polemik, die vonseiten der Opposition immer wieder zum Ausdruck kam, kann man feststellen, dass zumindest darüber Einigkeit besteht, dass angesichts der 2,4 Millionen pflegebedürftigen Menschen, Tendenz deutlich steigend, das Thema Pflege noch mehr als bisher in den Mittelpunkt der politischen Debatte gerückt werden muss. Über die Fraktionsgrenzen hinweg kam auch zum Ausdruck - so habe ich das wahrgenommen -, dass die Bereiche ambulante Betreuung und häusliche Pflege allen wichtig sind.
Die Opposition kritisiert bei jedem Punkt: Das ist zu wenig, das geht zu langsam. Das werte ich als Zeichen dafür, dass die von uns eingeschlagene Richtung grundsätzlich stimmt.
Ich darf in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass es eine christlich-liberale Regierung war, die 1995 - ich stand damals in kommunalpolitischer Verantwortung - die Pflegeversicherung eingeführt hat, die dafür gesorgt hat, dass Menschen, die ins Pflegeheim gekommen sind, eben nicht mehr zu Taschengeldempfängern degradiert wurden, dass die Kommunen in die Lage versetzt wurden, ihre Haushalte wieder auszugleichen, was sie vor der Einführung der Pflegeversicherung nicht konnten, weil sie überlastet waren. Wir haben die Pflegeversicherung damals verlässlich eingeführt, und wir werden sie heute verlässlich fortschreiben, und zwar generationengerecht.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf rücken wir zwei Themenfelder in den Mittelpunkt - das kam schon mehrfach zum Ausdruck -: Demenz - jeder dritte Mensch, der heute stirbt, leidet an Demenz - und pflegende Angehörige. Das Gesetz ist ein Vorgriff auf einen neuen Pflegebegriff; denn wir wissen sehr wohl, dass ein neuer Pflegebegriff notwendig ist. Wir haben uns die beiden Themen vorgenommen, weil sie uns auf den Nägeln brennen. Daher ist unser Vorgehen schlicht und ergreifend vernünftig.
Wir stellen den ambulanten Bereich nicht etwa deshalb in den Vordergrund, um Geld zu sparen. Wir geben mehr Geld im ambulanten Bereich aus. In der Pflegestufe I ist eine Erhöhung des Pflegesatzes von über 30 Prozent vorgesehen, bei den Sachleistungen sind es 50 Prozent. Bei anderen Leistungserbringern, beispielsweise Krankenhäusern, reden wir von Grundlohnsummen, von 1,5, 2 oder 3 Prozent; hier reden wir von 50 Prozent. Bei aller Kritik bitte ich Sie, das nicht zu vergessen.
Die Situation der pflegenden Angehörigen wird mit diesem Gesetz ebenfalls deutlich verbessert. Den pflegenden Angehörigen wird die Möglichkeit eröffnet, sich um ihre eigene Gesundheit zu kümmern. Sie können beispielsweise eine Reha machen und ihre zu pflegenden Angehörigen mitnehmen. Es wird dafür gesorgt, dass die Rentenleistungen derjenigen, die über einen längeren Zeitraum pflegen, verbessert werden. Mit Blick auf das Thema Demenz haben wir außerdem eine neue Pflegestufe eingeführt, die sogenannte Pflegestufe 0. Leicht an Demenz erkrankte Menschen erhalten pro Monat 125 Euro. Auch das ist ein großer Fortschritt.
Letztlich geht es darum, alten und pflegebedürftigen Menschen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. In den eigenen vier Wänden zu leben, solange dies möglich ist, ist sicher der größte Wunsch der meisten von uns, wahrscheinlich von uns allen. Deswegen sind für mich die neuen Wohnformen im Alter, die wir weiterentwickeln, das Wichtigste an diesem Gesetz. 10 Millionen Euro werden für die wissenschaftliche Begleitung des Themas „neue Wohnformen im Alter“ bereitgestellt. Wir müssen in diesem Bereich forschen, um weiterzukommen. Es wird aber auch ganz konkrete Hilfen für Investitionen geben, und für das Wohnen in betreuten Wohnformen wird es eine Pauschale in Höhe von 200 Euro pro Monat geben.
Im Alter selbstbestimmt zu leben, bedeutet für mich auch, unabhängig festlegen zu können, wie ich meinen Tagesablauf gestalte und welche Hilfen ich in Anspruch nehme. Ich kann die Hilfen, die ich brauche, einkaufen und meinen Tagesablauf selbst bestimmen. Das ist nicht zwangsläufig billiger, als im Pflegeheim zu leben; das weiß ich sehr wohl. Ich kann aber selbst bestimmen, ob ich mit festangestellten Mitarbeitern in der Wohngruppe, mit Freiwilligen oder mit Kooperationen, mit größeren Trägern arbeite. Dies ist den Menschen freigestellt.
Dies wird auch dazu führen, dass neue Trägersysteme und ganz neue Organisationsformen entstehen. Ich bin selber an einer beteiligt. Wir sind gespannt, wie die neuen Wohnformen im Alter aussehen werden. Wir hoffen, dass uns keine gesetzlichen Fesseln angelegt werden, insbesondere was Präsenzkraft und Tagesablauf anbelangt. Diesbezüglich ist dieses Gesetz ein großer Fortschritt. Es gibt viele, die darauf warten.
Wir leben in einer Gesellschaft des längeren Lebens. Darum - ich habe es betont - wird die Anzahl der pflegebedürftigen Menschen zunehmen. Mit diesem Gesetz gehen wir einen deutlichen Schritt in die richtige Richtung, wohl wissend, dass das nicht der letzte Schritt war, sondern weitere Schritte folgen werden. Diese Schritte werden wir, nachdem wir den Pflegebedürftigkeitsbegriff sauber ausgearbeitet haben, auch gehen.
Herzlichen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Ich schließe die Aussprache.
Tagesordnungspunkt 44 a. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/9977 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 44 b. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Neuausrichtung der Pflegeversicherung. Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksachen 17/10157 und 17/10170, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 17/9369 und 17/9669 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
und Schlussabstimmung. Wir stimmen namentlich ab. Sind die Schriftführerinnen und Schriftführer überall an ihren Plätzen? - Dann eröffne ich die Abstimmung.
Ist noch ein Mitglied anwesend, das seine Stimmkarte nicht eingeworfen hat? - Offenkundig haben alle Mitglieder ihre Stimmkarten eingeworfen.
Ich schließe die Abstimmung und bitte, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung wird Ihnen später bekanntgegeben.
Wir setzen die Abstimmungen zu der Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10157 fort.
Ich bitte zunächst die Kollegen, wieder Platz zu nehmen, damit ich alles überblicken kann.
Tagesordnungspunkt 44 c. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/9393 mit dem Titel „Pflege tatsächlich neu ausrichten - Ein Leben in Würde ermöglichen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Linken und Enthaltung der Grünen.
Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9566 mit dem Titel „Für eine grundlegende Reform der Pflegeversicherung - Nutzerorientiert, solidarisch, zukunftsfest“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Grünen und Enthaltung von SPD und Linken.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/2924 mit dem Titel „Versorgungslücke nach Krankenhausaufenthalt und ambulanter medizinischer Behandlung schließen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Linken und der Grünen und Enthaltung der SPD-Fraktion.
Tagesordnungspunkt 44 d. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Leistungen bei Schwangerschaft und Geburt aus der Reichsversicherungsordnung in das Fünfte Buch Sozialgesetzbuch überführen und zeitgemäß ausgestalten“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9376, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5098 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Linken und Grünen und bei Enthaltung der SPD-Fraktion.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 45 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Flexibilisierung von haushaltsrechtlichen Rahmenbedingungen außeruniversitärer Wissenschaftseinrichtungen (Wissenschaftsfreiheitsgesetz - WissFG)
- Drucksachen 17/10037, 17/10123 -
Ãœberweisungsvorschlag:
A. f. Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f)
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Bundesministerin Dr. Annette Schavan das Wort.
Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bildung und Forschung:
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat Anfang Mai dieses Jahres den Entwurf des Wissenschaftsfreiheitsgesetzes verabschiedet, den wir heute in erster Lesung beraten werden. Sein Vorläufer waren untergesetzliche Regelungen, die wir in der Zeit der Großen Koalition verabredet haben und die sich - so hat die Evaluation gezeigt - bewährt haben. Deshalb gehen wir nun den nächsten Schritt: Wir treffen gesetzliche Regelungen. Damit setzen wir im Hinblick auf die neuen Regelungen ein Zeichen der Verlässlichkeit und Dauerhaftigkeit.
Diese Maßnahme ist für die großen Forschungsorganisationen wichtig. Sie ist in Wirklichkeit auch ein Teil der Internationalisierungsstrategie, weil die Bedingungen, die wir schaffen, die internationale Wettbewerbsfähigkeit unserer Forschungsorganisationen stärken werden. Diese Maßnahme trägt außerdem dazu bei, die Attraktivität unseres Wissenschaftssystems zu stärken. Diesem Zweck dienen auch andere Maßnahmen wie der Hochschulpakt, die Exzellenzinitiative und der Pakt für Forschung und Innovation; hier ist ein stetiger Zuwachs zu verzeichnen. Mit all dem verfolgen wir das Ziel, für Studierende und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gute Bedingungen in Deutschland zu schaffen.
Meine Damen und Herren, es zeigt sich, dass diese Maßnahmen wirken. Gute Bedingungen am Standort Deutschland machen ihn international attraktiv. Deutlich wird dies zum Beispiel an der Tatsache, dass bei den Wissenschaftsorganisationen wie der Max-Planck-Gesellschaft mittlerweile ein Drittel der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und fast die Hälfte der Doktoranden aus dem Ausland kommen; das ist ein gutes Zeichen. Erst gestern waren ja in manchen Zeitungen Berichte zu lesen, in denen es hieß, dass die Internationalisierung auch an den Hochschulen zunehmen muss.
In Deutschland ergreift mittlerweile die Hälfte eines Jahrgangs ein Studium. Noch vor wenigen Jahren haben wir uns zum Ziel gesetzt, einen Anteil von 40 Prozent zu erreichen; wir sind mittlerweile weit darüber hinaus.
Hinzu kommt: Diese Bundesregierung hat 2009, mitten in der Wirtschaftskrise, gesagt: Wir investieren weiter in Bildung und Forschung, und zwar mehr als je zuvor. Das ist der richtige Zeitpunkt. - Vor diesem Hintergrund, meine Damen und Herren, wundert es mich, dass die SPD angesichts der Verabschiedung des Haushaltsentwurfs für das Jahr 2013 in diesen Tagen mit der Behauptung durchs Land zieht, der BAföG-Etat werde um 250 Millionen Euro gekürzt. Was Sie reden, reden Sie wider besseres Wissen.
Außerdem reden Sie damit schlecht, woran Sie selbst in der Zeit der Großen Koalition mitgewirkt haben. Von 2005 bis zum Jahre 2013 werden die Ausgaben für das BAföG um 43 Prozent gestiegen sein.
Die Zahlen für 2013 sind natürlich auch eine Konsequenz aus der Bevölkerungsentwicklung. Die Schülerzahlen sind im letzten Jahr zurückgegangen.
Erstmals ist die Zahl der Schulabsolventen gesunken; also verringern sich die Ausgaben für das Schüler-BAföG. Im Übrigen wissen Sie, dass es aufgrund eines Urteils des Bundesverwaltungsgerichts im Blick auf behinderte Studierende unvorhersehbare Mehrausgaben gab, deren tatsächliche Größenordnung sich erst nach ersten Erfahrungen mit den Erstattungsforderungen der beteiligten Leistungsträger untereinander belastbarer konkretisieren ließ.
Sie wissen, dass das eine gesetzliche Leistung ist. Es geht überhaupt nicht darum, was sich wer vornimmt, sondern „gesetzliche Leistung“ heißt: Es wird gezahlt.
Es wird auch weiterhin mehr investiert, weil wir davon überzeugt sind, dass das ein wichtiger Punkt für die Studierenden in unserem Land ist.
Meine Damen und Herren, mit dem Wissenschaftsfreiheitsgesetz wollen wir die Rahmenbedingungen so ändern, dass das deutsche Wissenschaftssystem - das ist eines der wichtigsten Ziele dieser Bundesregierung - international immer stärker wird. Vier Handlungsfelder gehören dazu:
Erstens. Unsere Forschungsorganisationen sollen Globalhaushalte für ihre Personal-, Sach- und Investitionsmittel führen können. So steht es im Gesetzentwurf. Das bedeutet konkret, dass wir die vollständige Überjährigkeit und Deckungsfähigkeit der Mittel ermöglichen. Noch vorhandene Stellenpläne werden entfallen.
Zweitens. Die Einrichtungen sollen verstärkt Drittmittel aus nichtöffentlichen Quellen einsetzen dürfen, um Spitzenforscher zu gewinnen. Das ist ein besonders wichtiges Anliegen im internationalen Wettbewerb um die Besten. Gleichzeitig werden wir die Bedingungen dafür durch flankierende untergesetzliche Maßnahmen - entsprechend den Gegebenheiten - auf dem internationalen Wissenschaftsmarkt flexibilisieren.
Drittens. Der Brückenschlag zwischen Wissenschaft und Wirtschaft macht marktfähige Innovationen erst möglich. Deshalb ist es wichtig, gute Bedingungen für Ausgründungen zu schaffen. Forschungseinrichtungen müssen ohne umständliche Genehmigungsverfahren Beteiligungen an Unternehmen im In- und Ausland eingehen können. Durch klar geregelte Fristen wird das Genehmigungsverfahren beschleunigt.
Viertens. Der Bau von wichtigen Infrastrukturen in hochspezialisierten Bereichen darf nicht durch langwierige Verfahren verzögert werden. Wir konnten erreichen, dass die Wissenschaftseinrichtungen dann, wenn im Blick auf Baumaßnahmen der erforderliche Sachverstand - wir haben hier in den vergangenen Jahren schon gute Erfahrungen mit dem Max-Planck-Institut gemacht - und ein adäquates Controlling vorhanden sind, ihre Vorhaben künftig eigenständiger voranbringen können.
Dieses Ergebnis ist auch das Ergebnis des Ringens zwischen den Wissenschaftspolitikern einerseits und den Finanz- und Haushaltspolitikern andererseits gewesen; denn in dieser Diskussion ist natürlich immer wieder auch die Frage gestellt worden: Wie wird das Parlament kontrollieren und wie sieht wissenschaftsadäquates Controlling aus, wenn diese Freiheiten gegeben werden?
Mehr Freiheit heißt nicht weniger Verantwortung. Die Verantwortung vor Ort wird steigen. Mehr Flexibilität und mehr Autonomie werden mit einer Weiterentwicklung des wissenschaftsadäquaten Controllings einhergehen. Eine gesteigerte Eigenverantwortung gehört zu unserem Verständnis von einer international wettbewerbsfähigen Wissenschaftsgesellschaft.
Meine Damen und Herren, ich bin davon überzeugt, dass das Wissenschaftsfreiheitsgesetz positive Impulse für das gesamte Wissenschaftssystem entfalten wird. Es gibt hier zwei große Bereiche, die uns am Herzen liegen:
Erstens sind die Ressortforschungseinrichtungen zu nennen. Das Kabinett hat mit diesem Gesetzentwurf zugleich Flexibilisierungen für Forschungseinrichtungen auf den Weg gebracht, und zwar dort - das ist die Besonderheit der Ressortforschung -, wo es um Forschung geht. Wir wissen, dass es auch Ressortforschungseinrichtungen gibt, die sich noch stärker als nachgeordnete Behörde empfinden. Ich bin davon überzeugt - die ersten Schritte sind jetzt getan -, dass es eine gute Möglichkeit der Profilbildung von Ressortforschungseinrichtungen gibt, damit sie den Schwerpunkt wirklich auf die Forschung setzen und an den neuen Regelungen partizipieren können.
Zweitens appelliere ich an die Länder, die positiven Erfahrungen, die wir mit den untergesetzlichen Regelungen schon gemacht haben, für die Hochschulen zu übernehmen. Es gibt erste positive Signale. Ich sage aber noch einmal sehr deutlich: Auch die Länder sollten keine Angst haben vor mehr Selbstständigkeit, mehr Eigenverantwortung ihrer Hochschulen.
Das wird die Voraussetzung dafür sein, dass das, was öffentlich zu Recht gefordert wird, tatsächlich möglich wird, nämlich dass sich in den nächsten Jahren die Internationalisierung in den Hochschulen in Deutschland positiv entwickelt.
Meine Damen und Herren, ich danke herzlich allen - quer durch alle Parteien -, die sich eingesetzt haben. Ganz besonders danke ich den Regierungsfraktionen dafür, dass wir diesen Gesetzentwurf jetzt so beraten können.
Wenn ich von Stärkung der Hochschulen spreche und an die Länder appelliere, dann füge ich gleich hinzu: Das Nächste, womit wir uns beschäftigen werden und was für mich in das Maßnahmenpaket dieser Legislaturperiode gehört, ist, zu ermöglichen, dass der Bund in Zukunft und dauerhaft Einrichtungen in den Hochschulen fördern kann. Das ist eine zentrale Voraussetzung, ein Schlüssel für internationale Attraktivität. Deshalb werde ich jede Gelegenheit nutzen, zu appellieren, dass uns das in dieser Legislaturperiode gelingt, weil es in vielen Regionen Deutschlands einen großen Schub auslösen wird.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, gebe ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung zum Entwurf eines Gesetzes zur Neuausrichtung der Pflegeversicherung bekannt: abgegebene Stimmen 591. Mit Ja haben gestimmt 324, mit Nein haben gestimmt 267, Enthaltungen keine. Der Gesetzentwurf ist damit angenommen.
Als nächster Redner hat jetzt der Kollege Klaus Hagemann von der SPD-Fraktion das Wort.
Klaus Hagemann (SPD):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Um es vorweg zu sagen: Die SPD-Fraktion ist für Wissenschaftsfreiheit und ein gut gemachtes Wissenschaftsfreiheitsgesetz.
Die Frau Ministerin hat bereits darauf hingewiesen: In der 16. Wahlperiode hat die Große Koalition die untergesetzliche Wissenschaftsfreiheitsinitiative durchgesetzt, die positiv angenommen wurde und sich positiv ausgewirkt hat. Ich war damals recht froh, dass der damalige Bundesfinanzminister Peer Steinbrück uns mit unterstützt hat. Etwas Widerstand gab es in dieser Zeit vom damaligen CDU-Haushaltssprecher Steffen Kampeter.
Das möchte ich in Erinnerung rufen.
Die Wissenschaftsorganisationen haben schlüssig nachgewiesen, dass es sinnvoll ist, Wissenschaftsfreiheit zu gewähren. Sie haben dargelegt, dass sie verlässliche Rahmenbedingungen brauchen und über die Jährlichkeit der Haushalte hinaus über Mittel verfügen können müssen und dass das entsprechend berücksichtigt werden muss, dass sie mehr Flexibilität in ihrer Arbeit brauchen, insbesondere im Baubereich - das wurde bereits dargelegt -, nämlich für langfristige Baumaßnahmen, für große Baumaßnahmen, aber auch im Personalbereich.
Diese Initiative war zunächst auf zwei Jahre begrenzt. Sie hat sich bewährt. Aufgrund eines Antrags meiner Fraktion, Kollege Rehberg, haben wir gemeinsam die Verlängerung dieser Initiative beschlossen, weil aus der Bundesregierung keine Gesetzesinitiative gekommen war. Es wurde auch eine Anhörung mit den Wissenschaftsorganisationen und einigen Ressortforschungseinrichtungen durchgeführt, die belegt hat, wie notwendig diese Initiative ist. Das war einvernehmlich, und es war gut, dass wir das gemeinsam entwickelt haben.
Jetzt endlich, auf den letzten Metern der Legislaturperiode - ein Jahr noch; drei Jahre sind schon herum -, kommen Sie mit diesem Gesetzentwurf. Aber es ist ein Gesetzentwurf in Lightform, und es besteht Nachbesserungsbedarf. Im Zuge der Beratungen in den Ausschüssen können wir diesen Entwurf sicherlich noch nachbessern. Beispielsweise listen Sie willkürlich einige Wissenschaftsorganisationen auf. Warum nehmen Sie nicht alle aus der Allianz hinzu und bringen sie mit in diesen Gesetzentwurf hinein? Warum werden hier einige Mitglieder der Forschungsallianz herausgenommen? Sie erwähnen die Ressortforschungseinrichtungen überhaupt nicht. Ich möchte beispielsweise die Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung oder die Physikalisch-Technische Bundesanstalt nennen, die hier eigentlich mit hineingehört.
Zu einem anderen Thema. Frau Ministerin, Sie sprechen in § 3 Ihres Gesetzentwurfs von einem „Globalhaushalt“, aber vergessen, die Bundeshaushaltsordnung zu erwähnen und sie an diese Regelung anzupassen. Hier herrscht unserer Ansicht nach Beratungsbedarf. Wir müssen dafür sorgen, dass das mit der Bundeshaushaltsordnung übereinstimmt.
Frau Ministerin, Sie wollen die Länder bei diesem Gesetz nicht über den Bundesrat beteiligen, obwohl mehrere der aufgeführten Forschungseinrichtungen zum Teil bis zur Hälfte durch die Länder finanziert werden. Ich nenne beispielsweise die Leibniz-Gemeinschaft, lieber Kollege Kretschmer, in deren Senat wir beide sind.
Warum findet der Länderanteil hier keine Berücksichtigung? Ich verweise auch auf die Max-Planck-Gesellschaft. Auch hier ist meiner Ansicht nach eine Mitwirkungspflicht durch die Länder gegeben. Das hat der Bundesrat in seiner Stellungnahme deutlich herausgestellt. Kollege Kretschmer, auf Ihrer Homepage habe ich gelesen, dass Sie der Meinung sind, dass sich die Länder hier verstärkt einbringen können müssen und auch über den Bundesrat mitwirken müssen.
Lassen Sie mich einen weiteren Kritikpunkt ansprechen. Nach dem Gesetzentwurf soll das Bildungs- und Forschungsministerium im Einvernehmen mit dem Bundesfinanzministerium, also allein die Exekutive, Informations- und Steuerungsinstrumente festlegen. Warum die Exekutive allein?, frage ich. Warum ist hier nicht das Parlament gefragt?
Wir sollten darüber nachdenken, ob hier nicht auch das Parlament, wir als Gesetzgeber, mit beraten und mit entscheiden sollte. Wir wissen, wie oft uns in anderen Themenbereichen das Bundesverfassungsgericht deutlich gemacht hat, dass das Parlament zu beteiligen ist. Wohin es führt, wenn das nicht geschieht, wenn ein Ministerium also alleine Informations- und Steuerungsinstrumente festlegt, kann man beim Thema Nachwuchsförderung bei den Forschungseinrichtungen feststellen.
Nebenbei bemerkt: Eines der wichtigsten Ziele beim Pakt für Forschung und Innovation, der von Frau Bulmahn, der damaligen SPD-Bildungs- und Forschungsministerin, initiiert worden ist, ist die Nachwuchsförderung. Seit wir den Pakt haben, stehen den Forschungseinrichtungen fast 4 Milliarden Euro zusätzlich zur Verfügung, und das ist auch gut so. Zunächst wurde eine Erhöhung um 3 Prozent vorgenommen, und jetzt ist es zu einer Steigerung von 5 Prozent in jedem Jahr gekommen.
Vorige Woche habe ich die Bundesregierung gefragt, wie es mit der Nachwuchsförderung aussieht, wie viel Geld von den 4 Milliarden Euro in die Nachwuchsförderung geflossen ist und wie viele Nachwuchswissenschaftler ausgebildet worden sind. Die Antwort des Bundesbildungs- und Forschungsministeriums lautete: Das wissen wir nicht. - Daher stellt sich schon die Frage, ob die von mir bereits angesprochene Steuerung sinnvoll ist. Ich spreche hier nicht von der Detailsteuerung; das sollen die Organisationen nach unseren Vorstellungen selbst vornehmen. Aber man muss doch die große Richtung vorgeben und ein Teilziel dieses Paktes berücksichtigen.
Man gewinnt manchmal schon den Eindruck, dass die Presse mehr weiß als die Bundesregierung. Ich will einige Schlagworte zitieren, die wir in den letzten Tagen lesen konnten. Beispielsweise schreibt die taz von „Billigforscher“ oder „prekären Arbeitsverhältnisse“ bei einer Forschungseinrichtung. Das sind nicht meine Worte; sie stammen aus der Presse. Ich will aber nicht nur die taz zitieren, sondern auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Ihnen wesentlich näher steht. Da ist von „Schwarzarbeit“ in einer Forschungseinrichtung die Rede. Auch das ist ein Zitat aus der Presse. Ich zitiere weiter:
Man könnte auch vom Niedriglohnsektor in der Spitzenforschung sprechen.
Das sind Punkte, auf die wir als Parlament achten müssen.
Wir müssen darauf hinwirken, dass solche Rückschlüsse nicht gezogen werden können. Denn wie passt das zusammen? Wie können bei 4 Milliarden Euro zusätzlich Stichworte wie Billigforscher oder Niedrigsektor fallen? Nein, Spitzenförderung und Nachwuchsförderung sind zwei Seiten derselben Medaille. Hier besteht Handlungsbedarf. Das muss auch im Gesetzentwurf festgelegt werden.
Lassen Sie mich noch den Aspekt der Bezahlung ansprechen. Für uns, die SPD, gilt: Spitzenwissenschaftler müssen Spitzenentlohnung erhalten. Das ist selbstverständlich, um den Forschungsstandort Deutschland zu sichern.
Darin sind wir uns einig. Wir haben in der Zeit der Großen Koalition beispielsweise die Humboldt-Professur gemeinsam auf den Weg gebracht, und das ist gut so.
Das gilt aber genauso für Personal bei technischen Großgeräten. Auch hier muss eine leistungs- und verantwortungsgerechte Bezahlung erfolgen; das ist in Ordnung. Aber dass Nachwuchswissenschaftler, beispielsweise Doktoranden, ohne Sozialversicherung und im Niedriglohnsektor arbeiten - das sind nicht meine Worte, sondern davon war in der Presse die Rede -, geht nicht an. Da müssen wir den Finger in die Wunde legen.
Die Betroffenen, die Doktoranden und Stipendiaten, sind an die Öffentlichkeit gegangen. Sie haben die Medien eingeschaltet und sogar eine Petition an den Deutschen Bundestag gerichtet. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft hat hier Hinweise gegeben, die wir beachten sollten, nämlich dass die Einhaltung von Tarifverträgen auch bei den Forschungseinrichtungen wichtig ist und dass, wenn dieses Gesetz in Kraft getreten ist, die Forschungseinrichtungen aus tarifrechtlichen Gründen als Arbeitgeber in die Arbeitgeberverbände eintreten sollten.
Der Bundesrechnungshof hat sich zu den Sonderzahlungen für Wissenschaftler, die im Jahr 2011 geleistet worden sind, geäußert. Er hat sich nicht grundsätzlich gegen zusätzliche Leistungen ausgesprochen. Ich finde, dass der Rechnungsprüfungsausschuss am 2. März in dieser Frage einen sehr klugen und weisen Beschluss gefasst hat. Herr Kollege Rehberg, ich glaube, Sie gehören dem Rechnungsprüfungsausschuss auch an. Er hat das Bundesbildungs- und Forschungsministerium aufgefordert, dafür zu sorgen, dass die Forschungseinrichtungen die zusätzlichen Leistungen zielgenau einsetzen, dies sachgerecht begründen und auch ausreichend dokumentieren sollen. Das war ein weiser Beschluss.
Auch der Vorsitzende des Rechnungsprüfungsausschusses, Kollege Luther, wurde für seine Leitung der Ausschusssitzungen sehr gelobt. Auch er hat letzten Mittwoch im Haushaltsausschuss deutlich gemacht, dass da, wo öffentliche Gelder fließen, der Rechnungshof kontrollieren und prüfen muss.
Das ist eine wichtige Voraussetzung, die wir beachten müssen. Die Grundsätze der Bezahlung müssen durch das Parlament festgelegt werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluss kommen. Nach einer fast fünfjährigen Probephase der Wissenschaftsfreiheit ist es an der Zeit, dass die gesetzliche Regelung kommt. Der vorliegende Gesetzentwurf ist unserer Ansicht nach nicht ausreichend. Hier muss noch etwas Fleisch an das Skelett.
Aber es gibt im Parlament das sogenannte Struck’sche Gesetz, das besagt, dass kein Gesetz den Bundestag so verlässt, wie es hineingekommen ist. Ich bin überzeugt, dass noch Verbesserungen durchzusetzen sind. Wir bieten dafür unsere Zusammenarbeit an. Ich hoffe, dass die Initiative so, wie wir sie während der Großen Koalition begonnen haben, erfolgreich gesetzlich geregelt werden kann.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Martin Neumann für die FDP-Fraktion.
Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beginnen heute mit der Debatte eines für die Wissenschaft sehr wichtigen Gesetzentwurfs. Ich möchte zu Beginn meiner Ausführungen etwas zu den Argumenten der Opposition sagen. Sie haben in zahlreichen Pressemeldungen verschiedene Begriffe in die Welt gesetzt. Sie haben zum Beispiel geschrieben, dass dem Gesetzentwurf die Substanz fehlt, und ihn als Symbolpolitik abgetan. Wenn Sie Gespräche mit Wissenschaftseinrichtungen führen, werden Sie bemerken, wie falsch Ihre Bewertung an dieser Stelle ist.
Der Wissenschaftsrat, die Hochschulrektorenkonferenz und auch die außeruniversitären Forschungseinrichtungen stimmen diesem Wissenschaftsfreiheitsgesetz zu. Warum? Weil wir es brauchen. Ich glaube, wir setzen ein Signal für die deutsche Wissenschaft, wenn wir diesen Gesetzentwurf zeitnah auf den Weg bringen. Auch die Hochschulrektorenkonferenz stimmt diesem Gesetzentwurf zu, obwohl die Hochschulen nicht davon berührt sind.
Das Gesetz wird positiv aufgenommen. Die darin enthaltenen Regelungen und Flexibilisierungen werden seit langem erwartet. Deshalb ist es für mich unverständlich, lieber Kollege Röspel - ich wünsche Ihnen bei dieser Gelegenheit gute Besserung -, dass Sie dieses Gesetz in Ihrer Pressemeldung so abwerten. Ein Grund dafür könnte - das habe ich mir sagen lassen - Folgendes sein: In der Großen Koalition ist der Versuch gescheitert, ein derartiges Wissenschaftsfreiheitsgesetz auf den Weg zu bringen. Es ist Ihnen einfach nicht gelungen. Nach dem, was ich gelesen habe, lag das nicht an Frau Bundesministerin Schavan. Vielmehr hat sich Ihr damaliger Finanzminister Peer Steinbrück verweigert.
Sie haben also nicht die Kraft gehabt, ein solches Gesetz vollständig umzusetzen.
Des Weiteren werfen Sie uns Mutlosigkeit vor. Dabei haben wir lediglich darauf hingewiesen, dass das Gesetz in die Realität überführt werden muss. Sie bemängeln, dass die Ressortforschungseinrichtungen nicht berücksichtigt werden. Sie wissen aber ganz genau, dass Ressortforschungseinrichtungen eigentlich Chimären sind. Die Bandbreite bei den Ressortforschungseinrichtungen reicht von 3 Prozent bis zu 80 Prozent Forschungsleistung. Wir müssen es an dieser Stelle dem jeweiligen Bundesministerium überlassen, nach sachlichen Kriterien zu entscheiden, welche Ressortforschungseinrichtungen von diesem Gesetz profitieren sollen.
Frau Sager, das hat nichts mit Gutdünken zu tun, wie es in zahlreichen Pressemeldungen heißt. Es geht um sachorientierte Entscheidungen. Wir wissen um die schwierige Situation der Ressortforschungseinrichtungen.
Mit dem Wissenschaftsfreiheitsgesetz bringt die christlich-liberale Koalition ein zentrales Projekt des Koalitionsvertrags auf den Weg. Wir legen einen Gesetzentwurf vor, der tatsächlich für eine wissenschaftsgeleitete Selbstverwaltung der Wissenschaft steht. Wie bereits angesprochen, fokussieren wir dieses Gesetz auf die Bereiche Haushalt, Personal - dabei geht es auch um die Bezahlung und das Besserstellungsgebot -, Bauverfahren und Beteiligung. Aufgrund meiner eigenen langjährigen wissenschaftlichen Tätigkeit weiß ich, wie schwierig es ist, Forschung unter den Rahmenbedingungen einer kameralistischen Haushaltsführung zu betreiben. Wir alle kennen den Begriff „Dezemberfieber“. Am Ende eines jeden Jahres ist die Kuriosität zu beobachten, dass das Geld einfach ausgegeben wird. Man möchte es nicht zurückgeben, weil das dem Wissenschaftssystem nicht helfen würde. Wir wollen Rechtssicherheit und auch, dass die Mittel, die wir im wissenschaftlichen Bereich einsetzen, sachgerecht verwendet werden. Es wird die Möglichkeit geschaffen, Geld für wichtige Vorhaben anzusparen und eigenverantwortlich Schwerpunkte zu setzen.
Unter dem Strich wird das Gesetz vor allem neue Freiheiten bringen, die die internationale Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Wissenschaftssystems stärken. Wissenschaftsrat und Hochschulrektorenkonferenz haben angeregt, dass das Wissenschaftsfreiheitsgesetz eine Art Vorbildfunktion und Signalwirkung für die Länder haben muss, um tatsächlich von einer Wissenschaftsfreiheit in dem von mir genannten Sinne sprechen zu können. Als Liberaler kann ich die Freiheitsinitiative für die Hochschulen nur begrüßen und die entsprechenden Forderungen unterstützen. Bereits im Jahr 2006 wurde in NRW unter Professor Pinkwart ein Hochschulfreiheitsgesetz in Kraft gesetzt. Diese Hochschulfreiheitsinitiative wurde von uns auf den Weg gebracht. Aktuell werden wir Liberale gemeinsam mit der CDU in Sachsen ebenfalls ein Hochschulfreiheitsgesetz beschließen. Das ist der richtige Weg. Auf diesem sollten wir fortfahren.
Kollege Hagemann, Sie haben bereits auf einige konstruktive Vorschläge verwiesen. In Fachgesprächen und in den Ausschussberatungen gibt es sicherlich noch Möglichkeiten, darüber zu debattieren. Es geht um die Zielstellung, im System tatsächlich etwas zu verändern und mehr Freiheit zu schaffen. Ich glaube, dass wir am Ende - ich lade Sie alle zu den Beratungen ein - ein konstruktives, für die Wissenschaft wichtiges Wissenschaftsfreiheitsgesetz auf den Weg bringen werden.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich erteile Kollegin Petra Sitte für die Fraktion Die Linke das Wort.
Dr. Petra Sitte (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach drei Jahren - drei Jahren! - Ankündigung legen Sie uns nun acht dünne Paragrafen vor. Das Ganze nennen Sie dann noch schicksalsträchtig „Wissenschaftsfreiheitsgesetz“. Wow! Das eigentliche Anliegen des Gesetzes aber wird sofort mit dem ausführlichen Titel „Gesetz zur Flexibilisierung von haushaltsrechtlichen Rahmenbedingungen außeruniversitärer Wissenschaftseinrichtungen“ wieder geerdet. Am Ende handelt es sich genaugenommen um nichts anderes als die Flexibilisierung von Regelungen, die in den jährlich vom Bundestag zu beschließenden Haushaltsgesetzen und in der Bundeshaushaltsordnung ohnehin zu fixieren sind und fixiert worden sind. Hinzu kommt, dass fast alle Regelungen, die das neue Gesetz enthalten soll - Frau Ministerin hat das gesagt -, bereits seit Jahren quasi auf dem Verordnungswege untergesetzlich praktiziert werden.
Tatsächlich soll durch dieses Gesetz schnöde Deregulierungspolitik mit Verfassungsrhetorik verschleiert werden. Das bedeutet konkret: Sowohl dem Parlament als auch der Regierung werden wieder einmal Gestaltungsmöglichkeiten entzogen. So stellt sich für mich unweigerlich die Frage: Sind Sie hier eigentlich zum Regieren oder zum Delegieren angetreten?
Wie kontraproduktiv dieser Deregulierungsansatz sein kann, haben wir längst in anderen Politikfeldern kennengelernt. Wir kennen es von den Finanzmärkten und den Energiemärkten sowie aus der Beschäftigungspolitik. Wir erleben aber gerade in diesen Fällen deutlich gegenläufige Tendenzen, nämlich dass man versucht, die Verantwortung wieder in die öffentliche Hand zurückzuholen.
Auch in den Forschungseinrichtungen selbst dürften die Bewertungen je nach Platz im System höchst unterschiedlich ausfallen. Dass die Leitungen der Einrichtungen die freie Hand begrüßen, ist doch wohl logisch. Wenn der Frosch gefragt wird, ob er noch Wasser im Teich haben will, wird er immer sagen: Ja, ich möchte bitte noch Wasser.
Was das aber aus Sicht der vielen Beschäftigten in der Wissenschaft bedeutet, ist in diesem Gesetz offensichtlich nicht beachtet worden. Ansonsten lassen sich nämlich die Widersprüche nicht erklären. Diesen will ich mich in meiner Rede widmen. Dazu kann ich sehr gut an die Ausführungen von Herrn Hagemann anknüpfen.
Meine Damen und Herren, das Gesetz sieht vor - ich zitiere -:
Im Bereich Haushalt wird die Einführung von Globalhaushalten angestrebt.
Daraus folgt - das ist völlig richtig -, dass Haushaltsmittel für verschiedene Zwecke eingesetzt sowie über Jahresgrenzen hinweg erhalten, angespart und entsprechend verplant werden können. Das ist so neu nicht, wird eigentlich schon seit Jahren praktiziert. Damit soll den Einrichtungen dann unter anderem mehr Autonomie eingeräumt werden.
Mehr Autonomie? Ich erinnere an die Debatten zum Thema „Autonomie“. War da nicht irgendetwas? Was da war, zeigen die gerade laufenden bundesweiten Debatten um bereits deregulierte Hochschulen. Dort ist Autonomie eingeräumt worden, allerdings nicht mit einem Mehr an Demokratie. Das hat zu intransparenten, einseitigen und ungerechten Entscheidungen über die hochschulinterne Ressourcenverteilung geführt. Hat sich in diesem Zusammenhang nicht auch gezeigt, dass es damit zur Beschneidung von Wissenschafts- und Lehrfreiheit kam und dass sich umgekehrt auch die Situation von Lehrenden und Studierenden verschlechtert hat? Personalvertretungen kritisieren allenthalben, dass es ihnen immer schwerer fällt, ihre Interessen zu vertreten. Studierende, aber auch der wissenschaftliche Nachwuchs haben so gut wie keine Stimme in den gewählten Gremien. Wir Linke sagen: Ja, mehr Autonomie ist in Ordnung, wenn Wissenschaft am Ende auch demokratischer gestaltet wird.
Wie wichtig das wird, zeigt ein weiterer Flexibilisierungsvorschlag des Gesetzes; denn es soll zukünftig auf die Ausweisung von Stellenplänen ganz verzichtet werden können. Das wichtigste Fazit aus unseren Ausschussanhörungen zur Nachwuchsentwicklung und zur Gleichstellung in der Wissenschaft lautete: Ohne verbindliche und nachhaltige Personalentwicklung werden keine Verbesserungen zu erreichen sein. - Wie bitte soll das alles ohne Stellenpläne gehen? Wie will man denn eine effektive und demokratische Kontrolle an den Einrichtungen organisieren? Wie will das Ministerium Fehlentwicklungen überhaupt bemerken. Wir haben es ja vorhin gehört: Sie wissen nicht einmal, wie viele Personen promovieren, wie viele die Promotion abgebrochen haben und dergleichen mehr.
Es hat Fehlentwicklungen gegeben. Wir Linke haben gerade eine Kleine Anfrage gestellt; da hat es sich gezeigt. Schauen wir auf die prekäre Stipendienpraxis für Promovierende und Postdocs an den von Ihnen zitierten Max-Planck-Instituten. Da werden mehr und mehr Promotionsverfahren eröffnet, weil sich über Stipendien natürlich auch Gehalts- und Lohnnebenkosten senken lassen. Da fallen Promovierte, wohlgemerkt: Promovierte, schon einmal direkt vom Stipendium in Hartz IV, weil Stipendiaten nicht in Sicherungssysteme wie die Arbeitslosenversicherung einzahlen,
und zwar in den Fällen, in denen erhoffte Drittmittel aus der Auftragsforschung ausbleiben und die jeweilige Einrichtung aus ihren Haushalten keine Gelder zur Verlängerung der Projekte aufbringen kann.
Die von Herrn Hagemann zitierte Petition der jungen Nachwuchswissenschaftler der Max-Planck-Gesellschaft kann doch nur als Ohrfeige für die Leitung der Max-Planck-Gesellschaft verstanden werden. Immerhin bekommt sie jedes Jahr 5 Prozent mehr Mittel.
Die taz hat sogar getitelt: „Aufruhr im Eliteclub“. Wir hoffen, dass mehr als 1 300 Unterstützer und Unterstützerinnen der Fair Pay Petition reichen, um Verbesserungen zu erzielen.
Ja, meine Damen und Herren, halten wir es nochmals fest: Der Haushalt kann ohne Stellenpläne flexibler verwaltet werden. Aber auf wessen Kosten? Auf Kosten der jungen Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler.
Ich halte das für Raubbau an der Zukunft der Einrichtungen.
Es muss auch niemanden mehr wundern, wenn diese jungen Leute bessere Chancen in anderen Ländern sehen und Deutschland verlassen.
Was könnte man in dieser Situation von der Bundesregierung konkret erwarten? Man könnte zum einen erwarten, dass die Mittelvergabe für die Globalhaushalte an Mindeststandards für Promovierende und Postdocs gebunden wird.
Die Bundesregierung könnte weiterhin das Wissenschaftszeitvertragsgesetz ändern. Dort kann man Mindestlaufzeiten für Verträge festschreiben. Zum anderen kann man den Tarifpartnern ermöglichen, in Aushandlungen über gesetzliche Mindeststandards zur Befristung von Arbeitsverträgen in der Wissenschaft hinauszugehen. Das ist dann deren Geschichte. Dafür müsste man aber die Tarifsperre aufheben.
Zu diesen Verbesserungen im Interesse der Nachwuchswissenschaftler ist die Koalition bis heute nicht bereit. Stattdessen - Herr Hagemann hat es angedeutet - wollen Sie auf die Spitze des Eisberges noch eine Schippe packen und das sogenannte Besserstellungsverbot einschränken. Was bedeutet das konkret? Möchte eine Einrichtung einen Spitzenwissenschaftler gewinnen oder an der eigenen Einrichtung halten, darf sie diesem dauerhaft übertarifliche Sonderzahlungen aus Drittmitteln gewähren und ihn damit deutlich besserstellen als seine Kolleginnen und Kollegen. Als hätte diese Praxis nicht gerade erst der Bundesrechnungshof umfassend kritisiert, soll das jetzt sogar noch gesetzlich sanktioniert werden. Ich finde, diese Ignoranz können wir uns als Bundestag nicht gefallen lassen.
Die Deregulierung bringt jenen an der Spitze des Systems mehr Sicherheit und bessere Gehälter. Den Promovierenden und den Leistungsträgern im Mittelbau hingegen werden immer größere Unsicherheit und Zuwendungen zugemutet, die oftmals nahe am Existenzminimum liegen. Mir haben einige gesagt: Wenn ich nicht eine Frau hätte, die als Ärztin gutes Geld verdient, könnte ich nicht an dieser Einrichtung forschen. - Mich macht diese Ungerechtigkeit im Umgang mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern einigermaßen fassungslos.
Es sollte versucht werden, Gesetzgebung gerecht zu gestalten,
auch deshalb, weil vermeintlich exzellente Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre Leistungsfähigkeit nur in Zusammenarbeit mit motiviertem, gut bezahltem wissenschaftlichem Nachwuchs entwickeln können.
Fazit: Wer exzellente Forschung möchte, muss auch für exzellente Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen sorgen. Damit ist der Freiheit der Wissenschaft weit mehr gedient.
Danke.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Krista Sager für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Krista Sager (BÃœNDNIS 90/DIE GRÃœNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dass außeruniversitäre Forschungseinrichtungen und -organisationen mehr Eigenverantwortung und Flexibilität in den Bereichen Personal, Haushalt, Bauen und Beteiligung bekommen, das können wir nur begrüßen.
Liebe Kollegin Sitte, wenn Sie die größere Autonomie von Bildungs- und Forschungseinrichtungen im Kontext der Deregulierung von Finanzmärkten diskutieren und hier sozusagen ministerielle Gängelung als Garant für Demokratie und soziale Sicherheit aufrufen, dann ist das wirklich ein Ideologieüberschuss, der der Sache nicht gerecht wird.
Meine Damen und Herren, in Wirklichkeit haben wir es hier eher mit einer nachholenden Modernisierung zu tun. Das Dezemberfieber, Herr Neumann, gibt es an den meisten Universitäten längst nicht mehr. Viele Universitäten hatten schon in den 90er-Jahren Globalhaushalte. Die Erfahrungen, die man dort machen konnte, haben aber auch gezeigt, dass sich das Potenzial von Globalhaushalten mit der Bewirtschaftung von Mitteln eigentlich erst im Zusammenhang mit einer mehrjährigen Planungssicherheit richtig entfalten kann. Da finde ich es bemerkenswert, dass im neuen Finanzplan der Bundesregierung für die Zeit ab 2015 nicht einmal für den Inflationsausgleich Vorsorge getroffen wird. Ich halte es im Zusammenhang mit diesem Gesetz für zentral, dass die Forschungseinrichtungen wissen, in welchem Rahmen sie sich der Freiheit erfreuen sollen. Das muss zusammen mit den Ländern ganz dringend geklärt werden. Den Einrichtungen nützen keine vollmundigen Wahlversprechungen, die dann nicht belastbar sind. Sie müssen sehr schnell wissen, mit wie viel Geld sie in Zukunft rechnen können. Da müssen ehrliche Worte gesprochen werden; da muss reiner Wein eingeschenkt werden.
Ich finde auch den Hinweis richtig, dass wir dafür sorgen müssen, dass diese Regelungen konsequent auf alle Einrichtungen angewendet werden. Da, wo die Länder stark an der Finanzierung der Einrichtungen beteiligt sind, wie bei den Leibniz-Einrichtungen, muss eine Mitwirkung erfolgen. Wenn ich mir die Stellungnahme des Bundesrats anschaue, bekomme ich den Eindruck, dass zu wenig Ehrgeiz entwickelt worden ist, die Länder hier tatsächlich mit ins Boot zu holen.
In einer Hinsicht hat Frau Sitte recht - Frau Schavan hat es im Grunde angedeutet -: Mehr Freiheit und mehr Eigenverantwortung bedeuten im Prinzip auch eine größere Verpflichtung zur Rechenschaftsablegung gegenüber Gesellschaft und Politik.
Ich habe aber den Eindruck, dass die Berichte, die quantitativen Zahlenwerke, die wir im Rahmen des Paktes für Forschung und Innovation bekommen, noch nicht der Weisheit letzter Schluss sind. Wir müssen uns in der Anhörung im September dringend damit befassen, wie wir hier zu einer eher qualitativen Betrachtung kommen können.
Meine Damen und Herren, die Parlamente können nicht einfach nur Geldauskehrer sein. Was wir brauchen, sind modernere, zielorientierte Steuerungsinstrumente. Da finde ich bedauerlich, dass man im Zusammenhang mit der Schaffung der Möglichkeit, internationale Spitzenforscher besser zu bezahlen, nicht gleichzeitig einen Code of Conduct vereinbart hat, also Grundregeln und Standards für die Beschäftigungsverhältnisse des sonstigen wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Personals.
Denn es kann nicht sein, dass die Beschäftigungsverhältnisse für Postdocs und andere Beschäftigte umso schlechter und unsicherer werden, je mehr Geld diese Forschungsorganisationen zur Verfügung haben. Da stimmt etwas nicht.
Mehr Verbindlichkeit brauchen wir aus meiner Sicht auch, wenn es um das Ziel geht, die Gleichstellung der Frauen im Wissenschaftsbereich zu erreichen. Es kann doch nicht richtig sein, dass Bund und Länder in der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz im November 2011 für die außeruniversitären Forschungseinrichtungen eine flexible Quotenregelung, orientiert am Kaskadenmodell, beschließen und einige Forschungsorganisationen so tun, als wäre das nur ein Appell ins Blaue hinein ohne jede Bindungskraft für sie. Auch das ist eine originär politische Frage, für die die Politik eine Zuständigkeit hat.
Das kann nicht mit der Freiheit der Wissenschaft abgetan werden.
Ich finde es richtig, was der Kollege Hagemann und andere gesagt haben, nämlich dass es unverständlich ist, warum Sie so wenig bei den Ressortforschungseinrichtungen erreicht haben. Da muss man differenzieren; aber Sie zahlen alleine und sind alleine zuständig. Dass Sie ausgerechnet in dem Bereich nicht einmal sagen können, welche Regelungen Sie auf welche Einrichtung übertragen wollen, halte ich für ein Armutszeugnis.
Ich finde auch, man müsste sich noch einmal anschauen, welche Einrichtungen jetzt eigentlich nicht zu den beglückten gehören. Warum gehört zum Beispiel die Alexander-von-Humboldt-Stiftung nicht zu denen, die jetzt von diesen Regelungen profitieren? Anschauen sollten wir uns aber auch, welche politischen Ziele, die noch in den Ursprungsanträgen von 2008 enthalten waren, als diese ganze Initiative gestartet wurde, in den letzten Jahren auf der Strecke geblieben sind. Da ergibt sich ziemlich viel aus dem FDP-Antrag. Darin gab es durchaus schöne Forderungen, von denen heute leider nicht mehr die Rede ist. Zum Beispiel haben Sie damals in Ihrem Wissenschaftsfreiheitsinitiativantrag eine steuerliche Forschungsförderung für Unternehmen gefordert. Was ist dabei herausgekommen? Hotelsubvention und Betreuungsgeld. Wer hat es gemacht? - So.
Sie hatten auch die Forderung nach einem Wissenschaftstarif aufgestellt, eine alte, nicht schlechte Forderung. Warum machen Sie nicht wenigstens den Schritt, dass Sie die Tarifsperre im Wissenschaftszeitvertragsgesetz aufheben? Das wäre wenigstens ein Schritt in diese Richtung gewesen.
In dem Antrag war auch ein Punktesystem enthalten, um die Zuwanderung von Hochqualifizierten zu erleichtern. Was ist aus diesem Punktesystem in dieser Koalition geworden?
Ein sehr guter Vorschlag war übrigens auch, die Zuständigkeit für alle Einrichtungen der Leibniz-Gemeinschaft im Wissenschaftsministerium zu konzentrieren. Wer hat es gemacht? Keiner hat es gemacht.
Leider muss man auch sagen, dass dieses Gesetz zwar ein Schritt in die richtige Richtung ist, dass dieser aber an den dramatischen Herausforderungen in unserem Wissenschaftssystem vorbeigeht. Ein Beispiel dafür ist die Unterfinanzierung unserer Hochschulen und die unsicheren und immer schlechter werdenden Perspektiven und Beschäftigungsverhältnisse des wissenschaftlichen Nachwuchses. Ein weiteres Beispiel ist die Unterfinanzierung des Hochschulpaktes, der Studiengelegenheiten finanziert, aber keine Studienplätze.
Frau Schavan, ich glaube, wir werden am Ende nicht daran vorbeikommen, dass der Bund, wenn wir die Einrichtungen der Forschungsorganisationen in die Freiheit entlassen, für die Finanzierung dieser Freiheit eine größere Verantwortung übernimmt, damit sich die Länder dann wiederum verpflichten können und das auch müssten, ihre Spielräume, die sie dann gewinnen, besser für ihre Hochschulen einzusetzen. Das ist mit Sicherheit eine Frage, die wir im nächsten Jahr diskutieren müssen, wenn es um die Finanzierung unseres Wissenschaftssystems geht. Ich glaube, ohne das werden wir nicht auskommen.
Danke.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Florian Hahn für die CDU/CSU-Fraktion.
Florian Hahn (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! „Die Luft der Freiheit weht.“ Das ist der original deutsche Leitsatz der Stanford University in Kalifornien. Dort hat dieser Geist 27 Nobelpreisträger und aktuell Platz 3 und 5 in den bekanntesten Hochschulrankings - Shanghai und Times - hervorgebracht.
Die Max-Planck-Gesellschaft kommt in etwas kürzerer Zeit zusammen mit ihrer Vorgängerorganisation auf immerhin 32 Preisträger. Sie wird bei den Rankings - das ist die größte Schwäche dieser Rankings - nicht berücksichtigt, weil sie keine Hochschule ist. Können wir uns also zurücklehnen? Kommt genug von dieser Luft der Freiheit in die Labore und Institute der deutschen Forschungsorganisationen? Ich fürchte, das ist nicht der Fall.
Die Politik produziert keine Nobelpreisträger. Sie hat aber die Pflicht, die richtigen Rahmenbedingungen für Wissenschaft zu schaffen.
Diese Verantwortung nehmen wir für die außeruniversitäre Forschung mit dem Pakt für Forschung und Innovation und dem Wissenschaftsfreiheitsgesetz entschlossen wahr. Wir fordern mehr finanzielle Mittel und mehr Eigenverantwortung für die großen Forschungsorganisationen als jemals zuvor. Das wird unsere Handschrift und Teil unserer wissenschaftspolitischen Bilanz am Ende dieser Legislaturperiode sein. Meine Kolleginnen und Kollegen, dieses Wissenschaftsfreiheitsgesetz ist daher ein zentraler Baustein unserer wissenschaftspolitischen Gesamtstrategie, durch die wir seit 2005 Wettbewerbs- und Leistungsfähigkeit der deutschen Wissenschaft massiv gesteigert haben.
Wissenschaftspolitik hat klassisch drei zentrale Arbeitsbereiche, für die der Bund gar nicht oder höchstens gemeinsam mit den Ländern zuständig ist: erstens universitäre Forschung, zweitens universitäre Lehre und drittens außeruniversitäre Forschung. In allen drei Bereichen werden wir dennoch am Ende der Legislatur als Bund eine exzellente Bilanz vorlegen können.
Hier die Fakten:
Für die universitäre Forschung haben wir die Exzellenzinitiative fortgesetzt und ausgebaut und Programmpauschalen bei DFG und BMBF eingeführt.
Bei der universitären Lehre haben wir ebenfalls viel getan. Der Hochschulpakt wurde um sage und schreibe 4,7 Milliarden Euro aufgestockt, und der Qualitätspakt Lehre ist erfolgreich gestartet.
Nun zum dritten Bereich, zur Zielgruppe des Wissenschaftsfreiheitsgesetzes, den außeruniversitären Forschungsorganisationen. Hier haben wir finanzielle Planungssicherheit durch die Verlängerung und Aufstockung des Pakts für Forschung und Innovation geschaffen. Dank klarer Anreize, etwa durch die Exzellenzinitiative, haben wir die Versäulung zwischen Universitäten und außeruniversitärer Forschung aufgebrochen. Diese Veränderungen brauchen nun auch optimierte Rahmenbedingungen, um zur vollen Wirkung zu gelangen.
Daher ist das Wissenschaftsfreiheitsgesetz ein weiteres zentrales Vorhaben unseres Koalitionsvertrages im Wissenschaftsbereich: für den effizienten Einsatz der wachsenden Mittel, für bestmögliche wissenschaftliche Ergebnisse und den bestmöglichen Transfer dieser Ergebnisse in Wirtschaft und Gesellschaft. Denn Rahmenbedingungen, die etwa für eine Gemeindeverwaltung passen, werden nicht in gleicher Weise einem modernen Forschungszentrum gerecht. Ein internationaler Spitzenwissenschaftler passt nicht in eine klassische Beamtenlaufbahn. Kurz: Wissenschaft braucht wissenschaftsadäquate Rahmenbedingungen.
Dennoch waren die Rahmenbedingungen bis 2008 weitgehend dieselben. Für Forschungsorganisationen wie die Helmholtz-Gemeinschaft, die Max-Planck- oder die Fraunhofer-Gesellschaft galten ganz selbstverständlich die jährliche Mittelplanung, das Besserstellungsverbot für Nobelpreisträger und das Bauen von Großgeräten mit der Landes- und Bundesbauverwaltung. Das hat so keine Zukunft mehr. Daher legen wir nun eine gesetzliche Verankerung durch ein Wissenschaftsfreiheitsgesetz vor.
Wir brauchen mehr Eigenverantwortung durch die Wissenschaft. Das beginnt beim Personal. Wer die Besten will, muss international konkurrenzfähige Angebote machen können. Auch bei der Budgetverwaltung, den Ausgründungen und der Baudurchführung müssen die Einrichtungen selbstständiger werden. Hier ist die Max-Planck-Gesellschaft bereits Vorreiter und baut eigenverantwortlich - und das günstiger als der Rest.
Wir wollen Forschungseinrichtungen nicht weiter unter Vorbehalt stellen. Dies ist keineswegs unser Ansatz. Wir wollen den Systemwechsel für die Wissenschaft hin zu mehr Eigenverantwortung und Flexibilität. Dabei ist uns die Übertragung der Regelungen auf die Einrichtungen mit Ressortforschungsaufgaben wichtig. Vor allem die Ressorts mit großen forschungsstarken Einrichtungen müssen hier sichtbar voranschreiten.
Die zweite zentrale Herausforderung wird die Umsetzung durch die Länder sein. Die Länder werden sehr darauf achten, dass ihre Hochschulen im nationalen Wettbewerb nicht zurückfallen. Hier möchte ich betonen: Nicht das Verhindern von Verbesserungen für die außeruniversitäre Forschung, sondern die Übertragung dieser Verbesserungen auf die eigenen Hochschulen schafft Stärke im internationalen Wettbewerb.
Auch Sie von der Opposition tragen Verantwortung in den Ländern. Ich appelliere daher an Sie: Werben wir gemeinsam als Wissenschaftspolitiker für diese einmalige Chance für die Wissenschaft. Das Wissenschaftsfreiheitsgesetz kann so zu einem wichtigen Beitrag zur Stärkung des Wissenschaftsstandorts Deutschland werden. Die Luft der Freiheit weht.
Herzlichen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Swen Schulz für die SPD-Fraktion.
Swen Schulz (Spandau) (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach einer langen Zeit der Ankündigungen und des Wartens haben wir nun endlich den Entwurf für ein Wissenschaftsfreiheitsgesetz, wie es die Koalition nennt, vorliegen. Mit großer Rhetorik hat Ministerin Schavan den Kabinettsbeschluss gefeiert. Auch in den Reden, die wir hier gehört haben, wird der Entwurf als wegweisende Initiative dargestellt.
Wenn man sich den tatsächlichen Inhalt anschaut, ist man doch eher ernüchtert, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Ich will das hier nicht kleinreden. Es sind sicher gute Ansätze erkennbar. Wir sind in der Großen Koalition schon einige Schritte gemeinsam gegangen. Frau Schavan, Sie haben das auch gesagt.
Ich will aber einige Aspekte ansprechen, die uns von der SPD wichtig sind. Uns unterscheidet von Ihnen die Grundphilosophie. Gemeinsam wollen wir den außeruniversitären Einrichtungen mehr Handlungsfreiheit ermöglichen, damit sie nicht durch Bürokratie und Vorschriften unnötig gebremst werden. Ein Beispiel ist die Möglichkeit, Spitzenwissenschaftler auch außerordentlich gut zu bezahlen. Das ist so weit in Ordnung. Doch wir sagen auch, dass die Freiheit nicht so weit gehen darf, dass Nachwuchswissenschaftler schlecht behandelt werden dürfen.
Ihr Freiheitsbegriff, Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, steht gewissermaßen nur auf einem Bein. Wir wissen aber, dass zur Freiheit auch Verantwortung gehört.
Wenn Sie also den Einrichtungen die Freiheit geben, besonders hohe Gehälter an Spitzenleute zahlen zu können, dann müssen Sie auch dafür sorgen, dass der wissenschaftliche Nachwuchs Perspektiven erhält. Wir haben mehrfach hier im Plenum und im Ausschuss über dieses Thema gesprochen. Wir brauchen den wissenschaftlichen Nachwuchs. Ohne ihn gibt es ja auch keine Spitzenwissenschaftler.
Wir wollen erreichen, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nach ihrer Qualifikationsphase nicht gezwungen werden, in die Wirtschaft oder ins Ausland zu gehen, um eine berufliche Perspektive zu erhalten, um Familie und Beruf vereinbaren zu können, um Stabilität zu bekommen, sondern wir wollen, dass auch die öffentlich finanzierten Einrichtungen immer gute Arbeitgeber sind. Wir fordern die Erhöhung des Anteils unbefristet beschäftigten Personals, Zielvereinbarungen mit den Forschungseinrichtungen und die Aufhebung der Tarifsperre im Wissenschaftszeitvertragsgesetz. Das sind nur einige Stichpunkte aus der Reihe von sehr konkreten Vorschlägen unseres Antrages aus dem letzten Jahr. Nachdem wir einen Antrag vorgelegt haben, Grüne und Linke ebenso, nach vielen Studien, Berichten und Anhörungen haben vor kurzem endlich auch die Koalitionsfraktionen einen Antrag zu diesem Thema eingebracht.
Doch der, lieber Kollege, ist in seiner Harmlosigkeit kaum zu überbieten.
Der Antrag erklärt wortreich, dass Sie letztlich gar nichts Konkretes machen wollen. Es werden zwar einige richtige Stichworte aufgegriffen, doch es folgt keine klare politische Maßgabe und Handlung.
- Ich beweise Ihnen das, Kollege Meinhardt.
Gleich der erste Punkt im Forderungsteil Ihres Antrages ist exemplarisch. Die Bundesregierung wird aufgefordert, „darauf hinzuwirken, dass die Vertragsdauer für Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler in der Regel an die Laufzeit der Projekte gekoppelt ist“. Was heißt das genau: Die Bundesregierung soll „darauf hinwirken“? Es ist doch klar, dass hier der Gesetzgeber selbst gefragt ist. Die rechtlichen Bestimmungen müssen so geändert werden, dass niemand auf irgendetwas hinwirkt, sondern dass die Verträge entsprechend gestaltet werden müssen.
In dem heute zu beratenden Gesetz - oder meinetwegen auch begleitend - haben Sie die Chance, tatsächlich etwas zu machen, anstatt nur zu reden. Aber wenn man in das Gesetz schaut: Fehlanzeige.
Ganz ähnlich verhält es sich mit einem weiteren wichtigen Thema, bei dem wir es leider nicht bei der Freiheit der Institute belassen können: der Gleichstellung der Frauen. Diese Koalition hat noch keine ernsthafte Initiative gestartet, um Frauen in Wissenschaft und Forschung zu fördern.
Darum hat die Opposition einen gemeinsamen Antrag mit Vorschlägen eingebracht, wie etwa der Anteil der Frauen an den Professuren gesteigert werden kann. Dieser Anteil beträgt derzeit lediglich 13,6 Prozent. Es braucht endlich verbindliche Instrumente wie etwa Quoten,
aber die Koalition gefällt sich in dem Schwadronieren über Freiheit.
Nächster Punkt, nächste Leerstelle: Was ist eigentlich mit den Hochschulen? Sie formulieren hier ein Gesetz, das für außeruniversitäre Einrichtungen an einigen Stellen hilfreich sein mag. Aber welche Perspektive bieten Sie den Hochschulen?
- Ich komme gleich noch dazu.
Wir haben gemeinsam den Hochschulpakt aufs Gleis gesetzt. Dieser Pakt ist eine Erfolgsgeschichte. Und gerade weil er so erfolgreich ist, muss er ausgebaut werden. Doch Sie vonseiten der Regierungskoalition zögern und zaudern.
Gestern, Frau Schavan, gab es dann die Mogelpackung, so mit dem Trick „Linke Tasche, rechte Tasche“. Sie ziehen Mittel der Finanzplanung für die kommenden Jahre vor, stocken diese dann noch auf mit Mitteln aus dem BAföG-Etat und stopfen damit das aktuell klaffende Loch beim Hochschulpakt. Aber dadurch fehlt erstens das dringend benötigte Geld für die Anpassung des BAföG, und zweitens sind keine Mittel da, um den Hochschulpakt langfristig vernünftig auszufinanzieren. Im Gegenteil: Ab 2014 kürzen Sie bei Bildung und Forschung sogar. Das ist die Wahrheit.
Sie haben gerade dazwischengerufen, dass für die Hochschulen vor allem die Länder zuständig sind. Das ist richtig und falsch zugleich, Kollege Meinhardt. Denn für die Hochschulen kann der Bund ja einiges tun; das hatte damals die SPD im Zusammenhang mit der Föderalismusreform durchgesetzt. Jetzt diskutieren wir über weitere Verbesserungen des Grundgesetzes; Frau Schavan hat das zum Schluss ihrer Rede auch angesprochen.
Was Sie jedoch vorschlagen, hilft nur einigen Exzellenzunis. Wenn Ihnen jedoch die Hochschulen insgesamt wichtig wären, dann würden Sie eine Grundgesetzänderung vorschlagen, die allen Hochschulen helfen kann.
Was Sie machen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, das ist letztendlich Rosinenpickerei: schön die Exzellenz fördern und die Nobelpreisträger fürstlich entlohnen, aber für die Mühen der Ebene, für die Breite, für die Gesamtverantwortung, für den Nachwuchs, für die Arbeitstiere, die kleinen Leute in der Wissenschaft, dafür sind Sie sich offenkundig zu fein.
Dieses Gesetz enthält durchaus einige diskutable Punkte, doch es ist kurzsichtig und einseitig. Was diesem Gesetz fehlt, ist die Dimension der Verantwortung.
Herzlichen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Peter Röhlinger für die FDP-Fraktion.
Dr. Peter Röhlinger (FDP):
Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Heute ist ein guter Tag für die Wissenschaft und für die Freiheit der Wissenschaft. Lasst uns uns darüber freuen,
und malen Sie kein Horrorszenario von der vergangenen und der aktuellen Situation!
Ich weiß, wovon ich rede, denn ich habe zu DDR-Zeiten als Wissenschaftler gearbeitet. Da gab es diese Freiheit der Wissenschaft nicht. Damals war es nötig, das richtige Parteiabzeichen zu haben. In der Kaderakte musste möglichst die Trennung von Ost-West-Kontakten vermerkt sein etc. etc., von Literatur aus dem sogenannten NSW gar nicht zu reden. Es war noch nicht einmal erlaubt, gelegentlich einen Sonderdruck herüberzuschicken, da kam man gleich in die Bredouille.
Wenn ich mir vorstelle, wie weit wir inzwischen sind - Herr Schulz, ich gebe Ihnen ja recht und auch Ihnen, Frau Sitte -,
da muss ich doch sagen: Wir haben gemeinsam allerhand erlebt und sollten uns darüber freuen, dass wir auf dem richtigen Wege sind.
Ich möchte mich deswegen zunächst einmal ganz herzlich bei all denen bedanken, die den heutigen Entwurf auf den Weg gebracht haben.
Sie werfen uns vor, dass das Ganze zu lange gedauert hat - uns aber auch, Herr Schulz, uns auch. Wir haben die Haushälter wiederholt angesprochen, und zwar nicht nur in offiziellen Beratungen.
Wir haben gesagt: Leute, wir brauchen das jetzt, wir haben hier eine Bringpflicht. Sie wissen doch: Abgeordnete sind alle gleich, aber Haushälter sind besonders gleich. Deswegen muss man sich mit ihnen erst einmal verstehen, um die entsprechende Zustimmung zu bekommen.
Da klatschen alle Fraktionen,
weil Sie alle mit ihren Haushältern die gleichen Probleme haben, das wissen wir ja.
Ich möchte besonders dem Ministerium danken. Frau Ministerin, wir wissen Sie in dieser Frage an unserer Seite. Auch Ihnen hat das zu lang gedauert. Wir wissen in dieser Frage auch unsere Kanzlerin an der Seite. Man merkt: Diese Frau hat wissenschaftlich gearbeitet, ihr muss man nicht erst beibringen, wie wichtig Wissenschaft ist. Sie hat aufgrund ihrer Vita längst verstanden, dass Wissenschaft Spaß macht und im Mittelpunkt nicht die Finanzausstattung und das Gehalt stehen.
Heute ist ein guter Tag - erst heute Abend wird es in allen Fraktionen um Schadensbegrenzung gehen -; denn hier und jetzt geht es nicht um Schadensbegrenzung. Wir können sagen: Wir sind auf dem richtigen Weg. Es hat zwar zu lange gedauert, und es sind auch noch nicht alle Wünsche erfüllt, aber ich gehe davon aus - die Haushälter werden mir recht geben -, dass wir in den nächsten Jahren in Bezug auf die materielle und finanzielle Ausstattung in den Bereichen nachrüsten werden, die zum Beispiel Frau Sager oder Frau Sitte vorgeschlagen haben.
Nehmen wir mit Demut zur Kenntnis: Wir leben auf einem sehr hohen Niveau. Es waren die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der jetzigen Generation, die in den vergangenen Jahren zur Erhaltung unseres Wohlstand beigetragen haben. Das ist doch nicht meine Generation,
das ist Ihre Generation. Wir können also nicht so sehr viel falsch gemacht haben, auch nicht im Vergleich zu unseren Nachbarländern in Ost und West, Süd und Nord und den Ländern jenseits des Atlantiks. Mit dem von der Regierung eingebrachten Wissenschaftsfreiheitsgesetz wollen wir unseren Wohlstand stabilisieren und Bedingungen schaffen, damit eine nachhaltige Entwicklung gewährleistet werden kann.
Wenn wir uns freuen, dann ist das nur die halbe Miete. Wer kann sich noch freuen? Natürlich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die Ingenieure, die Techniker, die weiterhin einen stabilen und sicheren Arbeitsplatz
und entsprechendes Einkommen haben werden, mit dem man eine Familie finanzieren kann. Es werden sich auch diejenigen freuen, die ihre Kompetenz nutzen und sich mit der Industrie oder mit einer Universität zusammentun, um auszugründen. Ich kann aus eigener Erfahrung sagen: Es war eine helle Freude, die Ausgründungseuphorie zu beobachten, die bis heute anhält. Viele Wissenschaftler haben in den Instituten zu wenig zu verdienen geglaubt. Sie haben sich daher selbstständig gemacht und sind nun zum Großteil finanziell wesentlich besser gestellt. Es ist ein gutes Motiv, zu sagen: Ich mache mich selbstständig, ich will Unternehmer werden. Eine Frau hat kürzlich gesagt: Ich bin Unternehmerin geworden, weil ich frei sein will. Diese Frau, übrigens eine Physikerin, hat inzwischen 160 Mitarbeiter, ihre Firma hat einen hohen Exportanteil.
Natürlich freuen sich auch die Patientinnen und Patienten - daran will ich erinnern -, weil sie wissen, dass sie mit Ärzten und Kliniken rechnen können, die auf einem hohen Niveau arbeiten. Ich kann mich noch erinnern, dass ein Arzt zu meiner Frau gesagt hat: Es gibt da schon ein Medikament, Frau Röhlinger. Haben Sie Kontakte nach dem Westen oder zum Regierungskrankenhaus? - Nein: Die Gleichheit der Patienten vor dem Gesetz ist wichtig.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Dr. Peter Röhlinger (FDP):
Wissenschaft definiert sich in Raum und Zeit, das gilt auch für meine Redezeit.
Ich bedanke mich.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Tankred Schipanski für die CDU/CSU-Fraktion.
Tankred Schipanski (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zur Freisetzung von mehr Kreativität und Innovationen in Deutschland haben wir im Juli des letzten Jahres das Berufsanerkennungsgesetz verabschiedet
und im April dieses Jahres die EU-Hochqualifizierten-Richtlinie in sehr weitreichender Form umgesetzt
und im Mai dieses Jahres eine Initiative für unseren wissenschaftlichen Nachwuchs gestartet.
Im Mai fand die erste Lesung statt. Herr Schulz, Sie können diesem Antrag bei der zweiten und dritten Lesung sehr gerne zustimmen. Damit schlagen wir konkrete Handlungsansätze vor. Heute, als i-Tüpfelchen, bringen wir den Entwurf eines Gesetzes zur Flexibilisierung von haushaltsrechtlichen Rahmenbedingungen außeruniversitärer Wissenschaftseinrichtungen, kurz Wissenschaftsfreiheitsgesetz, in die parlamentarische Beratung ein.
Dies ist ein großer Tag für unsere außeruniversitären Forschungseinrichtungen; Kollege Röhlinger hat das richtigerweise festgestellt. Dies ist ein großer Tag für die in Art. 5 Abs. 3 unseres Grundgesetzes verankerte Wissenschaftsfreiheit. Genauso schlank, knackig und kernig, wie dieser Artikel ist, ist auch dieser Entwurf eines Wissenschaftsfreiheitsgesetzes.
Das ist eben kein Skelett, Herr Hagemann.
Der Entwurf des Wissenschaftsfreiheitsgesetzes ist geprägt vom Leitgedanken des gegenseitigen Vertrauens von Politik und Wissenschaft. Das ist ein Vertrauensvorschuss an die Wissenschaft und ein Weg zu mehr Autonomie und Transparenz. Dieses Gesetz bedeutet Bürokratieabbau und gibt unseren Wissenschaftseinrichtungen zugleich mehr Planungssicherheit.
Von daher sind die Ausführungen der Kollegin Sitte und des Kollegen Schulz hier einfach völlig verfehlt.
Es galt, vor allem mit Blick auf das Haushaltsrecht, das Spannungsverhältnis zwischen Wissenschaftsfreiheit und haushaltsrechtlichen Kontrollinteressen aufzulösen; denn Forschung ist aufgrund ihrer Komplexität zeitlich sowie inhaltlich nicht bis ins Letzte planbar. Um den Unwägbarkeiten des Forschungsprozesses haushaltstechnisch Rechnung zu tragen, benötigen die Forschungseinrichtungen Flexibilität beim Umgang mit ihren Mitteln. Daher gilt an dieser Stelle mein besonderer Dank den Haushältern unserer Koalition, die uns bei diesem Gesetzesvorhaben konstruktiv unterstützt haben.
Welche Instrumente haben wir gewählt? In § 3 des Gesetzentwurfs wurden die folgenden Instrumente gesetzlich kodifiziert, also nicht nur untergesetzlich geregelt: Globalhaushalte, überjährige Mittelverwendung, vollständige und gegenseitige Deckungsfähigkeit zwischen Sach- und Investitionsmitteln.
Im Punkt Personal - § 4 des Gesetzentwurfs - geben wir unseren Wissenschaftseinrichtungen mehr Spielräume, um bei der Gewinnung von wissenschaftlichem Personal sowie bei Bleibeverhandlungen konkurrenzfähige Angebote machen zu können. Über das Besserstellungsverbot haben wir hier bereits gesprochen.
Mit den §§ 5 und 6 des Gesetzentwurfs sorgen wir für Bürokratieabbau und Verfahrensvereinfachungen in den Bereichen Beteiligungen und Bau. Hinsichtlich Beteiligungen darf ich an die neue Beteiligungsrichtlinie der Bundesregierung erinnern, die seit dem 1. Juni dieses Jahres in Kraft ist.
Mehr Freiheit bedeutet zugleich mehr Verantwortung. Deshalb verpflichten sich die Wissenschaftseinrichtungen zu einer konsequenten Weiterentwicklung des internen und externen Wissenschafts- und Finanzcontrollings. Gesetzlicher Anknüpfungspunkt ist § 3 Abs. 3 des Gesetzentwurfs. Konkretisierungen werden wir im Gesetzgebungsverfahren mit Sicherheit noch besprechen.
Die Opposition muss natürlich immer irgendwelche Kritikpunkte finden; aber in dieses Gesetz eine Frauenquote und Regelungen für den wissenschaftlichen Nachwuchs integrieren zu wollen, entspricht nicht dem Sinn und dem Zweck eines Wissenschaftsfreiheitsgesetzes.
Ich denke, dieser Gesetzentwurf enthält vier gute Regelungsbereiche. Das Einzige, was wir noch im Blick haben müssen - das haben Sie angesprochen -, sind die Ressortforschungseinrichtungen. Dazu haben Sie heute eine feste Aussage unserer Ministerin gehört. Außerdem gibt es dazu eine Aussage von uns im Antrag zu den Ressortforschungseinrichtungen, in dem eindeutig steht, dass die Einrichtungen die für ihre Forschung notwendigen Freiheiten erhalten werden.
Blicken wir noch kurz auf das Gesetzgebungsverfahren und die Bundesratsbeteiligung, die hier angesprochen worden ist. Ich darf auf Art. 109 und auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 13 des Grundgesetzes verweisen. Dort steht, dass der Bund hierfür die Kompetenz hat. Aus diesen grundgesetzlichen Erwägungen heraus halten wir die Einbindung der Länder über die GWK, die Gemeinsame Wissenschaftskonferenz, für ausreichend, zumal dort bereits eine Arbeitsgruppe gegründet wurde.
In diesem Sinne freue ich mich auf die weiteren Beratungen im Ausschuss. Das Wissenschaftsfreiheitsgesetz wird die Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Wissenschaftssystems stärken. Appelle an die Länder sind erfolgt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Eckhardt Rehberg für die CDU/CSU-Fraktion.
Eckhardt Rehberg (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dieser Gesetzentwurf, den wir heute in erster Lesung beraten, ist nicht trivial; denn - das sage ich als Haushälter - wir werden dadurch Kontrollmöglichkeiten und auch Transparenz im Haushalt abgeben.
Wir vertrauen aber den Forschungseinrichtungen und gehen davon aus, dass sie mit der übertragenen Freiheit verantwortlich umgehen werden.
Wenn jetzt jedoch, wie von verschiedenen Seiten gefordert, bestimmte Dinge normiert werden sollen, dann kann man das alles - Globalhaushalt, Überjährigkeit, keine Stellenpläne - auch lassen. Ich kann nicht auf der einen Seite Freiheit fordern und auf der anderen Seite mit dem Finger auf Forschungseinrichtungen zeigen und ihnen unterstellen, dass sie mit dieser Freiheit nicht verantwortlich umgehen werden. Das ist keine vernünftige Basis für ein Wissenschaftsfreiheitsgesetz.
Mich als Haushälter interessieren natürlich auch die Ergebnisse. Wir werden heute Abend wahrlich keine trivialen Entscheidungen treffen. Wir können sie nur treffen, weil wir zum Beispiel in den letzten sieben Jahren im Bundeshaushalt für einen Aufwuchs der Forschungsmittel von 9 Milliarden Euro auf knapp 14 Milliarden Euro gesorgt haben und weil die Wirtschaft in Deutschland ihre Mittel für Forschung und Entwicklung trotz der Krisenjahre von insgesamt 39 auf 47 Milliarden Euro gesteigert hat. Wir haben das 3-Prozent-Ziel schon fast erreicht. Ein Ausfluss dieser Maßnahmen ist zum Beispiel, dass Deutschland hinsichtlich wissenschaftlicher Publikationen und Patenten absolut betrachtet weltweit an dritter Stelle steht; betrachtet man es auf die Zahl der Einwohner bezogen, stehen wir sogar an erster Stelle.
Es hat sich also gelohnt, dass wir in Forschung und Entwicklung investieren.
Natürlich, Kollege Schulz, kann man manches noch besser machen. Man kann immer weitere Forderungen stellen. Aber ich sage Ihnen ganz offen und ehrlich: Universitäten sind nicht Bundessache, sondern Ländersache. Das ist Länderhoheit.
Ich sage auch mit aller Vorsicht und mit allem Bedacht: Ich finde es gut und richtig, dass es bei der Max-Planck-Gesellschaft und bei der Leibniz-Gemeinschaft Mischfinanzierungen gibt. Ich möchte die Länder weiter in der Verantwortung haben; ich möchte die Sitzländer weiter dabei haben.
Ich erwarte von den Sitzländern, dass sie, wenn der Bund jedes Jahr 5 Prozent Aufwuchs ausfinanziert, ebenfalls ihrer Verantwortung nachkommen.
Es gibt übrigens Verlässlichkeit, Frau Sager.
Forschungs-, Entwicklungs- und Bildungsmittel im deutschen Bundeshaushalt waren noch nie so verlässlich wie in den Jahren 2005 bis 2013.
Dies ist die verlässlichste Phase, die es für die Bildungs- und Forschungslandschaft in Deutschland je gegeben hat.
Wir können nicht über 2015 hinausgehen, weil die mittelfristige Finanzplanung nicht weiter reicht. Ich sage: Auch als Haushaltsgesetzgeber würde ich mich dagegen wehren, wenn der Bundesfinanzminister bzw. die Bundesregierung bereits jetzt finanzielle Verpflichtungen für 2018 oder 2020 eingehen würden.
Ich glaube, das sind wir uns als Parlamentarier auch selber schuldig.
Lassen Sie mich zum Abschluss noch einen Satz zur Ressortforschung sagen. Ich bin ein Verfechter davon, die Ressortforschung beim Wissenschaftsfreiheitsgesetz auszuklammern. Ich will das begründen: Es gibt Institute, die in hohem Maße hoheitliche Aufgaben wahrnehmen müssen, zum Beispiel das Friedrich-Loeffler-Institut und das Robert-Koch-Institut. Einrichtungen wie das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie nehmen zu 80, 90 Prozent Verwaltungsaufgaben, exekutive Aufgaben wahr. Können Sie sich vorstellen, welche Probleme zwischen den Ressorts und auch in den Ministerien verursacht würden, wenn wir in diesem Gesetzentwurf einzelne Ressortforschungseinrichtungen herauspicken würden? Es ist deswegen richtig, dass die Bundesregierung am 2. Mai dieses Jahres, als sie das Wissenschaftsfreiheitsgesetz beschlossen hat, gesagt hat, dass jedes Ressort prüfen soll, ob in seinen Einrichtungen mehr Flexibilität möglich ist. Ich glaube, dies ist der richtige Weg, um auch bei den Ressortforschungseinrichtungen verantwortungsvoll für mehr Flexibilität zu sorgen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich kann für die Haushälter feststellen: Es war bis hierher ein nicht ganz einfacher Weg; ich habe Ihnen gesagt, warum. Wir geben Kontrolle ab, und wir geben einen Vertrauensvorschuss, wie der Kollege Schipanski richtig gesagt hat. Aber wir haben auch die Mittel und Möglichkeiten - Stichwort: Bundesrechnungshof -, uns die Freiheit zu nehmen, die Wahrnehmung der Verantwortung, die wir übertragen haben, zu kontrollieren.
Herzlichen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist Michael Kretschmer für die CDU/CSU-Fraktion.
Michael Kretschmer (CDU/CSU):
Herr Präsident! Mehr sehr verehrten Damen und Herren! Das Wissenschaftsfreiheitsgesetz ist ein weiterer großer Schritt in der Wissenschaftspolitik dieses Jahrzehnts und unserer Wissenschaftspolitik insgesamt. Dieser fügt sich in eine Reihe wirklich großer und wichtiger Weichenstellungen ein. Man muss an dieser Stelle in Erinnerung rufen: Mitten in der Wirtschaftskrise, mitten in einer Zeit einbrechender Steuereinnahmen, hat diese Bundesregierung gegen den Trend die Ausgaben für die Wissenschaft erhöht und mehr Freiräume geschaffen. Heute, im Jahr 2012, sind wir dabei, die Rendite dessen einzufahren, was wir mit unseren Investitionen in die Wissenschaft angeschoben haben.
Die Exzellenzinitiative, der Zuwachs bei der Zahl der Studierenden, die Steigerung der Quote derer, die eine Schulausbildung beenden und dann ein Studium aufnehmen - all das hat der Bundesrepublik Deutschland enorme Beachtung und große Anerkennung eingebracht. Überall in der Welt wird mit Staunen und mit Anerkennung über die Wissenschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland gesprochen.
Ich finde, man muss immer wieder sagen: Das ist nicht nur ein Ausgabenposten, sondern auch eine Investition in die Zukunft. Wir tun das, damit wir in Zukunft besser leben können. Hätten wir diesen Weg vor 10, 15 Jahren nicht eingeschlagen, würden wir heute nicht so gut dastehen.
Das, was wir mit dem Wissenschaftsfreiheitsgesetz machen, ist vor diesem Hintergrund ein weiterer logischer Schritt. Es geht jetzt nicht um mehr Geld, sondern es geht darum, aus dem vorhandenen Geld mehr zu machen. Manche Leute, die viele Jahre in Politik und Verwaltung gearbeitet haben, sagen: Es ist leichter, ein Programm mit einem Volumen von 100 Millionen Euro aufzulegen, als einen Paragrafen in einem Gesetzbuch zu streichen. - Wir haben auf dem Weg bis zum heutigen Tag genau diese Erfahrung gemacht.
Wären wir uns in der Koalition, aber auch über die Fraktionsgrenzen hinweg nicht so einig, wie wichtig das Thema Wissenschaftsfreiheit ist, wären wir nicht so weit gekommen. Vor diesem Hintergrund rate ich dazu, jetzt nicht in Grabenkämpfe zu verfallen, sondern das Positive zu sehen. Dies ist ein gemeinsames Projekt. Wir brauchen diese Übereinstimmung auch in den nächsten Jahren, wenn es vielleicht wirklich einmal zu Problemen oder zu Entwicklungen kommt, die wir im Detail nicht für richtig oder gut halten. Wir brauchen einen Grundkonsens in Sachen Wissenschaftsfreiheit - dafür werbe ich -, und zwar über die Partei- und Fraktionsgrenzen hinaus.
Ohne eine durchsetzungsstarke Bundeswissenschaftsministerin wäre dieses Projekt niemals möglich gewesen.
Deswegen gilt mein Dank Annette Schavan, die dieses Vorhaben zusammen mit Wolfgang Schäuble durchgesetzt hat: an vielen Stellen gegen den Rat der Ministerialbürokratie im BMF, an vielen Stellen gegen den Widerstand mancher anderer Ministerien. Herzlichen Dank, dass wir diesen Tag heute erleben können, Frau Bundesministerin!
Jetzt sind in der Tat die Institutionen in der Pflicht. Denn das, was wir hier auf den Weg bringen - weniger Kontrolle, mehr Geld -, muss am Ende, basierend auf einer ordentlichen Bewirtschaftung, zu mehr Output und zu einer noch besseren Forschungsleistung führen. Ich finde, es ist bedenklich, dass sich die Linke so weit ins Abseits stellt. Die Rede, die von Ihrer Seite gehalten wurde, hat ganz klar gezeigt,
dass Sie nichts davon verstanden haben, was Wissenschaft in Freiheit, in einer Demokratie, in einer offenen Gesellschaft leisten kann. Das war eine traurige Rede, Frau Kollegin.
Ich möchte den Blick auch noch einmal auf den Bundesrechnungshof richten
und ganz deutlich sagen: Wir hier sind der Souverän. Dieses Parlament ist der einzig demokratisch legitimierte Haushaltsgesetzgeber.
Wir entscheiden, was mit dem Geld der Bürgerinnen und Bürger passiert. Deswegen fand ich es nicht akzeptabel, dass sich der Bundesrechnungshof
an einzelnen Instituten abgearbeitet hat, als es um die Ãœbertragbarkeit der Haushaltsmittel ging.
- Moment. - Wir wollten einen Anteil von 20 Prozent übertragen und wollen jetzt die Übertragbarkeit kompletter Globalhaushalte und andere Freiheiten. Wenn es hier ein Problem gibt, dann soll sich der Bundesrechnungshof an den Deutschen Bundestag wenden, der das beschlossen hat, aber nicht die Institutionen angehen, die die Regeln, die wir gegeben haben, ordentlich anwenden. Das ist nicht redlich.
Ich sage es noch einmal: Wir gehen einen neuen Weg. Wir werden irgendwann, in welchem Zeitraum auch immer - im nächsten Jahr, in den nächsten zwei Jahren, in den nächsten drei Jahren -, an einen Punkt kommen, an dem es einmal Schwierigkeiten gibt. Dann kommt es darauf an, an der Sache orientiert aufzustehen und zu sagen: Wir wollten das. Möglicherweise wollen wir dann eine Veränderung im Detail, aber im Kern sind wir dafür, dass hier Wissenschaftsfreiheit gelebt wird. - Ich halte das für richtig und werbe dafür, dass wir das auch gemeinsam vorantragen. Das ist gut für unseren Standort und für die Zukunft der Bundesrepublik Deutschland.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf den Drucksachen 17/10037 und 17/10123 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 46 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der deutschen Finanzaufsicht
- Drucksache 17/10040 -
Ãœberweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
Innenausschuss
Rechtsausschuss
A. f. Wirtschaft und Technologie
A. f. Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann haben wir das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär Hartmut Koschyk das Wort.
Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen:
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Diese von CDU, CSU und FDP getragene Regierung hat sich zu Beginn dieser Legislaturperiode auf eine Reihe von Maßnahmen verständigt, um nachhaltige Konsequenzen aus der Finanzmarktkrise und deren Folgen für die Volkswirtschaften und die Situation der Staaten in Europa und darüber hinaus zu ziehen. Der heute vorgelegte Gesetzentwurf, der die Finanzaufsicht in Deutschland weiterentwickeln soll,
ist dabei ein ganz entscheidender Schritt.
Wir ziehen mit diesem Gesetzentwurf die Lehren aus der Finanzmarktkrise, indem wir uns zum einen an internationalen europäischen Vorgaben orientieren, aber wir wollen zum anderen auch die Stärke deutscher Finanzaufsicht bewahren; das machen wir zum Beispiel durch unser Konzept der Allfinanzaufsicht, das heißt, der Vereinigung von Banken-, Versicherungs- und Wertpapieraufsicht unter einem Dach, deutlich.
Vor diesem Hintergrund enthält der heute vorgelegte Gesetzentwurf fünf zentrale Maßnahmen: Wir schaffen eine makroprudenzielle Aufsicht in Deutschland; wir verbessern die Zusammenarbeit zwischen der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, BaFin, und der Deutschen Bundesbank im mikroprudenziellen Bereich; wir berücksichtigen bei der Ausgestaltung der Finanzaufsicht in Deutschland die Anliegen der Verbraucherinnen und Verbraucher stärker; wir stärken die Unabhängigkeit der BaFin; und wir nehmen auch Änderungen bei den Regelungen zur Besoldung und Vergütung der Beamten und Tarifbeschäftigten der BaFin vor.
Die internationale Finanzmarktkrise hat gezeigt, dass riskante Geschäftspraktiken einzelner Finanzmarktakteure das Finanzsystem insgesamt in Gefahr bringen können. Es wurde deutlich, dass es nicht mehr allein ausreicht, die Risiken der einzelnen Institute im Blick zu behalten, um die Stabilität des gesamten Systems zu wahren. Vielmehr müssen wir auch übergreifende Risiken frühzeitig erkennen und bekämpfen. Deshalb muss die sogenannte mikroprudenzielle Aufsicht durch eine makroprudenzielle Aufsicht ergänzt werden.
Auf europäischer Ebene wurden, auch mit deutscher Unterstützung, ab dem 1. Januar 2011 drei neue europäische Aufsichtsbehörden im Banken-, Versicherungs- und Wertpapiersektor eingerichtet. Es wurde aber zugleich ein europäischer Ausschuss für Systemrisiken geschaffen. Analog zu diesem europäischen Ausschuss für Systemrisiken sieht unser Gesetzentwurf nun die Einrichtung eines Ausschusses für Finanzstabilität in Deutschland vor, der wie sein europäisches Pendant die Stabilität des deutschen Finanzsystems überwachen, frühzeitig Warnungen vor Gefahren aussprechen und Empfehlungen für Gegenmaßnahmen abgeben soll. Diesem Ausschuss werden drei Vertreter der Bundesbank, des Bundesministeriums der Finanzen und der BaFin und ohne Stimmrecht ein Vertreter der Bundesanstalt für Finanzmarktstabilisierung angehören.
Die Deutsche Bundesbank wird nach unserem Gesetzentwurf aufgrund ihrer besonderen Expertise den Auftrag erhalten, zur Wahrung der Finanzstabilität beizutragen. Sie soll laufend die für die Finanzstabilität maßgeblichen Sachverhalte analysieren und mögliche Gefahren für die Finanzstabilität identifizieren.
Was die mikroprudenzielle Bankenaufsicht anbelangt, wollen wir dafür sorgen, dass bei schwierigen Aufsichtsfragen in Zukunft eine einheitliche Sichtweise vorherrscht. Deshalb wird ein Schlichtungsmechanismus geschaffen. Ziel ist es, bei Meinungsverschiedenheiten von erheblicher Bedeutung zwischen der BaFin und der Bundesbank bei der laufenden Überwachung von Instituten zu raschen und effizienten Entscheidungen zu kommen. Kann Einvernehmen nicht hergestellt werden, wird das Bundesministerium der Finanzen im Benehmen mit der Deutschen Bundesbank entscheiden. Dadurch ist auch die Unabhängigkeit der Deutschen Bundesbank gewahrt.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schick?
Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen:
Herr Schick kann gerne nachher in der Debatte Stellung nehmen.
Ich möchte gerne noch etwas zum Verbraucherschutz sagen. Für Verbraucherschutzorganisationen und Kunden soll ein Beschwerdeverfahren bei der BaFin gesetzlich ausgestaltet werden. Wir wollen, dass die BaFin Verbraucherschutzbeschwerden über Verstöße von bestimmten Instituten besser nachgehen kann. Wir werden bei der BaFin einen Verbraucherbeirat schaffen, welcher die BaFin bei der Erfüllung ihrer Aufgaben aus Verbrauchersicht beraten soll.
Zielstellung dieser Maßnahmen ist es, die BaFin in die Lage zu versetzen, Erkenntnisse von Verbrauchern und Verbraucherschutzorganisationen zukünftig noch stärker bei ihrer Aufsichtstätigkeit berücksichtigen zu können. Der besonderen Bedeutung eines kollektiven Verbraucherschutzes soll schließlich dadurch Rechnung getragen werden, dass das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz einen Sitz im Verwaltungsrat der BaFin erhält.
Werte Kolleginnen und Kollegen, wir legen einen Gesetzentwurf vor, der die Aufsichtsstrukturen in Deutschland als Lehren aus der Finanzkrise effektiver gestalten, die Zusammenarbeit der mit der Aufsicht befassten Institutionen verbessern und auch die Anliegen der Verbraucher zu einem wesentlichen Element der Finanzaufsicht in Deutschland erheben wird. In diesem Sinne bitte ich um zügige Beratung und Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Manfred Zöllmer für die SPD-Fraktion.
Manfred Zöllmer (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Staatssekretär Koschyk, Ihre Rede war ein weiterer Beweis dafür, dass dies ein Thema ist, bei dem sich die Koalitionsfraktionen nicht gerade mit Ruhm bekleckern.
Warum? Die Halbwertzeit dieses Gesetzentwurfs liegt, glaube ich, nahe bei null. Wenn Sie sich heute die Presselandschaft anschauen, dann stellen Sie fest, dass in Europa die Weichen in Richtung europäische Aufsicht gestellt worden sind. Dazu haben Sie hier kein einziges Wort verloren. Das finde ich ein bisschen peinlich. Es ist natürlich schade, dass Sie, wenn die Rede schon gestern geschrieben worden ist, darauf nicht reagieren können.
Warum hatten Sie so große Probleme mit diesem Thema? Ich will das einmal deutlich machen. Ich erinnere mich noch gut daran, dass uns Herr Wissing erklärt hat, die Reform der Finanzaufsicht sei der Kern der Finanzmarktreform. Er hat einen Vorschlag gemacht, der dann auch von der CDU unterstützt wurde. Dieser Vorschlag lautete, man müsse bei der Deutschen Bundesbank alles zentralisieren und die BaFin zerschlagen. - Daraus ist zum Glück nichts geworden.
Wir haben von Anfang an gesagt: Das wird nicht funktionieren.
2002 ist die BaFin unter Rot-Grün als Allfinanzaufsicht gegründet worden. Das war ein guter Schritt, das war ein richtiger Schritt,
und Sie bestätigen das ja jetzt auch mit Ihrem Gesetzentwurf. Diesen richtigen Weg muss man aber auch weitergehen. Das tun Sie mit Ihrem Entwurf nur teilweise. Natürlich müssen wir die Finanzaufsicht in Deutschland weiter stärken. Wir brauchen eine Aufsicht mit Biss, keine mit Gebiss.
Ihr Gesetzentwurf enthält einige völlig richtige Punkte. Der Staatssekretär hat eben darauf hingewiesen, dass ein Ausschuss für Finanzstabilität gegründet werden soll, in dem Bundesbank und BaFin zusammenarbeiten. In der Vergangenheit hat es in der Tat ein paar Probleme gegeben, was die Zusammenarbeit dieser Institutionen anging. Das muss verbessert werden.
Es ist auch richtig, dass Sie sich um die Frage der Besoldung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der BaFin kümmern. In Zukunft soll es möglich sein, mehr zu verdienen, als es nach den normalen Maßstäben im öffentlichen Dienst bei einer nachgeordneten Behörde eigentlich möglich wäre. Warum? Weil in der Vergangenheit die qualifiziertesten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der BaFin von Banken und Versicherungen abgeworben wurden, wo sie erheblich mehr Geld verdienen konnten. Es muss unser Ziel sein, die qualifizierten Menschen in der Bankenaufsicht zu halten.
Dann wollen Sie den Verwaltungsrat reformieren. Die Vertreter der Banken und Versicherungen in diesem Verwaltungsrat sollen sozusagen outgesourct werden und diesem Gremium nicht mehr angehören. Als Begründung heißt es:
Zum international geforderten Grundprinzip der Finanzaufsicht gehört ihre Unabhängigkeit von den beaufsichtigten Unternehmen.
Das ist völlig richtig. Das unterstreichen wir.
Ich selbst bin Mitglied im Verwaltungsrat und des Haushaltskontroll- und Prüfungsausschusses und habe viele Sitzungen dieser Gremien mitgemacht. Ich habe es aber bisher noch nicht erlebt, dass dabei von den Vertretern der Banken und Versicherungen auf die konkrete Kontrolltätigkeit Einfluss genommen wurde. Im Gegenteil: Ich habe erlebt, dass dort sehr konstruktiv zusammengearbeitet wurde. Ich glaube, auch der Kollege Troost kann dem zustimmen.
- Ich weiß, das ist vielleicht ein bisschen unfair. Bleiben wir einfach bei der Sache. - Wichtig ist, dass in diesem Rat Menschen Hinweise aus der Praxis geben können. Dies ist für die Arbeit dieses Gremiums unverzichtbar. Ich hoffe, dass Sie sich noch einmal Gedanken darüber machen und diesen Unsinn aus dem Gesetzentwurf streichen.
Ich fände es interessant, jetzt von der Bundesregierung zu hören, wie denn die einheitliche europäische Aufsicht, die bis Ende 2012 eingeführt werden soll, ausgestaltet werden soll. Welche Rolle soll die EZB spielen? Welche Rolle soll die EBA spielen? Das sind für uns ganz zentrale und wesentliche Fragen. Ich möchte noch einmal darauf hinweisen: Eine solche Aufsicht sollte nur für die großen, international agierenden Banken gelten. Die kleineren deutschen Banken sollten nach wie vor national beaufsichtigt werden.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Volker Wissing für die FDP-Fraktion.
Dr. Volker Wissing (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte den letzten Punkt, den Herr Kollege Zöllmer eben erwähnt hat, aufgreifen und für die Öffentlichkeit noch einmal deutlich darstellen, worüber Herr Zöllmer gerade gesprochen hat und welche Position die Sozialdemokratie hier eingenommen hat.
Bisher hat die Bankenaufsicht in Deutschland einen Verwaltungsrat, in dem zehn Vertreter der beaufsichtigten Unternehmen die Bankenaufsicht selbst kontrollieren können.
Die Vertreter der Wirtschaft, die beaufsichtigt wird, sitzen also selbst im Verwaltungsrat. Wir wollen, dass die Bankenaufsicht unabhängig wird. Deswegen haben wir einen Gesetzentwurf vorgelegt, nach dem künftig nicht mehr die zehn Vertreter der Wirtschaft die Aufsicht kontrollieren, sondern sechs unabhängige Experten.
Die Sozialdemokratie hat diesen Schritt zur Stärkung der Unabhängigkeit der Bankenaufsicht soeben für Unsinn erklärt. Meine Damen und Herren, das Gegenteil ist der Fall: Ihre Politik ist unverantwortlich. Sie sollten vielleicht darüber nachdenken, ob das, was Sie eben für die Sozialdemokratie erklärt haben, nach der Finanzkrise noch zeitgemäß ist.
Die Stärkung der Unabhängigkeit der Bankenaufsicht sind wir den Verbraucherinnen und Verbrauchern bzw. den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland schuldig. Wir erkennen an, dass bei der Aufsicht Sachverstand vorhanden sein muss. Deswegen sagen wir: Experten ja, aber keine Vertreter der Wirtschaft im Kontrollorgan der Aufsichtsbehörde. Ich schlage vor, die Sozialdemokratie ändert ihre Position und stimmt der Änderung des Gesetzentwurfs an dieser Stelle zu.
Die Bundesregierung hat auch deutlich gemacht, dass sie mit dem Gesetzentwurf die Punkte aufarbeitet, die wir in der Finanzkrise als Schwäche der deutschen Aufsicht ausgemacht haben. Beispielsweise fehlte ein Gremium, um präventiv zu agieren und frühzeitig Weichen stellen zu können. Mit dem neu zu schaffenden Ausschuss für Finanzmarktstabilität wird diese Lücke geschlossen.
Es ist klug, die Deutsche Bundesbank, das Bundesfinanzministerium, die BaFin, aber auch die Bundesanstalt für Finanzmarktstabilisierung in dieses Gremium mit einzubeziehen, damit auch Restrukturierungsfragen, die möglicherweise anstehen, frühzeitig und mit Bedacht berücksichtigt werden. Das ist verantwortungsvolle und vorausschauende Aufsicht. Deswegen ist es ein Schritt in die richtige Richtung. Es ist ein Schritt zur Stärkung der Stabilität des Finanzsektors in Deutschland.
Wir stärken die Aufsicht auch durch klare Zuständigkeiten, verbesserte Bezahlstrukturen für die BaFin und eine verbesserte Zusammenarbeit zwischen Bundesbank und Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht. Denn wir haben die Erfahrung gemacht, dass Kommunikationsprobleme zwischen zwei Aufsichtsbehörden erhebliche Auswirkungen haben können. Die Schwächen, die wir in der Vergangenheit erfahren und erkannt haben, wird es künftig nicht mehr geben. Die deutsche Aufsicht wird damit schlagkräftiger und effizienter, und sie wird eine stärkere Einheit der Prävention statt nur der Krisenintervention.
Selbstverständlich werden wir damit auch den Verbraucherschutz stärken. Der Umgang mit kollektiven Verbraucherfragen im Finanzsektor wird künftig eine zentrale Aufgabe der BaFin. Es wird ein Verbraucherbeirat und das gesetzliche Beschwerdeverfahren eingeführt, das Rot-Grün in den damaligen Aufsichtsstrukturen nicht vorgesehen hatte. Wir ergänzen das jetzt. Damit wird die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht effizienter, sie wird unabhängiger, sie wird verbraucherfreundlicher, und sie wird auch in stärkerem Maße zu einer Präventionseinheit in Deutschland. Das ist notwendig.
Ihre Äußerung, Herr Kollege Zöllmer, es gehe nicht mehr um nationale Aufsichtsstrukturen, sondern es müsse alles auf europäischer Ebene geregelt werden, weise ich entschieden zurück. Selbstverständlich brauchen wir auch in Zukunft eine nationale Finanzaufsicht, und zwar eine bessere, als Rot-Grün sie damals geschaffen hatte, eine unabhängigere und eine praxisnähere.
Das wird auf den Weg gebracht.
Dass wir auf europäischer Ebene Aufsichtsstrukturen brauchen, ist völlig unbestritten. Auch das hat die Bundesregierung in Angriff genommen. Sie hat mit viel Nachdruck dafür gesorgt, dass europäische Strukturen entstehen. Dass diese Strukturen weiter ausgebaut werden müssen, ist klar. Auch hierbei ist die christlich-liberale Koalition Vorreiter. Wir machen Druck, weil wir die Bankenaufsichtsstrukturen nicht so fortschreiben können, wie Sie sie uns überlassen haben.
Ich will noch einmal betonen: Dass Sie die Unabhängigkeit der Bankenaufsicht nicht hochschätzen, mögen Sie den Menschen in Deutschland erklären. Ich kann Ihnen jedenfalls für die FDP-Fraktion sagen: Für uns ist es ein zentrales Anliegen, dass nicht Unternehmen die Aufsicht kontrollieren, sondern dass der Primat der Politik in der deutschen Bankenaufsicht im Staat wiederhergestellt wird. Sie hatten das damals versäumt.
Sie verteidigen Ihre Politik von damals auch nach der Krise noch. Ich finde das bedauerlich und freue mich, dass wir Mehrheiten für eine bessere Bankenaufsicht in Deutschland haben.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Axel Troost für die Fraktion Die Linke.
Dr. Axel Troost (DIE LINKE):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Prinzip ist die heutige Debatte völlig unsinnig, weil erstens gestern beschlossen worden ist, dass sehr kurzfristig erhebliche Kompetenzen, betreffend die Bankenaufsicht, auf die europäische Ebene, zur EZB, verlagert werden sollen und weil zweitens die BaFin gerade ein großes Evaluierungsverfahren in Gang gesetzt hat, dessen Ergebnisse im September Berücksichtigung finden müssen; sonst wäre diese Evaluierung völlig unsinnig. Insofern führen wir hier eine Gespensterdebatte. Trotzdem ist es wichtig, sich mit dem vorliegenden Gesetzentwurf auseinanderzusetzen.
Ursprünglich wollte die Koalition festschreiben, dass allein die Bundesbank über die entsprechenden Kompetenzen verfügt. Aber nun wird das genaue Gegenteil umgesetzt. Wir haben von vornherein kritisch angemerkt, dass es nicht nur um die Organisation der Aufsicht, sondern auch darum geht, welche Spielregeln, also welche verschärfte Regulierung, in der Aufsicht zum Tragen kommen. In Sachen verschärfter Bankenregulierung haben Sie aus unserer Sicht bestenfalls die Saiten etwas gestimmt, um die Zahl der Misstöne zu reduzieren. Wir dagegen fordern weiterhin: Es müssen ganz andere Saiten aufgezogen werden. Man muss den großen Banken ein anderes Lied geigen, das Lied vom Schrumpfen, das Lied vom Ende der Spekulation und des Eigenhandels mit Wertpapieren, das Lied „Zurück zur Realwirtschaft“.
Ich halte fest: Schon bei der Regulierung passiert relativ wenig. Der Gesetzentwurf macht darüber hinaus deutlich, dass auch bei der Organisationsstruktur der Aufsicht oft der Mut fehlt. In der Tat ist die BaFin - das begrüßen wir sehr - eine Allfinanzaufsicht und ist als solche auch konzipiert. Aber wir stellen fest, dass der Austausch zwischen den Säulen völlig unzureichend ist. Alle, die in dieser Woche an den Beratungen des Finanzausschusses und an der gestrigen Sitzung des Verwaltungsrates der BaFin teilgenommen haben, haben erfahren, dass die Wechselwirkungen zwischen dem, was gegenwärtig bei der Bankenregulierung läuft, und dem, was bei der Versicherungswirtschaft geschieht - Stichwort „Solvency II“ -, nicht ausreichend berücksichtigt werden. Daher glauben wir, dass die existierenden Fehler nicht behoben werden.
Es wird hervorgehoben, dass nun als Neuerung ein gemeinsamer Ausschuss für Finanzstabilität eingesetzt wird. Dazu kann ich nur sagen: Das ist keine Neuerung, sondern im Prinzip nur die Fortentwicklung des bereits existierenden Ständigen Ausschusses für Finanzmarktstabilität. Dieser hat sehr schlecht gearbeitet. In der letzten Krise wurde gesagt, ein solcher Ausschuss sei nicht ausreichend; man müsse umfassendes Krisenmanagement betreiben.
Wie Sie sicherlich bemerken, trauen wir Ihrer Aufsichtsreform nicht. Wir können nämlich nicht erkennen, dass die Finanzaufsicht in der nächsten Krise nicht dieselben Dummheiten und Fehler machen wird wie beim letzten Mal. Als gestern gesagt wurde: „Wir prüfen im Einzelnen die Geschäftsmodelle“, habe ich wieder gefragt: Schreitet man denn ein, wenn ein Geschäftsmodell nicht solide ist? - Genauso wie damals bei der HRE wurde gesagt: Nein, das können wir nicht; wir sind ja nicht die besseren Banker.
Es ist also nicht ausgeschlossen, dass wir genauso wie damals bei der HRE auch in Zukunft zu hören bekommen: Wir haben zwar gesehen, dass sich die Bank monatelang in der Todeszone befand, aber wir konnten und durften nicht einschreiten. - Das geht so nicht. Wir müssen die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler davor bewahren, dass weitere Rettungsmilliarden in den Bankensektor gesteckt werden. Die Bankenaufsicht muss ganz anders - wesentlich schärfer und nach anderen Regeln - konzipiert werden.
Danke schön.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Gerhard Schick für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Dr. Gerhard Schick (BÃœNDNIS 90/DIE GRÃœNEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich wollte vorhin in der Tat eine Zwischenfrage stellen; denn die Informationslage am heutigen Morgen darüber, was sich in Europa abzeichnet, hat unmittelbare Relevanz für das, worüber wir jetzt diskutieren. Meine Frage lautet daher - und da die Bundesregierung in der Debatte jederzeit intervenieren kann, fände ich es gut, wenn sie sie auch beantworten würde -: Was bedeutet das, was die Kanzlerin auf dem Gipfel zugesagt bzw. unterzeichnet hat - dabei geht es um die Verlagerung der Aufsicht über große Banken auf die Europäische Zentralbank - für die Aufsichtsstruktur in Deutschland? Müssen Sie eigentlich diesen Gesetzentwurf komplett umschreiben? Müssen wir das völlig neu diskutieren? Oder kann man die vorgesehenen Maßnahmen in diesem Rahmen durchführen? Das sind doch ganz zentrale Fragen, welche auch die Beschäftigten interessieren. Da wir jetzt dieses Thema beraten, sollte uns die Bundesregierung darüber in Kenntnis setzen. Bevor Sie in Brüssel dieser Sache zugestimmt haben, werden Sie sich ja überlegt haben - das Thema ist schon einige Wochen in der Diskussion -, wie man das eigentlich in Deutschland umsetzen kann. Deswegen meine Aufforderung: Beantworten Sie bitte diese Frage, die Sie vorhin nicht beantworten wollten.
Wie ich feststellen muss, will die Bundesregierung diese Frage nicht beantworten. Das ist damit zu Protokoll gegeben.
In Bezug auf die Aufsichtsstruktur ist mir wichtig, noch einmal deutlich zu machen, dass hier gerade ein völlig falscher Eindruck erweckt worden ist. Zu Recht ist kritisiert worden, dass die Finanzaufsicht in Deutschland an vielen Stellen im Vorfeld der Krise und bei der Bewältigung der Krise Fehler gemacht hat. Die Analyse, die man in der Zeit der Opposition gemacht hat, Herr Wissing - es wurde damals von Ihnen von „Überforderung“, „Schön-Wetter-Institution“ usw. gesprochen -, muss irgendetwas mit dem zu tun haben, was man jetzt sagt. Man kann zwar die Tonlage modifizieren. Aber Sie verkündeten damals: Wir machen jetzt endlich Aufsicht aus einem Guss; denn eigentlich hat die Finanzaufsicht, die Rot-Grün eingeführt hat, in der Struktur völlig versagt. - Das waren Ihre Worte. Was Sie hier vorlegen, ist aber der Beleg dafür, dass Sie genau den bewährten Kern der rot-grünen Aufsichtsreform - nämlich die Allfinanzaufsicht, bei der Bankenaufsicht, Versicherungsaufsicht und Wertpapieraufsicht zusammengeführt wurden, weil man die Phänomene nur als Gesamtheit bearbeiten kann - unangetastet lassen. Geben Sie es, bitte, auch zu.
- Doch, Sie wollten die Bankenaufsicht auf die Bundesbank übertragen. Dabei sind Sie mit Ihren Vorgaben aus dem Koalitionsvertrag richtig schön gescheitert.
Ich will deutlich machen, dass es auch positive Punkte in diesem Gesetzentwurf gibt. Richtig finde ich es, dass der Ausschuss für Finanzstabilität dem Bundestag berichtet. Ich finde es auch richtig, dass die Branchenvertreter künftig nicht mehr im Verwaltungsrat vertreten sein sollen. Es gibt Praktiker, die mit den Verbandsvertretern nicht identisch sind. An dieser Stelle will ich auch Unterstützung signalisieren.
Es gibt aber einen großen Schwachpunkt, nämlich den gesamten Bereich des Verbraucherschutzes. Sie haben den Verbraucherschutz jetzt groß herausgestellt, Herr Koschyk. In der Substanz aber - das zeigt uns die Stellungnahme des Bundesrates - wird es für den Verbraucher an den entscheidenden Stellen nach wie vor fehlen.
Punkt eins. Ich finde, man sollte den Vorschlag des Bundesrates in puncto Finanzmarktwächter aufgreifen.
Punkt zwei. Wir brauchen endlich wirksame Kontrollen. Es kann doch nicht sein, dass die Stiftung Warentest bzw. ihre Zeitschrift Finanztest entsprechende Überprüfungen vornehmen und feststellen, dass reihenweise gegen die Anforderungen des Gesetzgebers verstoßen wird. Da muss eine Finanzaufsicht tätig werden. Sie darf da nicht einfach nur zuschauen. Hier gibt es einen Fehler. Das müssen Sie aufgreifen.
Punkt drei. Die Aufsicht über die freien Finanzanlagenvermittler - das ist ein weiterer guter Vorschlag des Bundesrates - muss auch mit hinein. Es gibt keinen Sinn, die Zuständigkeiten bei der Beaufsichtigung zu splitten.
Ein weiterer ganz entscheidender Vorschlag des Bundesrates, den ich unbedingt unterstütze, ist, dass eine Finanzaufsicht Produkte, die intransparent und komplex sind und an den privaten Kunden vertrieben werden sollen, verbieten kann. Es kann doch nicht sein, dass wir Produkte zulassen, auf denen obendrauf eine tolle Rendite steht, bei denen aber die Bedingungen im Kleingedruckten so gestaltet werden, dass diese Rendite im Normalfall überhaupt nicht zu erzielen ist. Das ist doch eine Lüge. Solche Produkte, bei denen der Verbraucher schon bei der Produktgestaltung eindeutig über den Tisch gezogen werden soll, müssen von einer Finanzaufsicht verboten werden können. Wenn das an dieser Stelle nicht möglich ist: Wozu haben wir dann eine Finanzaufsicht? An dieser Stelle sind unbedingt Änderungen erforderlich.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Nun hat Ralph Brinkhaus für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Ralph Brinkhaus (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst einmal möchte ich auf die Kritikpunkte der Opposition eingehen. Es hat leider ein Alternativvorschlag gefehlt. Ein früherer SPD-Vorsitzender hat einmal gesagt: „Opposition ist Mist“. Ich ergänze das: Opposition ist einfach, weil man nur kritisieren muss.
Dass wir Dinge, die im Koalitionsvertrag stehen, nicht umgesetzt haben, ist richtig. Wir haben gesagt: Wir wollen die Bankenaufsicht bei der Bundesbank zentralisieren. Dass diese Grundidee nicht ganz falsch war, sehen wir an den europäischen Überlegungen, die jetzt angestellt werden. Nichtsdestotrotz haben wir unser Vorhaben nicht umgesetzt. Ebenfalls nicht umgesetzt haben wir das, was mein ehemaliger Kollege Leo Dautzenberg gefordert hat: eine kombinierte Aufsicht bei der Bundesbank. Da sind wir einfach von der Realität eingeholt worden. Ich glaube, es ist besser, dass man sich korrigiert und das macht, was aus verschiedenen Gründen umsetzbar ist, als dass man ideologisch an seinen Positionen festhält.
Zum Thema Verbraucherschutz. Herr Schick, ich weiß, dass Sie eine Verbraucherpolizei wollen. Ich weiß, dass Sie die BaFin zur Verbraucherpolizei umbauen wollen. Aber das ist nicht unser Ansatz.
Die BaFin soll - da haben wir einige Verbesserungen erreicht - für einen kollektiven Verbraucherschutz sorgen. Das heißt, sie beobachtet das System, das Handeln der Institute und der Institutionen. Was wir nicht machen, ist, dass wir individuelle Verbraucherinteressen mithilfe der BaFin durchsetzen wollen. Dafür gibt es in Deutschland den Rechtsweg.
Dafür gibt es in Deutschland auch Verbraucherschutzorganisationen. Dementsprechend werden wir da wohl nicht zueinanderfinden.
Zum Thema Verwaltungsrat der BaFin und dessen Besetzung. Ich glaube, die dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zugrunde liegende Idee ist richtig und gut. Aber man sollte beides nicht überschätzen: weder die Kritik noch den Ansatz. Es ist wahrlich nicht der Kernpunkt dieses Gesetzes, dass der Verwaltungsrat der BaFin anders zusammengesetzt sein soll.
Was mich an diesem Gesetz viel mehr interessiert, ist die Frage: An welche Grenzen stoßen wir eigentlich mit den Vorgaben für Finanzaufsicht?
Wir können sehr gut Strukturen, gesetzliche Rahmenbedingungen festlegen. Die erste Grenze, an die wir stoßen, ist aber das Handeln in der BaFin selbst. Man muss sagen: Wir haben großen Respekt vor dem, was die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der BaFin machen. Aber wir stellen uns auch an der einen oder anderen Stelle die Frage: Wie ist es denn um das unternehmerische Mitdenken in der BaFin bestellt? Ist die Substanz oder die Form wichtiger? Ist es wichtiger, dass alle notwendigen Unterschriften geleistet worden sind, oder ist es wichtiger, dass unternehmerisch richtig gedacht wird? Wie sieht es mit der Bereitschaft der BaFin aus, selber Risiken einzugehen, Verantwortung zu übernehmen und für gemachte Fehler einzustehen? Das alles sind Dinge - zuzüglich der bereits angesprochenen Motivation der Mitarbeiter und der Tatsache, dass der BaFin immer wieder Mitarbeiter abgeworben werden -, die institutionsintern gelöst werden müssen. Das heißt, das ist eine Managementaufgabe der BaFin.
Wir sehen mit großem Gefallen, dass die neue Chefin der BaFin, Frau König, versucht, da Pflöcke einzuschlagen. Bei allem Respekt vor der bisherigen Arbeit der BaFin muss sich an dieser Stelle, glaube ich, noch einiges ändern. Wir wollen eine unternehmerisch denkende BaFin. Wir wollen eine risikoorientiert denkende BaFin. Wir wollen eine BaFin, die bei der Aufsicht zwischen kleinen und großen Instituten differenziert und die Proportionalität berücksichtigt. Da haben wir jenseits von dem, was wir gesetzlich verorten, noch eine Menge Luft nach oben. Wir würden uns freuen, wenn unsere Vorstellungen umgesetzt würden.
Eine weitere Grenze, an die wir stoßen, ist gerade angesprochen worden. Bei all den Finanzregulierungsmaßnahmen, die wir auf nationaler Ebene durchführen, müssen wir immer beachten, dass uns eine rasante europäische Entwicklung begleitet. Jetzt könnten wir natürlich Folgendes machen - die Grünen haben es eben gefordert -: Wir könnten so lange warten, bis auf europäischer Ebene alles geregelt ist. Das ist aber nicht die Politik dieser Bundesregierung und dieser Koalitionsfraktionen.
Wir regeln das, was wir regeln können, und zwar zu dem Zeitpunkt, an dem wir es regeln können. Das haben wir beim Restrukturierungsgesetz gemacht, das haben wir beim Verbot von Leerverkäufen gemacht, und das machen wir natürlich auch an dieser Stelle. Wenn wir neue Erkenntnisse über den europäischen Prozess und vielleicht auch über die Dinge haben, die gestern Abend angesprochen worden sind, dann werden wir das berücksichtigen. Dieser Gesetzentwurf ist in der ersten Lesung. Wir haben noch die Möglichkeit, Änderungen einzubringen. Die zweite und dritte Lesung dieses Gesetzentwurfs werden im Herbst erfolgen. Ich denke, dann sind wir durchaus klüger.
Die aktuellen europäischen Entwicklungen bedeuten zwangsläufig, dass sich die Arbeit der Finanzaufsicht in Deutschland verändern wird. Das heißt, Finanzaufsicht ist bei der technischen Umsetzung vieler Dinge auf europäischer Ebene gefordert. Es gibt Ratsarbeitsgruppen. Es gibt auch bei den europäischen Aufsichtsbehörden Expertenkreise. Da muss sich die BaFin einbringen. Dementsprechend ist eine Akzentverlagerung vom rein Nationalen zu einer Vertretung deutscher Interessen auf internationaler oder zumindest europäischer Ebene notwendig. Auch darauf muss sich die BaFin einstellen: von der Mentalität her, aber auch vom Personal. Darum bitten wir dringend.
Letzter Punkt, letzte Grenze. Finanzaufsicht soll überwachen. Wir haben uns jetzt mit der Finanzaufsicht als Institution beschäftigt. Wir müssen uns vielleicht auch einmal mit den Objekten dieser Überwachung beschäftigen. Ich stelle kurz vor Ende dieser Debatte heute am Freitagmittag die Frage: Ist ein Institut mit einer Bilanzsumme von mehr als 2 Billionen Euro, das in unzähligen Ländern dieser Erde aktiv ist, eigentlich noch überwachbar? Ist es intern überwachbar? Ist es durch eine Finanzaufsicht überwachbar, und wenn ja, von welcher Finanzaufsicht?
Wir müssen diese Frage ganz dringend beantworten. Ich glaube, die Pflicht eines Nachweises darüber, dass solch ein Institut überwachbar ist, liegt nicht beim Staat, sondern beim Institut selber.
Danke schön.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Annette Sawade für die SPD-Fraktion.
Annette Sawade (SPD):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher auf den Tribünen! Glücklicherweise befinden wir uns in der ersten Lesung dieses Gesetzentwurfes. So sind noch viele Korrekturen möglich; danke, Herr Brinkhaus, Sie haben den Tipp schon gegeben. Im Fall des hier von der Bundesregierung vorgelegten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der deutschen Finanzaufsicht ist das auch dringend geboten, und damit meine ich keineswegs nur redaktionelle Schönheitsfehler.
Werte Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen, Sie haben in Ihrem Koalitionsvertrag den Anlegerschutz großgeschrieben. Ich zitiere:
Wir wollen ein konsistentes Finanzdienstleistungsrecht schaffen, damit Verbraucher in Zukunft besser vor vermeidbaren Verlusten und falscher Finanzberatung geschützt werden.
Weiter heißt es:
Kein Anbieter von Finanzprodukten soll sich der staatlichen Finanzaufsicht entziehen können.
Nun frage ich Sie, wie das zu der weichgespülten Formel passt, die Sie hier vorlegen:
Die Aufsichtstätigkeit der Bundesanstalt sollte zukünftig Verbraucherfragen stärker berücksichtigen …
„Berücksichtigen“ heißt doch nichts weiter als: Wir haben es einmal erwähnt, es ist aber nicht unser primäres, unser eigentliches Ziel. - Ganz nach dem Motto: Schön, dass wir mal darüber geredet haben.
Sie schränken die Möglichkeiten der Verbraucherbeiräte noch weiter ein, indem Sie davon sprechen, dass die Aufsichtsziele dabei nicht beeinträchtigt werden dürfen. Damit ist klar: Die Etikette „Verbraucherschutz“ ist glatte Makulatur.
Sie wollen hier einen potenziellen Interessenkonflikt suggerieren, anstatt endlich anzuerkennen, dass eines der wesentlichen Aufsichtsziele, nämlich die Solvabilität der Finanzinstitute, das Vertrauen in sie voraussetzt. Wir spüren doch alle seit dem Ausbruch der Krise, wie es um das Vertrauen der Menschen in die Finanzwirtschaft und folglich auch in die sie gestaltende Politik bestellt ist. Alle stellen ein schlechtes Zeugnis aus, egal wohin man schaut.
„Die Kreditversager“, titelt die Stiftung Warentest in diesem Monat. Sie stellt dem Gros der Anbieter ein „niederschmetterndes Ergebnis“ aus. Jeder von uns hier im Hause kennt nur zu gut die vielen Schreiben und Mails der geprellten Anleger, der Menschen, die einem System vertrauten, das schon längst aus dem Ruder gelaufen war.
Die deutsche Finanzaufsicht stärken: Ja, da sind wir dabei. Sich den europäischen Entwicklungen anpassen: Ja, selbstverständlich, aber bitte nicht unter der einschränkenden Prämisse, ein verbindlicher Verbraucherschutz könne möglicherweise die Funktionsfähigkeit der Finanzmärkte ausbremsen.
Schließlich ist im europäischen System der Finanzaufsicht der Verbraucherschutz in allen drei Verordnungen verbindlich festgeschrieben. Das soll im deutschen Gesetz nicht möglich sein? Nein, so wollen wir das nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Die SPD-Fraktion hat bereits im Frühjahr dieses Jahres einen Antrag eingereicht, der diese Lücke im Verbraucherschutz schließen soll. Nochmals unsere Forderungen: Wir wollen eine Ergänzung der staatlichen Finanzaufsicht durch nichtstaatliche Organisationen als Finanzmarktwächter, also Organisationen mit Marktwächterfunktion.
Wir brauchen ein funktionierendes und gesetzlich abgesichertes Sprachrohr für die Verbraucherinnen und Verbraucher, eine Institution, die sie gegenüber Wirtschaft und Politik richtig vertritt. Mit „richtig“ meine ich „handlungsfähig“. Wir brauchen einen klaren Auftrag an die BaFin, im Interesse des kollektiven Verbraucherschutzes tätig zu werden, und nicht, wie vorhin angesprochen, im Interesse des individuellen Verbraucherschutzes.
Ein Verbraucherbeirat, wie unter § 8 a des vorgelegten Entwurfs zur Änderung des Finanzdienstleistungsaufsichtsgesetzes vorgesehen, geht zwar in die richtige Richtung, aber er reicht in dieser Form überhaupt nicht aus. Es muss sichergestellt sein, dass der Verbraucherbeirat nicht nur einbezogen wird, sondern auch ein Anhörungsrecht bekommt.
Wir wollen schließlich, dass für Verbraucherinnen und Verbraucher ein gutes Gesetz formuliert wird, mit dem auch sie von einer Stärkung der deutschen Finanzaufsicht profitieren. Ich finde es gut, dass der Finanzausschuss eine Anhörung für Anfang September beschlossen hat. Ich hoffe, dass dann auch die vielen wachsweichen Formulierungen als unzureichend erklärt werden.
Die Richtung des Gesetzentwurfs mag stimmen, aber die richtigen Zielmarken fehlen noch. Wir helfen gerne, sie zu setzen.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Liebe Kollegin, dies war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag, nachdem Sie in diesem Monat nachgerückt sind. Herzliche Gratulation und alles Gute für die weitere Arbeit.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/10040 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 47 a und 47 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren Lay, Sabine Leidig, Katja Kipping, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Kundenfreundliche Bahn für alle
- Drucksache 17/8605 -
Ãœberweisungsvorschlag:
A. f. Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
A. f. Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz
A. f. Tourismus
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Leidig, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Den Vorstand der Deutschen Bahn AG mit fachkundigem Personal besetzen
- Drucksachen 17/4838, 17/8383 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Ulrich Lange Beschlussfassung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Sabine Leidig für die Fraktion Die Linke das Wort.
Sabine Leidig (DIE LINKE):
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Werte Zuschauerinnen und Zuschauer! Wir haben im Februar dieses Jahres einen Antrag mit dem Titel „Kundenfreundliche Bahn für alle“ eingebracht. Anlass war damals die noch nicht lange zurückliegende neuerliche Preiserhöhung. Preiserhöhungen führen immer wieder zur Verärgerung von Bürgerinnen und Bürgern, die die Bahn benutzen, weil es ein Missverhältnis zwischen den ständigen Preiserhöhungen, die doppelt so hoch sind wie die allgemeinen Preiserhöhungen, und dem Service der Bahn gibt. Die Bahn bietet nicht die Annehmlichkeiten, die sie eigentlich bieten könnte, der Service ist nicht auf dem Stand, auf dem er sein sollte.
Ich weiß, dass es hier im Hause die Meinung gibt, dass sich die Bundespolitik komplett heraushalten muss, was die Ausrichtung der Deutschen Bahn AG anbetrifft. Ich bin da völlig anderer Meinung. In Art. 87 e des Grundgesetzes steht explizit, dass der Bund die Verantwortung für das Schienennetz und auch für die Angebote auf diesem Schienennetz hat und sich dieses Angebot am Allgemeinwohl zu orientieren hat.
Deshalb hat der Bundestag auch die Verantwortung, Ziele vorzugeben. Das heißt nicht, dass man sich in das operative Geschäft der Bahn einmischt, aber ähnlich wie die Schweizerischen Bundesbahnen, bei denen die Ziele völlig klar sind - zum Beispiel wie viele Fahrgäste gewonnen werden sollen, wie dicht das Streckennetz sein soll und wie die Bahnhöfe ausgestattet werden sollen -, muss auch die Deutsche Bahn AG an den Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger ausgerichtet werden.
Ich möchte die zentralen Punkte nennen, die aus unserer Sicht im Mittelpunkt einer solchen Ausrichtung stehen müssen. Am allerwichtigsten ist, dass die Bahn überhaupt vorhanden ist. Ich kann keine Kundinnen und Kunden gewinnen, wenn es gar keinen Bahnhof und keinen Bahnanschluss gibt. Faktisch wurde in den vergangenen 15 bis 20 Jahren das Streckennetz reduziert. Insbesondere in weiten Teilen Ostdeutschlands sind viele Städte und Gemeinden inzwischen vom Bahnverkehr abgekoppelt. Daran muss sich auf jeden Fall etwas ändern. Die Bahn muss eine Flächenbahn sein, zu der die Bürgerinnen und Bürger Zugang haben. Sie muss ein möglichst engmaschiges und intaktes Streckennetz haben, damit es verlässliche Fahrzeiten und verlässliche Zubringer zu den Knotenpunkten gibt.
Der zweite wesentliche Punkt ist, dass die Bahnhöfe so gestaltet sind, dass alle zum Zug kommen können. Fakt ist, dass immer noch 2 000 Bahnhöfe in dieser Republik nicht barrierefrei sind. Das heißt, ein Mensch, der im Rollstuhl sitzt, oder eine alte Frau, die mit dem Rollator unterwegs ist, hat keine Chance, an diesen Bahnhöfen in einen Zug zu steigen. Ich finde, angesichts der Vereinbarungen zur Inklusion und der Verabredungen, die auch international getroffen worden sind, ist es ein unhaltbarer Zustand, dass es immer noch keinen Zeitplan gibt, der festlegt, bis wann alle Bahnhöfe - übrigens auch alle Züge - barrierefrei gestaltet werden müssen. Wir schlagen vor, dass es einen Zeitplan geben muss, nach dem spätestens bis 2020 alle Bahnhöfe barrierefrei sind.
Dazu gehört auch, dass es an den Bahnhöfen Personal geben soll. Es ist viel einfacher, mit der Bahn zu fahren, wenn man jemanden etwas fragen kann. Die Bahnhöfe in den kleinen Gemeinden sind nicht gastlich. Ich bin seit zehn Jahren autofrei unterwegs, und ich kann Ihnen sagen: Wenn man abends in irgendeinem kleinen Ort auf einem unbeleuchteten Bahnsteig steht, keine Chance hat, irgendwo einen Raum aufzusuchen, weit und breit keine Toilette ist und schon gar niemand, den man fragen kann, was denn los ist, wenn der Zug, auf den man wartet, nicht kommt, dann ist das alles andere als kundenfreundlich.
Daran muss unbedingt etwas geändert werden. Mehr Personal, mehr Motivation beim Personal, das ist auf jeden Fall auch gut für die Kundinnen und Kunden.
Ich könnte jetzt noch eine ganze Reihe weiterer Punkte nennen; ich habe leider aber nur eine sehr kurze Redezeit. Ein entscheidender Punkt ist, dass wir ein Preissystem bekommen, das allen Menschen und nicht nur denen, die genug Kohle haben, das Bahnfahren möglich macht. Wir brauchen ein Sozialticket, auch im Fernverkehr. Wir wollen, dass viel mehr Leute eine Dauerfahrkarte haben, wie das in der Schweiz gang und gäbe ist. Wir brauchen einfach einen niedrigschwelligen Zugang, damit mehr Leute die Bahn, die für uns alle da ist, nutzen können.
Ich bitte den Bundestag, auf die Bahn in diesem Sinne freundlich, aber bestimmt Einfluss zu nehmen.
Danke.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Ulrich Lange für die CDU/CSU-Fraktion.
Ulrich Lange (CDU/CSU):
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich gebe ganz offen zu, dass es mir in Anbetracht der eigentlichen Probleme, die in diesem Hause heute noch zur Beratung anstehen, ein bisschen schwerfällt, jetzt über dieses Thema zu reden.
- Liebe Kollegin Leidig, wir haben das Thema nicht zum ersten Mal auf der Tagesordnung, aber wir werden es natürlich sehr sachlich - sehr sachlich! - behandeln.
Wir glauben durchaus sagen zu können, dass die Bahn in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht hat.
Ich möchte das Thema „Pünktlichkeit im Fernverkehr“ anführen. 2011 eine Steigerung von 72 Prozent Pünktlichkeit auf immerhin 80 Prozent Pünktlichkeit! Ich möchte die soziale und familienfreundliche Bahn anführen. Jugend BahnCard 25 bis zum 18. Lebensjahr: preisstabil. Ermäßigte BahnCard für Schüler, Studenten und Senioren: auch hier Preisstabilität. Das Angebot für Familien: Kinder bis 14 Jahre fahren in Begleitung ihrer Eltern oder Großeltern im Fernverkehr der DB kostenlos. Es waren im vergangenen Jahr immerhin über 4 Millionen Kinder, die die Bahn kostenlos befördert hat.
Auch die unentgeltliche Beförderung schwerbehinderter Menschen ist wesentlich erweitert worden. Wir waren gemeinsam - da war auch Ihr Kollege anwesend, liebe Frau Leidig - bei einem Frühstück zum Thema „Behinderte Menschen in der Bahn und Barrierefreiheit“. Ja, wir haben noch nicht überall Barrierefreiheit.
Aber wir sind sicherlich auch da ein großes Stück weitergekommen. Rund 3 800 der 5 400 Bahnhöfe sind zwischenzeitlich barrierefrei.
- Zwischenzeitlich! Man musste ja irgendwann einmal damit beginnen, Barrierefreiheit zu schaffen.
Wir haben im Infrastrukturbeschleunigungsprogramm 100 Millionen Euro für Bahnhöfe ausgegeben, auch für sehr kleine Bahnhöfe; das war breit gestreut. Das ist ein großer Erfolg unserer Koalition. Ich bitte Sie schon, zu respektieren, dass wir als Zwischenlösung dort, wo wir Barrierefreiheit heute noch nicht haben, ein Serviceangebot der Bahn - ein für die Nutzer kostenfreies Serviceangebot - zum Um-, Ein- und Aussteigen vorhalten. Es waren immerhin knapp 500 000 Serviceleistungen im vergangenen Jahr. Deswegen von einer kundenunfreundlichen Bahn per se zu sprechen, halten wir für falsch.
Ja, es gab Zeiten, da war die Bahn rein auf Rendite ausgerichtet, da war die Bahn für einen Börsengang aufgestellt. Ich glaube, dass wir mit unserem Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer und dem neuen Bahnchef Dr. Grube die Weichen zu einer neuen Bahn sehr deutlich gestellt haben. Sie fordern nicht zum ersten Mal effekthascherisch fachkundiges Personal. Das haben wir bereits.
Mit Dr. Grube hat sich an der Spitze des Konzerns viel geändert: Führungsqualität, Wirtschaftlichkeit, Management, Kundenfreundlichkeit. Die Fortschritte bei der Kundenfreundlichkeit wurden beim letzten Parlamentarischen Abend der DB parteiübergreifend von allen Seiten gelobt.
Natürlich kann man immer mehr fordern. Das macht sich gut. Dann darf ich Ihnen aber auch Ihren historischen Spiegel vorhalten; denn Sie wollen am Ende ein Zurück zur Holzklasse der alten DDR-Reichsbahn. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das werden wir nicht mitmachen.
So demokratisch, wie Sie immer wirken, wird es bekanntlich auch nicht sein.
Ich glaube, dass wir auf einem richtigen Weg sind. Es gibt Herausforderungen, die wir alle, die wir im Bereich der Bahn politisch tätig sind, kennen. Ich glaube aber auch, dass wir die Versäumnisse der Vergangenheit in den letzten Jahren angepackt haben und weitergekommen sind. Ich möchte mich an dieser Stelle - das wurde auch am Parlamentarischen Abend angesprochen - bei den cirka 300 000 Beschäftigten der Bahn ganz herzlich für ihre Kundenfreundlichkeit, ihren Einsatz und ihr Bemühen um die Bahn bedanken.
- Dafür werden die natürlich bezahlt. Trotzdem ist die positive Entwicklung der Bahn in den letzten Jahren ein großer Fortschritt, den wir auch gemeinsam, fraktionsübergreifend, festgestellt haben. Konstruktiv in der Zusammenarbeit, kundenorientiert und sozialmarktwirtschaftlich erfolgreich: Das ist unsere Bahn. So werden wir sie mit unserem Verkehrsminister und dem Konzernchef Grube weiter führen.
Herzlichen Dank.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Kollege Ulrich Lange. - Nächster Redner für die Fraktion der Sozialdemokraten ist unser Kollege Martin Burkert. Bitte schön, Kollege Martin Burkert.
Martin Burkert (SPD):
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren auf den Tribünen! „Das Verkehrsmittel Bahn gewinnt weiter an Attraktivität“, so lautet das Fazit des Vorstandsvorsitzenden Dr. Grube letzte Woche bei der Vorstellung des Wettbewerbsberichts. Ist das so? Wird die Bahn immer attraktiver? Ich sage eindeutig: Ja, sie wird immer attraktiver. Das ist gut so; denn die Bahn ist das Verkehrsmittel der Zukunft.
Viel wichtiger ist meiner Ansicht nach aber die Frage: Was können wir tun, damit noch mehr Menschen vom Auto auf den Zug umsteigen? Ein Entscheidungskriterium ist sicherlich für viele schlicht und einfach der Preis. Natürlich ärgern wir uns auch darüber, dass vor einem halben Jahr die Preise im Nah- und Fernverkehr und für die Platzreservierungen gestiegen sind. Auch die Preise für die BahnCards sind angehoben worden. Ich frage mich und das fragen zu Recht auch viele Bürgerinnen und Bürger, wie eine Preiserhöhung dazu motivieren soll, sich nicht für das Auto oder das Flugzeug zu entscheiden, sondern für die Bahn.
Wir wollen, dass die Pendler, Ausflügler und Familien auf das Auto verzichten und mit dem Zug fahren. Deswegen wäre es gut, wenn das Bahnfahren in Deutschland billiger würde.
Herr Staatssekretär Ferlemann, ich fordere deshalb die Bundesregierung auf, zu einem Bahngipfel einzuladen; Sie treffen sich ja sowieso ständig mit der Bahnindustrie. Der Bund als Eigentümer der Deutschen Bahn AG ist hier an erster Stelle gefordert, für eine kundenfreundliche Bahn einzutreten und entsprechende Maßnahmen umzusetzen.
Wir müssen die Bahn von Steuern entlasten. In diesem Zusammenhang möchte ich konkret zwei Ansatzpunkte nennen:
Erstens. In keinem anderen Land der Welt, außer in Deutschland, zahlt die Bahn den vollen Mehrwertsteuersatz. Deshalb ist in einem ersten Schritt die Bahn von der Mehrwertsteuer zu befreien oder zumindest die Mehrwertsteuer zu senken.
Zweitens. In keinem anderen Land der Welt schlägt die Mineralölsteuer derart zu Buche wie bei uns. Hier gibt es noch großen Spielraum für günstigere Fahrpreise. Die Bundesregierung spricht immer über Steuererleichterungen - ich schaue von mir aus nach rechts -; im Bahnverkehr wären sie sinnvoll, sowohl im Personen- als auch im Schienengüterverkehr.
Die Krux ist natürlich, dass diese Erleichterungen schließlich bei den Bahnfahrenden ankommen müssen. Hier sind sowohl die Bundesregierung als auch die Bahnen in der Pflicht. Wenn ich die Vorstände der Bahnen in Deutschland jedoch richtig verstehe, würden sie den Preisvorteil im Falle von Steuererleichterungen direkt an die Kunden weitergeben.
Wenn wir über eine kundenfreundliche Bahn reden, dann kommen wir um das Thema „mehr Investitionen in die Infrastruktur“ nicht herum. Das ist ein altes, leidiges Thema. Bei Verkehrspolitikern herrscht da sicherlich Konsens. Dafür muss die Bahn mehr Geld in die Hand bekommen, und der Bund muss mehr Geld in die Hand nehmen. Uns bekannte Untersuchungen gehen alle davon aus, dass hierfür mindestens 5 Milliarden Euro im Jahr notwendig wären; noch nicht berücksichtigt sind dabei 11 Milliarden Euro zur Beseitigung des Investitionsstaus bei der Schiene.
Wir müssen weitere Strecken elektrifizieren, stillgelegte Gleisanschlüsse reaktivieren und veraltete Infrastruktur erneuern. Unter Schwarz-Gelb ist leider der Grundsatz „Schiene vor Straße“ verloren gegangen. Wir werden ihn wieder aufnehmen, wenn wir in diesem Hause wieder regieren.
Ich spreche nicht nur von der DB AG, sondern natürlich auch von den Mitbewerbern. Schienenwettbewerb kann gerade im Regionalverkehr zu Verbesserungen für die Kunden führen; das haben wir in den letzten Jahren erlebt. An dieser Stelle möchte ich festhalten: Wenn Wettbewerb im Bahnverkehr irgendwo funktioniert, dann ist das in Deutschland. Mehr als 360 Unternehmen sind im deutschen Schienennetz unterwegs. Es hat eine sehr interessante Umfrage gegeben. Diese rund 360 Unternehmen sind im Rahmen einer Umfrage in der letzten Woche bewertet worden. Dabei hat die DB Netz AG die Note 1,98 erhalten, also die Schulnote „Gut“. Auch das war noch nie der Fall.
Dennoch stehen wir im Regionalverkehr vor einem großen Problem; denn dort geben die Länder vor, wo gefahren wird. Sie bezahlen dafür, wenngleich der Bund über 7 Milliarden Euro dazugibt. Es wird also dort gefahren, wo bestellt worden ist. Es ist ein häufiger Irrglaube, dass die Bahn schuld sei, wenn irgendwo nicht gefahren wird. Die Länder geben die Strecken vor.
Aus unserer Sicht ist das aber oftmals zu wenig. Im Regionalverkehr gibt es sicherlich Lücken, da ärgert man sich zu Recht.
Wir haben im Dialogpapier unserer Projektgruppe „Infrastrukturkonsens“ einen sogenannten Deutschland-Takt für die Bahn gefordert. Im Kern geht es dabei um die Frage, ob wir damit rechnen müssen, dass bestimmte Großstädte in Deutschland nicht mehr von der Bahn angefahren werden. Wir müssen deshalb in der Zukunft sicherstellen, dass der Personennah- und -fernverkehr sowie der Güterverkehr auf der Schiene noch besser aufeinander abgestimmt werden.
Ich fasse unsere Forderungen zusammen: erstens einen Bahngipfel für billigere Fahrkarten, zweitens mehr Investitionen in die Schiene - ich denke, da wird sich das Haus einig sein - und drittens einen fairen Schienenwettbewerb. Es ist Aufgabe der Politik, dafür zu sorgen, dass die Bahnen mehr auf Kundenfreundlichkeit achten.
An dieser Stelle möchte ich mich hier im Hohen Haus bei allen Eisenbahnerinnen und Eisenbahnern bedanken, die tagtäglich den geforderten Kundenservice in die Tat umsetzen - das hat in den vergangenen Monaten erheblich zur Verbesserung der Kundenakzeptanz beigetragen -, und das, obwohl vor allem in den Reisezentren Personal eingespart wurde. Herzlichen Dank allen Eisenbahnerinnen und Eisenbahnern.
Gestatten Sie mir zum Schluss eine Bemerkung zu einem aktuellen Vorgang. Vorgestern Nacht haben Metalldiebe eine Bahnstrecke in Niedersachsen stundenlang lahmgelegt. Kleinere Diebstähle gab es schon öfter, in dieser Größenordnung noch nicht. Fern- und Güterzüge mussten rund acht Stunden lang umgeleitet werden, Nahverkehrszüge fielen völlig aus. Diebstahl an der Infrastruktur darf nicht zugelassen werden, hierin sind wir uns sicherlich alle einig. Ich fordere Bundesminister Friedrich und Sie stellvertretend für die Bundesregierung auf, alles politisch Notwendige zu veranlassen, damit die Sicherheit auf Deutschlands Schienen gewährleistet ist. Wir dürfen uns das nicht bieten lassen.
Es ist sicherlich gut, dass die Bahn künftig mit markierten Metallteilen arbeiten wird, um solche Diebstähle hoffentlich einzudämmen; denn Metalle, die farblich gekennzeichnet sind, sind nicht mehr zu verwenden. Trotzdem muss alles unternommen werden, damit dieser Diebstahl schnellstmöglich aufgeklärt wird. Es muss hart durchgegriffen werden.
In diesem Sinne: Herzlichen Dank.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Herr Kollege Martin Burkert. Nächster Redner für die FDP-Fraktion ist unser Kollege Patrick Döring. Bitte schön, Kollege Patrick Döring.
Patrick Döring (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die vorliegenden Anträge der Linksfraktion kann man in einem Satz zusammenfassen: Vorwärts Genossen, wir wollen zurück,
zurück zu einer Bahn, bei der Parlamentarierinnen und Parlamentarier entscheiden, wo ein Zug fährt und wo er hält, wie Sitzplätze angeordnet sind und wie viel Verlust die Eisenbahn für den Bundeshaushalt am Ende machen darf.
Vor der Organisationsprivatisierung der Deutschen Bahn und der Deutschen Reichsbahn haben die gesammelten Fahrgasteinnahmen im Schienenverkehr nicht ausgereicht, die Personalkosten des Unternehmens zu decken.
Davon wollten wir weg, und ich sage Ihnen: Es ist gut, dass wir davon weg sind.
Eine dauerhafte Subventionierung einzelner Verkehrsträger aus dem Bundeshaushalt über die Infrastruktur hinaus ist angesichts der Verschuldung in unserem Staat weder sachgerecht noch vernünftig. Es wird der Eindruck erweckt, seitdem sei Bahnfahren schlechter geworden. Für die FDP-Fraktion weise ich diesen Eindruck ausdrücklich zurück. Seit der Organisationsprivatisierung ist der Fernverkehr attraktiver denn je, es fahren mehr Menschen im Fernverkehr als je zuvor. Der Nahverkehr ist gegenüber Anfang der 90er-Jahre ebenfalls attraktiver geworden. Das ist der Erfolg der letzten Jahre.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Kollege Patrick Döring, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Gerd Müller?
Patrick Döring (FDP):
Gern.
Dr. Gerd Müller (CDU/CSU):
Herr Kollege Döring, die Bahn ist im Bereich Fernverkehr besser geworden, da stimme ich Ihnen zu. In den Bau des Bahnhofs in Berlin und in den Ausbau der ICE-Strecken, auf denen ich sehr gerne fahre, wurden Milliarden investiert. Nehmen Sie aber bitte zur Kenntnis, dass es auch eine Bahn in der Fläche gibt: die Regionalbahnen? Nun können Sie sagen: Das ist Sache der Länder. Ich sage Ihnen: Das ist auch die Bahn. Würden Sie bitte auch zur Kenntnis nehmen, dass in Deutschland in den letzten Jahrzehnten das Angebot im Nahverkehr ausgedünnt wurde? Dadurch haben sich die Fahrzeiten zum Teil erheblich verlängert, der Kundenservice hat sich verschlechtert. Sind Sie mit mir einer Meinung, dass 50 Prozent der Bahnkunden auf Zulaufstrecken zu den Stammstrecken kommen?
Wir dürfen den Fokus nicht nur allein auf die zentralen Strecken zwischen den Metropolen richten, auch der ländliche Raum sollte am Fortschritt partizipieren.
Patrick Döring (FDP):
Geschätzter Herr Kollege Müller, ich bin entschieden Ihrer Auffassung. Ich will die Gelegenheit aber nutzen, noch einmal klarzumachen, wer dafür zuständig ist. Das ist das allererste Mal, dass ich einen CSU-Kollegen ganz offensichtlich dafür bedauern muss, dass er in Bayern wohnt;
denn die Länder entscheiden, wie der Nahverkehr in der Fläche aussieht, indem sie den Nahverkehr bestellen.
Dieses Hohe Haus, der Deutsche Bundestag, gibt mehr als 7 Milliarden Euro für die Finanzierung des Nahverkehrs in Deutschland aus.
Wenn die Bundesländer den Nahverkehr in einem wettbewerblichen Sinn bestellen, dann bekommen wir gute Qualität und gute Taktzeiten. Deshalb reiche ich diese Frage sehr gerne an die Kolleginnen und Kollegen Ihrer Fraktion im Landtag weiter, aber auch an die Kolleginnen und Kollegen meiner Fraktion.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Eine Entgegnung ist jetzt nicht möglich. Die Frage wurde gestellt, und sie wurde beantwortet. Der Kollege Patrick Döring fährt in seiner Rede fort.
Patrick Döring (FDP):
Ich will gerne einen Teil meiner Redezeit auf den ländlichen Raum verwenden. Eines sage ich ganz offen, geschätzter Herr Kollege Müller - auch hier liegt die Linkspartei falsch -: Es hat in der Verantwortung der Großen Koalition und der jetzigen Koalition keine unverantwortlichen Streckenstilllegungen und keinen Abbau von Schienenwegen gegeben.
- Natürlich behaupten Sie das. In Ihrem Antrag behaupten Sie das fortwährend. - Der wesentliche Teil des Abbaus von Infrastruktur hat stattgefunden - damit komme ich zu dem Beitrag des Kollegen Burkert -, als die Sozialdemokraten den Verkehrsminister gestellt haben, in unserer Verantwortung jedenfalls nicht.
Frau Kollegin Leidig, in Ihrem Antrag gibt es eine Masse Widersprüche. Man kann nicht auf der einen Seite einen integralen Taktfahrplan für Deutschland fordern, den wir bei den Fernverkehren übrigens weitgehend haben - wir nennen ihn nur nicht so -, und gleichzeitig eine Sitzplatzgarantie und den jederzeit möglichen Einsatz von Ausgleichszügen fordern. Ich kann keinen Fahrplan drucken, wenn ich gleichzeitig nach Bedarf Züge fahren lassen will. Das wird nicht funktionieren. Das zeugt von der blanken Unkenntnis Ihrer Fraktion beim Thema Eisenbahnverkehr.
Man kann übrigens auch nicht für mehr Sitzplätze im ICE eintreten und gleichzeitig Sitzplatzkapazitäten dadurch infrage stellen, dass man zusätzliche Fahrradmitnahmemöglichkeiten schafft. Eines geht nur. Die Menschen können nur dort sitzen, wo Stühle sind, und nicht dort, wo mitgenommene Fahrräder stehen. Das Problem ist bekannt.
Die Qualität des Bahnverkehrs hängt wesentlich von der Eisenbahnindustrie ab. Wir leiden darunter - mit vielen Kollegen in diesem Hause bin ich dabei, dies zu verändern -, dass die deutsche Eisenbahnindustrie zu schwerfällig ist, um rollendes Material zu liefern, das von den Unternehmen bestellt wird. Wir könnten heute einen viel attraktiveren Fernverkehr in Deutschland, in Europa und insbesondere im Metropolenverkehr haben, wenn die deutsche Bahnindustrie in der Lage wäre, gutes rollendes Material nach der Bestellung zeitnah zu liefern.
Das ist leider ein Problem in Deutschland. Man mag nicht glauben, dass das in einem so industrialisierten Land der Fall ist.
Die Organisationsprivatisierung der Deutschen Bahn ist eine Erfolgsgeschichte - durch und durch. Die Idee, Fahrpläne, Bahnhöfe, Strecken und Fahrpreise wieder im Deutschen Bundestag festzulegen, ist wirklich abwegig. Ich sage: Auch Teile dessen, was der Kollege Burkert hier für die sozialdemokratische Fraktion gefordert hat, sind aus meiner Sicht mit der politischen Realität schwer vereinbar. Das ist nur aus der Opposition heraus leicht zu fordern.
Wir werden heute gewaltige Anstrengungen unternehmen, um einen wesentlichen Beitrag dafür zu leisten, dass auch in Deutschland weiter der Weg der Konsolidierung beschritten wird. Angesichts der Tatsache, dass wir im Bundeshaushalt fast 5 Milliarden Euro für die Infrastruktur Schiene und über 7 Milliarden Euro für den Nahverkehr zur Verfügung stellen, kann ich mir nicht vorstellen, dass die Sozialdemokratie ernsthaft weitere Löcher in den Haushalt reißen will, indem man Steuersenkungen für den Eisenbahnverkehr verspricht - diese Steuersenkungen müssten dann übrigens auch für den privaten Eisenbahnverkehr gelten; darauf möchte ich bei dieser Gelegenheit hinweisen - und indem man zusätzliche Milliarden für die Infrastruktur zur Verfügung stellt. Das wird ganz sicher nicht gehen.
Ein letztes Wort zum Wettbewerb - das ist ein Thema, das den Liberalen sehr am Herzen liegt, wie wir alle wissen -: Der Hinweis auf die 300 Wettbewerbsbahnen geht ein Stück weit fehl. Wir haben einen funktionierenden Wettbewerb im Güterverkehr, wir haben überhaupt keinen Wettbewerb im Schienenfernverkehr, und wir haben einen unterschiedlich ausgeprägten Wettbewerb im Schienenpersonennahverkehr. Es gibt Bundesländer, in denen 30 Prozent Wettbewerbsbahnen sind, aber es gibt leider auch noch monopolisierte Nahverkehrsstrukturen, insbesondere im Süden der Republik. Wir sehen: Dort, wo wettbewerblich ausgeschrieben wird, werden nicht nur die Wettbewerbsbahnen gut, sondern ist auch die DB Regio besser geworden. Ich persönlich freue mich, dass die DB Regio in wettbewerblichen Ausschreibungen wieder gute Ergebnisse erzielt und viele Strecken mit einem tadellosen und attraktiven Angebot für die Bürgerinnen und Bürger bedient. Ich gebe dem Kollegen Müller recht: Die Eisenbahn wird in der Fläche und in den Städten als Massenverkehrsmittel wahrgenommen. Dass uns das in Deutschland trotz aller Schwierigkeiten so gut gelingt, ist Verdienst der Bahn und der Mitarbeiter der Bahn und, Gott sei Dank, nicht dieses Hauses.
Herzlichen Dank.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Kollege Patrick Döring. - Nächste Rednerin ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin Frau Dr. Valerie Wilms. Bitte schön, Frau Kollegin Dr. Wilms.
Dr. Valerie Wilms (BÃœNDNIS 90/DIE GRÃœNEN):
Vielen Dank. - Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Fast drei Jahre bin ich jetzt im Bundestag. Es war eben interessant, zu sehen, wie weit sich die Koalition schon zerlegt hat; sonst wären solche Zwischenfragen wohl nicht erforderlich.
Nun zum Thema. Es ärgert mich, wenn ich das x-te Papier lese und darin auf grundlegende Fragen, die wir haben, keine Antworten finde. So ist es bei diesen Bahnanträgen der Linken, die wir heute behandeln, leider auch. Sie haben eine gewisse Methode: Sie analysieren viel, Sie packen dann ein paar Wünsche dazu, und fertig ist der Antrag.
Fragen wir dann nach der Umsetzung oder gar nach der Finanzierung, bekommen wir keine Antworten. Fehlanzeige. Dazu steht nichts in den Anträgen.
Sie möchten eine kundenfreundliche Bahn; so überschreiben Sie Ihren Antrag. Die möchte ich natürlich auch. Leider bleibt für mich völlig unverständlich und unklar, wie Sie dies erreichen wollen. Würde man Ihren Vorstellungen zur Bahn folgen, müsste man in die laufende Geschäftspolitik der Aktiengesellschaft Deutsche Bahn eingreifen.
Das können Sie sich wünschen, aber hier setzt das Aktienrecht ganz bewusst enge Grenzen. Auch wenn es den Linken nicht gefällt: Entweder erkennen Sie das geltende Recht an, oder Sie machen einen Vorschlag, wie es geändert werden soll. Davon habe ich nichts gesehen.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Frau Kollegin Dr. Wilms, es gibt den Wunsch nach einer Zwischenfrage aus der Fraktion Die Linke. Wollen Sie diese gestatten?
Dr. Valerie Wilms (BÃœNDNIS 90/DIE GRÃœNEN):
Ja, das können wir ja einmal probieren.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Bitte schön.
Sabine Leidig (DIE LINKE):
Frau Wilms, ich würde Sie erstens gerne fragen, ob Sie sich darüber im Klaren sind, dass auch die Schweizer Bahn eine Aktiengesellschaft ist.
Dort werden sehr wohl konkrete Ziele festgelegt, wie die Bahn entwickelt werden soll.
Zweitens möchte ich fragen, ob Sie wissen, dass die Schweizer Bahn, obwohl sie sehr viel dichter fährt und sehr viel kundenfreundlicher ist - es gibt praktisch keine Bahnhöfe ohne Personal -,
insgesamt nur ein Drittel von dem benötigt, was die Deutsche Bahn AG an öffentlichen Zuschüsse braucht. Warum? Das Geheimnis ist: mehr Fahrgäste, mehr Einnahmen. Ich würde gerne von Ihnen wissen, ob Ihnen klar ist, dass die Schweizer Bahn mit diesem Konzept deutlich besser fährt.
Dr. Valerie Wilms (BÃœNDNIS 90/DIE GRÃœNEN):
Kollege Pronold hat gerade einen kleinen Hinweis auf das Steuerabkommen gegeben.
Unser Netz ist dreimal so groß wie das Netz der Schweizer Bahn. Beim besten Willen, werte Kollegin, wir können durchaus strategische Ziele für eine Aktiengesellschaft festlegen, aber wir greifen nicht in die Einzelmaßnahmen ein. Das heißt, wir haben als Politik nicht festzulegen, wie hoch der Fahrpreis ist. So etwas ist nicht unsere Aufgabe. Wir haben auch nicht zu behandeln, wie mit dem Problem der Klimaanlagen umgegangen werden soll. Auch Preissenkungen - dies hat Kollege Burkert vorgeschlagen - sind nicht hier im Deutschen Bundestag zu behandeln; schließlich handelt es sich um eine Aktiengesellschaft. Wenn die Linken das wollen, dann müssen sie die Rechtsform der DB ändern. Dazu finde ich bei Ihnen kein einziges Wort.
So kann man keine ernsthafte Politik machen. Sie reden gerne von einer Bürgerbahn. Aber was das konkret bedeutet, sagen Sie uns nicht. Wahrscheinlich wissen Sie selber nicht, wie Sie es machen wollen. Wollen Sie etwa zurück zur Behördenbahn? Ich nicht. Leider sperren Sie sich gegen alles, das wirklich etwas bringen würde. Von Wettbewerb halten Sie wenig. Dabei ist es so offensichtlich: Wo es Monopole gibt, steigen die Preise. Wo echter Wettbewerb herrscht, da fallen sie. Wir kennen das von Post und Telekom. Nur bei der Bahn soll die Welt auf einmal völlig anders sein. Diese Realitätsverweigerung, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist unglaublich.
Man kann beobachten, wie sich die Angebote im Regionalverkehr verbessert haben. Hier hat die DB immer mehr Konkurrenz. Selbst die DB gibt zu - Kollege Döring hat das eben deutlich dargestellt -, dass sich dadurch auch die Angebote der DB verbessert haben. Deswegen müssen wir auch im Fernverkehr für Wettbewerb sorgen - wir haben ja eben festgestellt, dass es ihn dort noch nicht gibt - und die Schienenstrecken allen Unternehmen zu gleichen Bedingungen zur Verfügung stellen. Das tun wir nämlich nicht.
Heute hat die Bahn einfach zu viele Hebel, um Mitbewerbern das Leben schwer zu machen. Darum ist unsere Forderung, das Schienennetz aus dem DB-Konzern herauszulösen und unmittelbares Eigentum des Bundes werden zu lassen,
und zwar als GmbH oder Anstalt des öffentlichen Rechts, damit Politik, Verbände und Verkehrsunternehmen über den Aufsichtsrat direkt Einfluss nehmen können.
So ist die Aufgabe der Daseinsvorsorge zu lösen. Dann hätten wir ein Netz, auf dem wirklich alle zu gleichen Bedingungen fahren könnten.
Heute sieht die Realität anders aus: Weitestgehend zahlt der Bund für das Schienennetz. Die DB erhöht gleichzeitig die Nutzungsgelder immer mehr und zieht die Mittel wieder ab. Die Bundesmittel werden dann zu Gewinnen der DB-Holding und landen in Minenbeteiligungen oder Zügen in der Wüste. Das können wir nicht länger hinnehmen. Das müssen wir ändern. So, liebe Kolleginnen und Kollegen, sieht praktische Politik aus. Das wollen wir in der Zukunft erreichen.
Herzlichen Dank.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Wilms. - Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der CDU/CSU Kollege Thomas Jarzombek. Bitte schön, Kollege Thomas Jarzombek.
Thomas Jarzombek (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Uns liegen heute zwei Anträge der Linksfraktion vor. Die Antworten, die Sie geben, scheinen ganz einfach zu sein: Der Staat muss die Kontrolle über die Bahn übernehmen. - Ich glaube aber, dass der Staat das nicht gut kann.
Ich möchte Ihnen ein konkretes Beispiel schildern, an dem Sie sehen können, wie der Staat eine Strecke heruntergewirtschaftet hat. Auf der Linie S 28 von Kaarst nach Mettmann hat die Deutsche Bahn - bis Anfang der 90er-Jahre noch die Staatsbahn - immer mehr Fahrgäste verloren. 1998 hatte sie nur noch 512 Fahrgäste pro Tag. Dann hat die Bahn gesagt: Es lohnt sich nicht mehr.
Es kam ein privater Unternehmer. Er hat die Strecke und die Bahnhöfe auf Vordermann gebracht und acht neue Züge vom Typ „Talent“ gekauft. Und siehe da: In der Zeit von 1999 bis 2011 sind aus 512 Fahrgästen pro Tag 23 550 Fahrgäste pro Tag geworden, und der Takt wurde von 60 auf 20 Minuten verkürzt. Im Übrigen: Service und Sauberkeit sind wichtige Bestandteile der Strategie dieses mittelständischen Betriebes.
Das zeigt, dass wir mehr und nicht weniger Wettbewerb brauchen.
Frau Leidig, wenn Sie sagen: „Das soll überall so sein“, dann stimmen wir Ihnen an dieser Stelle vollkommen zu. So haben wir 1994 mit der Bahnreform begonnen und die Privatisierung sowie den Wettbewerb im Regionalverkehr ans Laufen gebracht. Das ist eine Erfolgsgeschichte.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Herr Kollege Jarzombek, gestatten Sie eine Zwischenfrage unserer Kollegin Sabine Leidig?
Thomas Jarzombek (CDU/CSU):
Jederzeit.
Sabine Leidig (DIE LINKE):
Herr Jarzombek, Sie sprachen von einer Zeit vor der Bahnprivatisierung und einer Zeit nach der Bahnprivatisierung bzw. der Bahnreform, wie Sie es nennen. 1993/1994 war die Zäsur; da haben Sie völlig recht. Ist Ihnen bewusst, dass seit dem Jahr 1994 7 000 Kilometer Bahnstrecke in Deutschland stillgelegt worden sind, Tausende Bahnhöfe geschlossen worden sind und die Zahl der Mitarbeiter bei der Bahn etwa halbiert worden ist? Wie bringen Sie das mit Ihrer Vision von einem flächendeckenden Bahnverkehr in Übereinstimmung?
Thomas Jarzombek (CDU/CSU):
Eigentlich müssten Sie jetzt Ross und Reiter benennen. Dann könnten wir konkret über die Bahnhöfe sprechen, von denen Sie glauben, dass man sie hätte erhalten müssen, weil sie im Hinblick auf die Akzeptanz wichtig sind. Ich kann Ihnen nur sagen, wie sich die Fahrgastzahlen seit 1994 entwickelt haben. Das ist es, worauf es ankommt.
- Bleiben Sie bitte stehen, nicht hinsetzen.
- Natürlich ist das die Antwort auf Ihre Frage. Sie haben gefragt, ob ich weiß, wie viele Menschen in der Fläche seit 1994 die Züge benutzten. Die Antwort liefere ich Ihnen gerade.
- Der Regionalverkehr, Stichwort „Regionalisierung“. Hier haben wir den Wettbewerb eröffnet.
1994 waren es 29 694 Millionen Personenkilometer, 2011 waren es 42 312 Millionen Personenkilometer.
- Der Regionalverkehr, nicht der Fernverkehr. - Deshalb ist die Bahnreform von 1994 ein Riesenerfolg.
Es gibt in diesem Lande ganz viele Regionalbahnen wie die Regiobahn, die die S 28 zwischen Kaarst und Mettmann betreibt, von der ich Ihnen berichtet habe.
Ich danke nicht nur den Mitarbeitern der Deutschen Bahn für ihren Einsatz, sondern auch den Mitarbeitern all dieser Privatbahnen. Es zeigt sich, dass diese vielen privaten Unternehmen es in 15 Jahren geschafft haben, mehr als ein Drittel an zusätzlichen Fahrgästen im Regionalverkehr zu generieren, und das ist ein Erfolg.
Wir müssen allerdings noch einen Schritt weitergehen. Schauen Sie sich an, wie groß der Wettbewerbsanteil ist. Beim Schienengüterverkehr sind wir mittlerweile gut unterwegs. 26 Prozent der gefahrenen Tonnenkilometer werden hier von Privaten abgedeckt. Beim Regionalverkehr haben sich die Wettbewerber mittlerweile einen Marktanteil von 13 Prozent erschlossen. Im Schienenpersonenfernverkehr gibt es hingegen de facto überhaupt keine Konkurrenz zur Deutschen Bahn AG.
Sie haben in Ihrem Antrag natürlich viele Dinge aufgezählt, die wir auch wollen. Von der Barrierefreiheit an Bahnhöfen bis zur Fahrradmitnahme im ICE - es ist ein ganzes Paket, das wir auch wollen. Die Frage ist nur: Wie erreichen wir das? Ich glaube, dass wir das nur erreichen können, wenn wir auch im Fernverkehr mehr Wettbewerb schaffen.
Das ist der Grund dafür, dass wir noch in diesem Jahr ein Eisenbahnregulierungsgesetz auf den Weg bringen werden.
Mit diesem Eisenbahnregulierungsgesetz werden wir die Wettbewerbsmöglichkeiten deutlich verbessern. Wir werden in diesem Eisenbahnregulierungsgesetz Regelungen zum Zugang zu Fahrkartenautomaten bis hin zu Regelungen zu den Stationsentgelten verankern und damit dafür sorgen, dass es mehr Wettbewerb und damit ein Mehr an Kundenservice und eine größere Orientierung an den Bahnkunden in Deutschland geben wird.
Lassen Sie mich zum Abschluss noch einige Worte zu Ihrem zweiten Antrag sagen. Sie haben einen weiteren Antrag gestellt und erklärt, dass es bei der Bahn eine Menge an technischen Problemen gegeben hat - von den Radsatzwellen bis zu den Talent-Zügen. Das wissen wir alle. Das habe einen einzigen Grund, nämlich dass im Vorstand keine Menschen seien, die eine Lehre bei der Bahn gemacht hätten.
Wenn die Welt so einfach wäre, dann wäre das wahrscheinlich eine geeignete Lösung. So einfach ist die Welt aber nicht. Sie verschweigen den Menschen, dass die Technik heute sehr komplex ist. Vor 30 Jahren gab es noch ganz einfaches mechanisches Zuggerät. Schauen Sie sich die heutigen Talent-2-Züge an, von denen über 100 für eine ziemlich lange Zeit auf Abstellgleisen stehen und nicht zugelassen werden. Diese über 100 Talent-2-Züge werden nur deshalb nicht zugelassen, weil sie Softwareprobleme haben, und nicht, weil irgendetwas an der Mechanik dieser Züge nicht stimmt. Jeder, der in den letzten zehn Jahren ein neues Auto gekauft hat, kann vielleicht ein Lied davon singen, wie kompliziert diese Dinge geworden sind.
So ähnlich ist es auch mit dem ICE und den Radsatzwellen.
Die Risse, die Sie in den Achsen finden - es handelt sich um hochfeste Stoffe -, finden Sie genauso beim Airbus A380 oder beim Dreamliner von Boeing. Der Trend in der Technologie geht in Richtung mehr Leichtbau. Für diesen Leichtbau werden hochfeste Stoffe verwendet, die anfälliger für Risse und Ähnliches sind. Das hat nichts mit dem Personal im Vorstand der Deutschen Bahn zu tun. Der Grund dafür sind technologische Entwicklungen, die es auf vielen Feldern gibt.
Diese Erkenntnis hilft uns insofern weiter, als dass klar wird, dass wir dieses Problem bekämpfen müssen - mit mehr Technologie, mit mehr Forschung und mit mehr Wettbewerb. Das sind die Möglichkeiten, die sich ergeben.
Für den Fall, dass Sie zur Staatsbahn zurückwollen, kann ich Ihnen am Ende nur ein jugoslawisches Sprichwort zuwerfen. In Jugoslawien sagt man:
Die Sardelle ist in Wirklichkeit ein Walfisch, der alle Phasen des sozialistischen Aufbaus durchgemacht hat.
Vielen Dank.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Unser Kollege Thomas Jarzombek war der letzte Redner in der Aussprache, die ich infolgedessen jetzt schließe.
Wir haben gemeinsam vereinbart, dass Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/8605 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen wird. Die Federführung liegt beim Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. - Alle sind damit einverstanden. Ich höre keinen Widerspruch. Die Überweisung ist so beschlossen.
Jetzt kommen wir beim Tagesordnungspunkt 47 b zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Den Vorstand der Deutschen Bahn AG mit fachkundigem Personal besetzen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8383, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/4838 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen, die Fraktion der Sozialdemokraten. Gegenprobe! - Die Linksfraktion. Enthaltungen? - Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 48.
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 21. September 2011 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über Zusammenarbeit in den Bereichen Steuern und Finanzmarkt in der Fassung vom 5. April 2012
- Drucksache 17/10059 -
Ãœberweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Gemeinsam wurde vereinbart, für die Aussprache eine halbe Stunde vorzusehen. - Sie sind damit einverstanden. Dann haben wir das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Der erste Redner in unserer Aussprache ist für die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär Hartmut Koschyk. - Bitte schön, Kollege Hartmut Koschyk.
Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen:
Hochverehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach vielen Diskussionen in Aktuellen Stunden und in der Öffentlichkeit beraten wir heute hier im Deutschen Bundestag zum ersten Mal über den Entwurf eines Ratifikationsgesetzes zum deutsch-schweizerischen Steuerabkommen. Mit diesem Gesetz wollen wir endlich eine effektive Besteuerung von Vermögenswerten deutscher Steuerpflichtiger in der Schweiz sowohl für die Vergangenheit als auch für die Zukunft sicherstellen.
Bislang unversteuerte Vermögenswerte deutscher Steuerpflichtiger in der Schweiz werden mit einem Steuersatz von 21 Prozent bis 41 Prozent auf Kapital und nicht nur auf Ertrag nachversteuert. Auf zukünftig anfallende Erträge und Gewinne aus Vermögenswerten in der Schweiz wird eine Steuer in derselben Höhe wie in Deutschland erhoben.
Flankierend hierzu wird es entgegen dem OECD-Standard einen erweiterten Auskunftsaustausch mit der Schweiz geben. Damit entsteht für Steuerflüchtige ein zusätzliches und verschärftes Entdeckungsrisiko.
Hinzu kommt, dass nach dem Inkrafttreten des Abkommens erstmals auch Erbschaften in der Schweiz erfasst werden. Im Erbschaftsfall müssen die deutschen Erben entweder die Höchststeuer von 50 Prozent zahlen, oder sie werden dem deutschen Fiskus gemeldet.
Mit dem Inkrafttreten des Abkommens ist ohne Nachversteuerung oder Meldung keine Verlagerung von Vermögen deutscher Steuerbürger aus der Schweiz mehr möglich.
Sicherlich kann und wird man auch in einer solchen Debatte die Frage stellen: Haben wir das Optimale erreicht? Vergessen dürfen wir aber bei realistischer Betrachtung nicht: Es handelt sich um eine Vereinbarung zwischen zwei souveränen Rechtsstaaten. Diese kann selbstverständlich nicht nur die Handschrift eines Verhandlungspartners tragen. Deshalb musste man bei allem Wünschbaren realistisch bleiben.
Mit diesem zum jetzigen Zeitpunkt aus unserer Sicht bestmöglichen Kompromiss kommen wir der Verwirklichung von Steuergerechtigkeit und der grundgesätzlich geforderten flächendeckenden und gleichmäßigen Besteuerung einen entscheidenden Schritt näher. Ohne Verhandlungen mit der Schweiz hätten wir diese Möglichkeit nicht erhalten, auch nicht durch den Ankauf noch so vieler Daten-CDs. Scheitert diese Vereinbarung, so bleibt es beim Status quo, und es droht Jahr für Jahr die Verjährung deutscher Steueransprüche.
Es gilt, an vielen Punkten Kollisionen zwischen deutschem und schweizerischem Recht durch eine möglichst große Schnittmenge zu vermeiden, so zum Beispiel bei dem zu Recht umstrittenen Thema Bankgeheimnis. Natürlich haben wir ethisch-moralische Bedenken gegen das schweizerische Bankgeheimnis. Aber wir können den Schweizern nicht vorwerfen, dass sie sich an ihre eigene Rechtsordnung halten und sich dieser verpflichtet fühlen. Wir in Deutschland haben eine andere Rechtsordnung. Aus unterschiedlichen Rechtsordnungen ergeben sich Konflikte, wie sich auch an den Haftbefehlen gegen deutsche Steuerbeamte gezeigt hat.
Eines ist klar: Solche rechtlichen Konflikte dürfen nicht auf dem Rücken von Bundes- und Landesbeamten ausgetragen werden. Sie haben ihre Pflicht getan und verdienen unsere Anerkennung, unseren Respekt und unseren Schutz.
Aber wenn das so ist, dann müssen verantwortliche Regierungen und Parlamente dafür sorgen, dass solche rechtlichen Konflikte aufgelöst werden. Genau das ist das Ziel unseres Abkommens mit der Schweiz.
Wie bereits eingangs erwähnt: In Erbschaftsfällen wird in Zukunft eine Meldung an das zuständige deutsche Finanzamt erfolgen. Andernfalls wird die schweizerische Bank den höchstmöglichen Erbschaftsteuersatz an den deutschen Fiskus abführen.
Ich will noch einmal das mit der Schweiz vereinbarte Gebaren im Hinblick auf den Informationsaustausch ansprechen, der über den geltenden OECD-Standard hinausgeht. Hält es das deutsche Finanzamt für notwendig, die Angaben eines Steuerpflichtigen zu überprüfen, so liegt bereits darin ein plausibler Anlass, um in der Schweiz nachzufragen. Besondere Anhaltspunkte sind für die Nachfragen der deutschen Steuerbehörde nicht mehr erforderlich. Dies schafft ein unkalkulierbares Entdeckungsrisiko für zukünftige Schwarzgeldanlagen in der Schweiz.
Wir sind davon überzeugt, mit der Schweiz, auch durch Einbeziehung der Länder und durch das Zusatzprotokoll, ein realistisches Verhandlungsergebnis im Vergleich mit den Ergebnissen anderer Staaten erzielt zu haben. Schauen wir uns einmal die Vorauszahlungen der Schweizer Banken an: Es müssen 4 Milliarden Schweizer Franken eingegangen sein, damit die Garantiesumme von 2 Milliarden Franken erfüllt wird. Großbritannien hat wesentlich geringere Vorauszahlungen durchsetzen können. Mit Österreich hat die Schweiz überhaupt keine Vorauszahlungen vereinbart.
Lassen Sie uns jetzt keinen akademischen Streit darüber führen, welche Zuflüsse in den Bundeshaushalt und die Haushalte der Länder und Kommunen zu erwarten sind, wenn das Abkommen zustande kommt. Wir haben im Finanzausschuss mündlich und schriftlich deutlich gemacht, dass wir für Bund und Länder ein zusätzliches Steueraufkommen von 10 Milliarden Euro für realistisch halten. Wie sich der Verteilungsschlüssel darstellt, ist auch bekannt. Wir sind den Ländern noch einmal entgegengekommen.
Deshalb appellieren wir an Sie, dass wir jetzt zu einer sachlichen Beratung dieses Ratifikationsgesetzes in Bundestag und Bundesrat kommen. Wir haben ein gutes Ergebnis erzielt. Wir sollten uns jetzt gemeinsam bemühen, dieses Ergebnis mit der Schweiz im Interesse von Steuerehrlichkeit in Deutschland, aber auch im Hinblick auf zusätzliche Steuereinnahmen für Bund, Länder und Kommunen im Bundestag und im Bundesrat sachlich zu beraten und zu verabschieden.
Herzlichen Dank.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Herr Parlamentarischer Staatssekretär. - Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Martin Gerster. Bitte schön, Kollege Martin Gerster.
Martin Gerster (SPD):
Herr Präsident! Meine werten Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Gesetzentwurf zum Steuerabkommen mit der Schweiz ist schon ein interessanter Vorgang, fast schon eine kuriose Sache. So wie Sie sich vor Monaten hier geäußert, ja gebärdet haben, muss man sagen: Es hätte diesen Gesetzentwurf in dieser Form überhaupt nie geben dürfen. Im September letzten Jahres, vor neun Monaten, haben Sie den alten Entwurf noch hochgejubelt. Sie haben damals gesagt, das sei das Maximale, was erreichbar sei. Als wir vonseiten der SPD-Fraktion auf kritische Punkte hingewiesen haben, wurde vonseiten des Ministeriums, aber auch in den Reihen von Schwarz-Gelb ganz klar gesagt: Nachverhandlungen sind nicht möglich; das geht nicht.
Ich darf aus dem Protokoll des Deutschen Bundestages zitieren. Die Vorsitzende des Finanzausschusses, Frau Reinemund, sagte damals unter dem Beifall ihrer Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP wörtlich:
Nachverhandeln geht einfach nicht.
Sie fügte hinzu:
Ich nenne das: Die Leute hinters Licht führen.
Das haben Sie damals auf unsere Forderung, nachzuverhandeln, geantwortet.
Nachverhandeln geht ja offensichtlich doch. Jetzt frage ich Sie, Frau Reinemund: Wer hat denn damals in der Plenardebatte im September 2011 die Leute hinters Licht geführt?
Das waren doch nicht wir von der SPD-Fraktion; denn Nachverhandeln funktioniert. Deswegen fordere ich Sie auf, diesen Quatsch vom September nachher in Ihrem Redebeitrag zurückzunehmen.
Heute wissen wir: Es wurde zum Glück nachverhandelt. Aber wir müssen genau fragen: Was wurde denn nachverhandelt? Welche Ergebnisse liegen denn vor?
Grundsätzlich muss man auch den Bundesländern herzlichen Dank sagen, die auf das Problem hingewiesen haben, an vorderer Stelle Nordrhein-Westfalen, aber auch Baden-Württemberg. Die beiden Minister Norbert Walter-Borjans und Nils Schmid haben immer wieder auf die kritischen Punkte hingewiesen. Gott sei Dank gab es in beiden Bundesländern in der letzten Zeit einen Regierungswechsel; sonst hätten wir auf diese wichtigen Wortmeldungen und diesen Einsatz in dieser wichtigen Frage nicht bauen können.
Man muss Sie bei diesem Thema zum Jagen tragen. Dabei weise ich darauf hin, dass die Hauptprobleme bestehen geblieben sind. Einige Punkte will ich konkret nennen.
Erstens. Das Abkommen kann in der Tat nach wie vor leicht umgangen werden. Denn die Anwendung des Abkommens ist auf Konten und Depots in der Schweiz beschränkt. Vermögenswerte können deshalb der Besteuerung legal entzogen werden, zum Beispiel, Herr Staatssekretär Koschyk, über Familienstiftungen, Trusts oder Schließfächer. Bisher ist noch völlig ungeklärt, was als missbräuchliche Umgehung des Abkommens gelten soll.
Ich hätte mir bei der Einbringung des Gesetzentwurfs gewünscht, dass Sie zur Klärung beitragen. Fehlanzeige an dieser Stelle! Deshalb wäre es gut, wenn Sie darauf noch eine entsprechende Antwort geben würden.
Zweitens. Das sogenannte Abschleichen ist nach wie vor möglich. Steuerpflichtige können ihre Konten und Depots in der Schweiz in aller Ruhe bis zum Jahresanfang 2013 auflösen und die Vermögenswerte unerkannt und sanktionslos aus der Schweiz abziehen. Für die SPD-Fraktion sage ich ganz deutlich: Wir können das nicht gutheißen. Ich frage mich, wie Sie so etwas unterstützen können. Das bleibt für mich ein Rätsel.
Drittens. Eine effiziente Kontrolle - das muss man klar attestieren - ist mehr als fraglich. Die Durchführung der Besteuerung in der Schweiz wollen Sie ausgerechnet den dortigen Banken überlassen, also denjenigen, die sich früher an der Straftat beteiligt haben. Die Aufsicht hierüber unterliegt allein den Schweizer Behörden, die die Einhaltung des Abkommens nur stichprobenartig überprüfen müssen. Das heißt im Umkehrschluss: Die deutschen Finanz- und Justizbehörden erhalten keine Kontrollmöglichkeiten.
Ich meine, das kann keine Lösung sein. Wir können doch nicht zustimmen, dass deutsche Behörden in dieser wichtigen Frage ausgeschlossen werden sollen.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus der Fraktion der FDP?
Martin Gerster (SPD):
Zum Thema Zwischenfrage muss ich sagen: Vorhin gab es das Begehren einer Zwischenfrage des Kollegen Schick. Herr Staatssekretär Koschyk wollte zu der wichtigen Frage der Finanzaufsicht keine Zwischenfrage beantworten. Insofern weiß ich nicht, ob ich jetzt eine Zwischenfrage beantworten muss.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Diese Entscheidung, Kollege Gerster, kann Ihnen niemand in diesem Hause abnehmen.
Martin Gerster (SPD):
Keine Zwischenfrage an dieser Stelle.
Ich will aber weitere Punkte stichwortartig nennen. Die geplante Schweizer Abgeltungsteuer verhindert nicht, wie immer behauptet wird, den weiteren Zufluss unversteuerten Vermögens aus Deutschland. Künftig werden nämlich nur die hierauf in der Schweiz erzielten Erträge besteuert.
Herr Staatssekretär Koschyk, Sie haben vorhin noch einmal darauf hingewiesen, dass die Erbfälle in das Abkommen mit einbezogen werden. Kein Wort haben Sie aber zu den Schenkungsfällen gesagt. Es ist durch Schenkungen weiterhin die Möglichkeit gegeben, dass Steuerpflichtige zu Lebzeiten einer Besteuerung durch vorherige Vermögensübertragung ausweichen. Es wäre sehr schön gewesen, wenn Sie uns begründet hätten, warum diese Fälle aus dem Abkommen ausgeklammert werden.
Ein weiteres Thema sind die Prüfaufträge. Die rot-grüne Bundesregierung hat das Auslaufen des Strafbefreiungserklärungsgesetzes mit dem Inkrafttreten des Gesetzes betreffend das Kontenabrufverfahren zum April 2005 verknüpft. Das Steuerabkommen mit der Schweiz sieht allerdings vor, dass die deutschen Steuerbehörden in maximal 1 300 Fällen begründete Auskunftsanträge betreffend die bloße Existenz von Konten deutscher Steuerpflichtiger in der Schweiz stellen können. Das ist viel zu wenig. Diese Knebelung der Abfragemöglichkeiten deutscher Finanzbehörden ist, ehrlich gesagt, ein Schlag in das Gesicht des ehrlichen Steuerzahlers. Dem können wir auf gar keinen Fall zustimmen.
Herr Staatssekretär Koschyk, Sie haben des Weiteren gesagt, dass das Entdeckungsrisiko der Steuerstraftäter zunehmen wird. Ich habe da große Zweifel; denn zu dem, was ich gerade ausgeführt habe - die Einschränkung der Möglichkeiten der deutschen Finanzbehörden -, kommt hinzu, dass Sie planen, in Zukunft auf den Erwerb sogenannter Steuer-CDs zu verzichten. Wir halten das für einen Fehler. Wir von der SPD haben in den letzten Monaten immer wieder deutlich gemacht, dass wir sehr wohl von der Möglichkeit Gebrauch machen sollten, Steuer-CDs zu erwerben, um so an die entsprechenden Daten von Steuerhinterziehern heranzukommen.
Auch beim Blick auf die Altfälle bleiben viele Fragen offen. Es gibt viele Zweifel gerade in puncto Steuergerechtigkeit. Berechnungen zufolge dürfte in 80 Prozent der Fälle lediglich der Mindeststeuersatz von 21 Prozent des aktuellen Vermögenswertes zur Anwendung kommen. Damit liegt die Höhe der Pauschalsteuer bei großen Steuerhinterziehungen, die in Deutschland mit Freiheitsstrafe belegt werden können, deutlich unter der individuellen Steuerschuld. Das ist endgültig ein Schlag in das Gesicht aller, die in Deutschland ihre Steuern ehrlich zahlen.
Ich sage abschließend: Wir haben große Bauchschmerzen bei diesem Abkommen zwischen Deutschland und der Schweiz. Wir sollten auch die finanzielle Lockwirkung dieses Abkommens hinterfragen; denn wenn Steuerhinterziehern so viel Zeit verbleibt, das Geld in andere Länder zu schaffen, ist fraglich, ob tatsächlich zusätzliche Steuereinnahmen in Höhe von geschätzt 10 Milliarden Euro durch das Abkommen erzielt werden.
Selbst die Bundesregierung hat uns auf Nachfrage im Finanzausschuss gesagt, dass es keine belastbaren Unterlagen über die Höhe der nachzuversteuernden Anlagen gibt.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Kollege Martin Gerster.
Martin Gerster (SPD):
Was bleibt unter dem Strich?
Vizepräsident Eduard Oswald:
Ihr Schlusssatz, bitte!
Martin Gerster (SPD):
Es handelt sich um einen Bärendienst im Hinblick auf das verfassungsmäßig gebotene Ziel der Steuergerechtigkeit in Deutschland. Wir werden das in der Anhörung und in den Ausschussberatungen noch einmal deutlich herausstellen.
Herzlichen Dank.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Nächste Rednerin für die Fraktion der FDP ist unsere Kollegin Dr. Birgit Reinemund. - Bitte schön, Frau Kollegin.
Dr. Birgit Reinemund (FDP):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich kann den Triumph der SPD nicht ganz nachvollziehen. Waren es nicht SPD-Finanzminister, die über elf Jahre auf diesem Gebiet nichts, aber auch rein gar nichts - null Komma null - hinbekommen haben?
Die ursprüngliche Version des Steuerabkommens, über das wir heute sprechen, wurde am 21. September 2011 unterzeichnet. Es folgten monatelange Nachverhandlungen und zum Teil sehr emotionale Diskussionen. Die letzten neun Monate waren eine schwierige Schwangerschaft. Ich freue mich, dass wir heute die Geburt einleiten.
Ja, Herr Gerster, um ehrlich zu sein, ich hätte nicht gedacht, dass noch Nachverhandlungen mit solch substanziellen Verbesserungen möglich sind. Das als Quatsch zu bezeichnen, ist nicht ganz parlamentarisch. Umso beachtlicher ist, dass es Minister Schäuble gelungen ist, die Schweiz nachträglich zu weiter gehenden Zugeständnissen in diesem Umfang zu bewegen.
Diese für Deutschland überaus positiven Ergebnisse sollten wir jetzt umsetzen und nicht ständig kleinreden. Bis heute entgehen dem deutschen Staat Milliarden Euro an Steuereinnahmen durch Kapitalflucht in die Schweiz, Steuerhinterziehung oder Steuerbetrug. Letztendlich verlieren wir durch die fortlaufende Verjährung der Steueransprüche auf diese enormen Vermögen Jahr für Jahr Steuereinnahmen. Nach zehn Jahren sind alle Ansprüche für immer verloren.
Das Schweizer Helvea-Institut hat ausgerechnet, dass Deutsche rund 230 Milliarden Euro in der Schweiz deponiert haben. Das Institut nimmt ferner an, dass rund 160 Milliarden Euro nicht den deutschen Finanzämtern gemeldet sind, es sich dabei also um Schwarzgeld handelt. Angesichts dieser Summen wäre es unverantwortlich, nicht zu handeln.
Das wäre ein Schlag in das Gesicht jedes ehrlichen Steuerzahlers. Es wäre auch im Hinblick auf den Staatshaushalt gerade vor dem Hintergrund der Staatsverschuldung und der Diskussion um Schuldenbremsen auf allen Ebenen unverantwortlich.
Dies ginge zulasten des Bundes, der Länder und der Kommunen. Gerade die Länder werden durch dieses Gesetz einen überproportional hohen Anteil an den zusätzlichen Steuereinnahmen erhalten. Zwei Drittel erhalten die Länder und Kommunen, ein Drittel bekommt der Bund. Für 2013 sind das geschätzte 1,1 Milliarden Euro für die Länder und Kommunen und 500 Millionen Euro für den Bund. Eine erste Abschlagszahlung in Höhe von 2 Milliarden Schweizer Franken wird unmittelbar nach Inkrafttreten des Abkommens fällig.
Die Zeit drängt. Wenn wir nicht zulassen wollen, dass ein weiterer Veranlagungszeitraum in die Verjährung fällt, sollten wir rasch handeln und dieses Abkommen, wie geplant, im Herbst verabschieden. Ich frage mich, ob der Bundesrat dieses Abkommen wirklich blockieren will, während die Länder und Kommunen bei jeder anderen Gelegenheit betonen, wie dringend sie finanzielle Entlastung brauchen. Ich bin einmal gespannt, wie Sie dies den notleidenden Kommunen - allen voran denen in Nordrhein-Westfalen - erklären wollen; denn von dort kommt besonders harsche Kritik. Der sozialdemokratische Finanzminister Walter-Borjans sagte dazu:
Ich will aber kein Abkommen, das um des lieben Friedens willen Steuerstraftätern ein Milliardengeschenk macht.
Das ist eine seltsame Aussage.
Haben Sie einmal berechnet, welche Milliardenforderungen in den letzten zehn Jahren durch Untätigkeit, Misserfolg und Unvermögen früherer Finanzminister bereits verjährt sind?
Meine Hochachtung und mein Dank gebühren den erfolgreichen Verhandlungsführern im Finanzministerium - allen voran Finanzminister Schäuble. Gut, dass mit diesem Abkommen jetzt endlich die Besteuerung für die Zukunft und für die Vergangenheit gesichert ist. Wir rechnen einmalig mit circa 10 Milliarden Euro und dann mit 1,6 Milliarden Euro jährlich. Der Bund der Steuerzahler sieht das ähnlich - ich zitiere -:
Mit dem Steuerabkommen kann in Zukunft Steuerhinterziehung effektiv und rechtssicher verhindert werden. Davon profitieren der deutsche Fiskus und vor allem die ehrlichen Steuerzahler.
Welche Vorteile bietet uns das Abkommen sonst? Wir schaffen Rechtssicherheit und verlassen endlich die rechtliche Grauzone um den Kauf illegal beschaffter Daten bzw. von Steuer-CDs. Sie alle haben im Gedächtnis, wie sich deutsche Beamte plötzlich in der Situation befanden, im Dienste ihres Dienstherrn eventuell angegriffen zu werden.
Für die Inhaber von anonymen Konten in der Schweiz gibt es in Zukunft nur noch drei Möglichkeiten: Sie können anonym nachversteuern, eine Selbstanzeige machen oder ihr Konto schließen. Sicher, das Abkommen entspricht nicht den Maximalforderungen der Opposition.
Es entspricht aber dem Erreichbaren. Das ist ein Kompromiss zwischen den Interessen zweier souveräner Staaten. Erstmals überhaupt konnte eine rückwirkende Nachversteuerung mit einem anderen Staat verhandelt werden.
Jetzt gibt es zwei Möglichkeiten: das Abkommen auf den Weg zu bringen oder ein Verharren auf dem Status quo ohne jede Besteuerung der Vermögen deutscher Bürger in der Schweiz. Dabei geht es - in Abwandlung eines Spruches von Shakespeare - um die Frage: Haben oder Nichthaben, das ist jetzt die Frage.
Es ist ganz klar: Kein Abkommen zu haben, ist eindeutig die schlechteste Lösung, und zwar für alle Beteiligten.
Meine Damen und Herren von der Opposition, das sollten Sie vielleicht auch Ihren Kolleginnen und Kollegen in den Bundesländern klarmachen. Einige lenken bereits ein. Werben Sie mit uns für den Weg der Vernunft.
Vielen Dank.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke ist unsere Kollegin Frau Dr. Barbara Höll. Bitte schön, Frau Kollegin Dr. Barbara Höll.
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Reinemund, „Haben oder Nichthaben …“ - der arme Shakespeare. Ich glaube, wir sprechen hier über „ein bisschen haben“ statt über „alles haben“, das wir mit einem gesetzeskonformen Vollzug bekommen könnten. Darum geht es.
Die Vergleichsbasis ist nicht all das, was in den letzten Jahren nicht gelaufen ist, sondern die Situation hier in Deutschland mit all den ehrlichen Bürgerinnen und Bürgern, die ihr Einkommen versteuern. Der Vertrag, den Sie abzuschließen gedenken, hält diesem Vergleich nicht stand.
Es ist und bleibt dabei: Dieses Abkommen ist ein Geschenk für Steuerbetrüger und organisierte Steuerkriminalität.
Zudem gilt: Wie gestern beim Betreuungsgeld ist die Art, wie Sie Politik betreiben, ein bisschen wie auf dem Basar: Da spielt man ein bisschen mit dem Entflechtungsgesetz. Man sagt den Ländern: Na ja, wenn ihr im Bundesrat dann doch zustimmt, dann haben wir mehr Geld, dann könnten wir eventuell an der einen oder anderen Stelle noch ein bisschen dazugeben und eben nicht 2,9 Milliarden Euro abschmelzen. - Das hat der Haushaltsstaatssekretär Werner Gatzer gesagt. Weiter sagte er: Bei den Hochschulen, bei der sozialen Wohnraumförderung könnten wir als Bund ein bisschen mehr machen. Dafür stimmen Sie zu!
Aber es geht ja auch um Grundsätze. Es geht nicht um ein Feilschen um einzelne Euros; es geht nicht um Zustände wie auf einem Basar. Das muss man wirklich sagen.
Ich denke, Ihr Abkommen ist in beiden Bereichen unzulänglich: sowohl was die Vergangenheitslösung betrifft, also die Amnestie, als auch was die Zukunftslösung Abgeltungsteuer betrifft. Es ist ein Affront gegen alle ehrlichen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler.
Mein Kollege Gerster sagte schon einiges. Ich will es wiederholen:
Erstens. Bei einem einmaligen Transfer von Vermögen in die Schweiz - das sind fast 80 Prozent der Fälle - bleibt es beim Mindeststeuersatz von 21 Prozent. Dieser Wert liegt offenkundig unter dem Satz der Abgeltungsteuer von 25 Prozent. Die Steuerhinterzieher haben also mindestens 4 Prozentpunkte gespart.
Zweitens. Sie haben ja vereinbart, dass der Höchststeuersatz auf 41 Prozent angehoben wird. Eine effektive Besteuerung über 34 Prozent ist nach Berechnungen von Professor Frank Hechtner nur bei einer jährlichen Rendite von mindestens 56 Prozent zu erreichen. Ich glaube, eine solche Rendite ist auch mit einer Anlage in der Schweiz schwerlich zu erreichen. Also, das ist reine Theorie.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Krestel aus der Fraktion der FDP?
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE):
Aber gern doch.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Bitte schön, Kollege Krestel.
Holger Krestel (FDP):
Frau Kollegin Höll, Sie sprechen hier doch recht abwertend von Basarpolitik. Jetzt verraten Sie uns doch einmal: Wenn Sie die nächsten Jahre mitregieren dürften - was Gott verhüten möge -, wie viel Geld könnten Sie realistischerweise aus der Schweiz akquirieren, das dem Steuerzahler durch die jetzige Rechtslage, durch das bisher fehlende Abkommen, pro Jahr verloren geht? Können Sie das beziffern?
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE):
Recht herzlichen Dank, Herr Kollege. - Üblicherweise bleibt man während der Beantwortung stehen.
- Ich habe ja nur darauf hingewiesen.
Wir hätten natürlich verschiedene Möglichkeiten, die Haushaltssituation des Bundes, der Länder und Kommunen zu verbessern. Ich verweise als Erstes auf das Steuerkonzept der Linken,
wo wir zum Beispiel ein gerechtes Einkommensteuersystem mit einer Entlastung der unteren und mittleren Einkommen vorsehen. Wir schlagen vor, ab einem Vermögen von 1 Million Euro eine Millionärssteuer zu erheben.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Wir geben der Kollegin Frau Dr. Höll die Chance, zu antworten.
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE):
Sie wollten das ja wissen, also bitte. - Wir schlagen Ihnen verschiedene Maßnahmen vor. Damit befinden wir uns in Übereinstimmung zum Beispiel mit dem DIW, das mittlerweile einen Spitzensteuersatz von 66,6 Prozent ab einem Einkommen von 330 000 Euro vorgeschlagen hat.
Wenn ich Finanzministerin wäre, würde ich ganz stark versuchen, den Druck auf die Schweiz zu erhöhen. Herr Koschyk hat darauf hingewiesen: Wir sehen das mit dem Steuergeheimnis etwas anders. Wie sich das Steuergeheimnis heute in Deutschland darstellt, ist es ja nicht schon immer gewesen; es war ja ein Prozess, der zu dieser Öffnung führte. Da würden wir natürlich massiv einwirken.
Auf alle Fälle würden wir grobe Schnitzer in diesem Abkommen beseitigen. Ich denke dabei zum Beispiel an die Frage der Nichterfassung von Trusts und Stiftungen.
Wir würden Vermögen erfassen, die in anonymen Schließfächern liegen, bei denen nicht einmal die Schweizer Banken wissen, was da drin ist.
Wir würden auch die Abgeltungsteuer abschaffen und wieder eine Besteuerung zum persönlichen Einkommensteuersatz durchführen.
Damit hätten wir eine andere Basis, und wir könnten einen größeren Druck aufbauen. Dabei würden wir von anderen europäischen Staaten unterstützt.
Denn Staaten wie Griechenland, die jetzt damit zu kämpfen haben, dass die griechischen Vermögensmillionäre ihr Vermögen abziehen und in der Schweiz lagern, befinden sich in einer solchen Situation, weil wir unsere Position nicht stark genug durchsetzen.
Damit komme ich zu der geschätzten Zahl, die Herr Koschyk - das stimmt - dem Ausschuss schriftlich mitgeteilt hat. Aber er hat im Ausschuss auch gesagt, man kommt auf die Zahl, weil die Briten schätzen, dass sie 7 Milliarden Euro kriegen. Er sagte: Also schätzen wir jetzt mal 10 Milliarden Euro. - Das ist eine total gegriffene Zahl. Ich sage Ihnen: Es wäre wesentlich mehr möglich; die Größenordnung würde garantiert - wahrscheinlich - das Doppelte betragen. Ob die 10 Milliarden Euro zu erreichen sind, bleibt erst einmal außen vor.
Man kann hier viel tun, wenn man tatsächlich Druck aufbaut. - Danke für Ihre Frage.
Ich glaube, der Knackpunkt ist, dass das Schweizer Bankenmodell der Anonymität der Kunden erhalten bleibt; das ist und bleibt der Knackpunkt. Dem muss man entgegenwirken, und da gibt es internationale Unterstützung. Ich möchte noch ergänzen - Herr Gerster verwies darauf -: Selbst wenn eine anonyme Nachbesteuerung erfolgt, wenn man sein Geld in der Schweiz hat und es anonym nachversteuert, bekommt man einen Persilschein. Nebenbei gesagt: Wenn man in Deutschland eine Nachversteuerung vornimmt, zahlt man 6 Prozent Strafzinsen. Auch die braucht man als Steuerhinterzieher nach Ihrem Abkommen nicht zu zahlen.
Sie haben die Schlupflöcher nicht geschlossen. Ich nenne dazu: die anonymen Schließfächer, die Trusts und Stiftungen. Sie geben Schwarzgeldbesitzern einen Persilschein. Bei allen Auskünften, die die deutsche Seite von der Schweizer Seite erhält, müssen wir uns auf das verlassen, was uns die Schweizer sagen. Es gibt für die deutschen Finanzbehörden keine Möglichkeiten, das nachzuprüfen. Deshalb müssen wir weiter an der Einführung eines automatischen Informationsaustausches festhalten. Dies wird durch das Abkommen torpediert. Wir können deshalb nicht zustimmen.
Als Letztes noch der Hinweis: Es bleibt dabei, dass wir einen langen Verhandlungszeitraum haben. Selbst wenn wir das Abkommen im Herbst abschließen würden, dürfte das Geld, das hinterzogen wurde, immer noch bis zum 1. Januar 2013 - erst dann wird es erfasst - verschoben werden; dafür gibt es noch genug Steueroasen. Schon das ist ein Zeichen dafür, dass es Ihnen nicht wirklich ernst ist, die Steuerhinterziehung zu bekämpfen.
Danke.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Höll. - Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege Dr. Thomas Gambke. Bitte schön, Kollege Dr. Gambke.
Dr. Thomas Gambke (BÃœNDNIS 90/DIE GRÃœNEN):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Gerade diejenigen, die oben auf den Tribünen sitzen, werden sich vielleicht über diese erregte oder auch gar nicht so erregte Debatte zum Thema „Steuerabkommen mit der Schweiz“ wundern. Ich will deshalb ein bisschen ausholen.
Das Geschäftsmodell des Nummernkontos gab es schon, als ich ein kleiner Bub war. Bei dem ausgezeichneten Verhältnis, das wir zur Schweiz haben - das ist gar keine Frage -, ist dies ein Problem, das uns seit langen Jahren beschäftigt. Übrigens wurde die Situation oft ausgenutzt. Ich will die Bemerkung von Roland Koch aus dem Jahre 2000 nicht wiederholen; ich möchte sie nicht einmal in den Mund nehmen. Aber die Tatsache, dass man damals Gelder der Parteien nicht in Frankfurt, sondern in Zürich geparkt hatte, hat sicherlich nicht damit zu tun, dass man da Hessisch babbelt oder Zürich an das Netz der S-Bahn Rhein-Main angeschlossen ist. Vielmehr lag es an der Anonymität.
Das heißt: Wenn man diesen Zusammenhang über die Jahre verfolgt, dann muss man erkennen, dass gerade die Themen Transparenz und Kontrolle eine zentrale Rolle bei einem Abkommen mit der Schweiz spielen müssen. Weil Transparenz und Kontrolle nicht erreicht werden, werden wir das Gesetz in der vorliegenden Form ablehnen.
Ein Thema, das nicht angesprochen wurde, aber auch zentral ist, ist die europäische Integration. Da wundert es mich, dass Sie das Thema nicht anpacken. Wir reden im Moment von Europa. Wir reden davon, dass wir in Europa eine Harmonisierung haben wollen.
- Ich weiß. - Deswegen muss man sich mit dem Thema Zinsrichtlinie auseinandersetzen.
- Ja, das weiß ich, mitten in Europa. - Im Moment steht in Europa auf der Tagesordnung, einen automatischen Informationsaustausch zu schaffen und der EU-Kommission ein Mandat zu erteilen, mit der Schweiz zu verhandeln. Dieses Abkommen, über das wir reden, wird von Luxemburg und Österreich als Begründung angeführt, um dieses Mandat abzulehnen. Sie verhindern mit diesem Abkommen eine europäische Richtlinie, die weiter als das geht, was wir heute haben. Das ist nicht in Ordnung.
- Das ist kein Quatsch, sondern das ist richtig. Dann schauen Sie doch einmal in die Unterlagen über die Verhandlungen in der Europäischen Gemeinschaft, die Ihnen genauso wie mir vorliegen.
Das zweite Thema, das ich ansprechen möchte, ist die Parlamentsbeteiligung. Herr Brinkhaus, Sie haben vorhin in der Debatte über die Finanzaufsicht gesagt, heute sei die erste Lesung und deswegen könne man an dem Entwurf noch etwas ändern. Auch Herr Koschyk sprach von der ersten Lesung. Meine Damen und Herren - auch das sage ich mit Blick nach oben zu den Zuschauern -, wir führen hier eine Scheindebatte. Es liegt ein ausgehandeltes Abkommen vor, das nachverhandelt wurde. Die erste Information an den Finanzausschuss des Deutschen Bundestags erfolgte im Mai. Erst da wurde über Zahlen geredet, die längst im Raum standen.
Jetzt haben wir die erste Lesung, und Sie wollen uns glauben machen, wir würden hier über Änderungen beraten. Wenn überhaupt Änderungen kommen, dann deshalb, weil Gott sei Dank die Roten und die Grünen im Bundesrat gesagt haben: Wir machen da nicht mit. - Das ist unser Druckmittel, und das ist auch gut so.
Ich bin im Übrigen sehr froh, dass die Klage der Grünen vor dem Verfassungsgericht zu der Einbindung des Bundestags bei der Entscheidung über den ESM einen Meilenstein gesetzt hat. Diesen Meilenstein werte ich so, dass wir eine Tür aufgemacht haben und jetzt die Gremien des Deutschen Bundestages über internationale Verträge informiert werden müssen, bevor sie abgeschlossen werden, damit der Bundestag eine wirkliche Einwirkungsmöglichkeit hat, die wir heute beim DBA mit der Schweiz nach meiner Einschätzung praktisch nicht mehr haben.
Ich möchte zum Schluss zusammenfassen: Wir haben ein Doppelbesteuerungsabkommen. Es ist ausgeführt worden, wo die Schwächen und Mängel liegen, aufgrund derer man es ablehnen muss. Es besteht vor allen Dingen nur bei einer Ablehnung die Chance zu Transparenz und zu einer europäischen Lösung, in die wir die Schweiz mit einbinden. Übrigens hat Liechtenstein mit UK ein Abkommen getroffen, bei dem man auf Transparenz einen größeren Wert als auf die Frage der Einnahmen gelegt hat. Man hat in diesem Abkommen die Anonymität sehr wirksam aufgebrochen.
Es gibt also andere Möglichkeiten. Es gibt auch andere Möglichkeiten, mit dem Bankgeheimnis umzugehen.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Sie haben uns versprochen, zum Schluss zu kommen.
Dr. Thomas Gambke (BÃœNDNIS 90/DIE GRÃœNEN):
Wir werden dieses Abkommen ablehnen, weil dem Thema „Transparenz und Offenheit“ nur eine untergeordnete Rolle beigemessen wird. Das können wir so nicht akzeptieren.
Vielen Dank.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Kollege Dr. Thomas Gambke. - Letzter Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Klaus-Peter Flosbach. Bitte schön, Kollege Flosbach.
Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU):
Vielen Dank, Herr Präsident. - Seit dem 21. September des letzten Jahres diskutieren wir bereits dieses Thema; denn damals wurde das Abkommen mit der Schweiz von der Regierung verabschiedet. Aber dieses Thema wird schon Jahrzehnte diskutiert. Der Bundesfinanzminister hat in der letzten Debatte deutlich gemacht, dass dieses Abkommen ein Meilenstein im Verhältnis Deutschlands zur Schweiz ist, was steuerliche Regelungen angeht.
Warum ist dies ein Meilenstein in den Beziehungen zwischen Deutschland und der Schweiz? Weil erstmals ein Verfahren gefunden wurde, wie alle Vermögen von Privatleuten in der Schweiz erfasst werden können, und zwar nicht nur für heute und die Vergangenheit, sondern auch für die Zukunft. Das hat es noch nicht gegeben, bei allen Versuchen, die bisher vom deutschen Parlament und von deutschen Regierungen gestartet worden sind.
Wenn es um ein Abkommen mit der Schweiz geht, spielt das Thema „Schwarzgeld und Steuerhinterziehung“ eine große Rolle. Für uns in Deutschland ist das ein klarer Straftatbestand, der auch verfolgt werden muss. Die Schweiz sieht das völlig anders. Für sie ist Steuerhinterziehung eine Ordnungswidrigkeit. Wir gehen aber von unserem deutschen Recht aus und sagen: Das ist ein Straftatbestand, und der muss verfolgt werden.
Es geht hier auch um die Frage der Steuergerechtigkeit. Die Frage, auch an die Oppositionsparteien, ist doch: Ist es in steuerlicher Hinsicht gerecht, wenn wir darauf verzichten, das Geld, das in der Schweiz ist, durch Abkommen zu ergreifen, indem wir in die Konten hineingehen, um damit 10 Milliarden Euro und mehr für unseren Staat zu bekommen, damit diejenigen, die ehrlich ihre Steuern bezahlt haben, entsprechend entlastet werden? Das ist doch auch eine Frage der Gerechtigkeit, der Sie sich stellen müssen, meine Damen und Herren.
Es ist schon viel versucht worden, um in diesem Bereich Steuergerechtigkeit herzustellen. Ich denke zunächst einmal an die Steueramnestie von Rot-Grün von 2004/05. Was ist da nicht alles versprochen worden! Da ging es nicht allein um die Schweiz; da ging es um eine generelle Steueramnestie. 1,3 Milliarden Euro sind durch die Nachversteuerung letztlich erzielt worden, obwohl anfangs von 20 Milliarden und dann von 10 Milliarden Euro gesprochen worden war.
Herr Gambke - Sie sitzen in der ersten Reihe und hören mir leider nicht zu -, Sie haben gerade von der europäischen Zinsrichtlinie gesprochen. Sie haben völlig danebengelegen. Die europäische Zinsrichtlinie wird schon seit Jahren diskutiert. Das Problem ist, dass die Luxemburger und die Österreicher nicht mitmachen,
weil wir bisher kein Abkommen mit der Schweiz erzielt haben.
Das ist die Problematik. Euro-Länder machen nicht mit, weil wir bisher noch kein Ergebnis mit der Schweiz erzielt haben.
Außerdem geht es da ausschließlich um Zinsen; hier geht es um die gesamten Beträge. Das geht also weiter, ist von der Dimension deutlich größer als alles, was wir bisher mit der Zinsrichtlinie erreicht haben.
Natürlich, wir haben auf der einen Seite mit den Steuerdaten-CDs Erfolg gehabt - auch höchstrichterlich bestätigt -; auf der anderen Seite ist rechtlich immer noch sehr umstritten, ob das der richtige Weg sein kann. Der Weg, den wir jetzt beschreiten wollen, ist richtig.
Im Grunde kann jeder sein Geld anlegen, wo er will. Er kann es weltweit anlegen. Er muss aus unserer Sicht nur Folgendes machen: Er muss die Erträge aus diesem Geld, das er weltweit anlegt, versteuern.
Das vorliegende Abkommen geht von mehreren Möglichkeiten aus. Wer sein Geld in der Schweiz hat, kann sich eine Bankbestätigung holen. Diese legt er dem deutschen Finanzamt vor, und die Sache wird wie üblich versteuert.
Wir haben im vergangenen Jahr das Verfahren der strafbefreienden Selbstanzeige novelliert und dramatisch verschärft, sodass es hier keine Umgehungsmöglichkeiten mehr gibt. Jeder Einzelne kann sich selbst anzeigen, um die Zinserträge für die vergangenen zehn Jahre nachzuversteuern; was er erspart hat, muss er ebenfalls nachversteuern.
Das neue Abkommen geht einen anderen Weg. Frau Höll, es geht nicht davon aus, dass vom deutschen Fiskus nur Steuern auf die Erträge eingezogen werden. Erstmals geht der deutsche Fiskus in Abstimmung mit den Schweizern sozusagen in das Vermögen im Ausland hinein. Für das Guthaben fallen 21 bis 41 Prozent Steuern an, oder, anders gesagt: Für je 100 000 Euro kassiert der deutsche Staat zwischen 21 000 und 41 000 Euro. Das ist der große, der fundamentale Unterschied bei diesem Abkommen gegenüber früheren Regelungen.
Das Besondere hat auch der Staatssekretär schon deutlich gemacht, nämlich dass durch die Eidgenössische Steuerverwaltung auch die Erbfälle in der Schweiz erfasst werden. Bis zu 50 Prozent des Vermögens können eingezogen werden, wenn aufgrund einer Anfrage ein Erbfall entdeckt wird. Das ist der riesige Unterschied gegenüber früher.
Sie haben am Thema vorbeigeredet. Sie haben nur Nebensächlichkeiten dargestellt
und gesagt, deswegen könne das Gesetz nicht verabschiedet werden.
Herr Gerster, Sie haben auch das Verfahren des Auskunftsersuchens angegriffen. Natürlich, man kann darüber sprechen, ob 1 300 Auskunftsersuchen wenig sind.
Aber diese 1 300 Auskunftsersuchen bedrohen jeden Schwarzgeldbesitzer oder Steuerhinterzieher, weil dieser immer damit rechnen muss, dass auch sein Konto ergriffen wird.
In der Zusammenarbeit von deutschen und Schweizer Steuerbehörden können diese 1 300 Auskunftsersuchen regelmäßig gestellt werden. Das ist im Grunde die Bedrohung für die Steuerhinterzieher. Sie können nämlich erfasst werden.
Für uns ist wichtig, dass dieses Thema nicht nur hier im Bundestag beraten wird. Es wird gemeinsam mit den Ländern und natürlich auch mit Ihnen in der Opposition intensiv diskutiert. Wir beginnen diese Diskussion heute mit der ersten Lesung.
Wir gehen davon aus, dass von den Schweizern zunächst eine Abschlagszahlung in Höhe von 2 Milliarden Euro gezahlt wird. Das ist deutlich mehr, als Ihre Steueramnestie aus dem Jahr 2004/05 gebracht hat. Der Staatssekretär hat gerade gesagt, dass wir mit mindestens 10 Milliarden Euro rechnen können. In Zukunft werden alle Erträge in der Schweiz von allen deutschen Steuerbürgern erfasst. Das ist der fundamentale Unterschied, den Sie überhaupt nicht herausgestellt haben. Die Länder stehen sich dabei sehr gut. Deswegen gehe ich davon aus, dass die Länder kompromissbereit sein werden. Sie bekommen einen ersten Abschlag in Höhe von 30 Prozent und später weitere 30 Prozent, insgesamt also 60 Prozent.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Herr Kollege Flosbach, Sie sind am Ende der Redezeit. Dennoch möchte der Kollege Gambke eine Frage stellen.
Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU):
Ich bin am Ende meiner Redezeit. - 60 Prozent werden also die Länder erhalten, 10 Prozent, Herr Scheelen, die Kommunen, nur 30 Prozent der Bund. Deswegen sage ich den Bundesländern und der Opposition: Sie entscheiden mit, ob Steuerhinterzieher durch Ablauf von Verjährungsfristen oder durch Nichthandeln von einigen Gremien weiterhin ihre Gelder behalten können. Wir wollen die Gelder erfassen. Dafür gibt es dieses Abkommen. Wir wollen das auch umsetzen.
Vielen Dank.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Kollege Dr. Thomas Gambke hat die Möglichkeit zu einer Kurzintervention.
Dr. Thomas Gambke (BÃœNDNIS 90/DIE GRÃœNEN):
Es tut mir leid, aber Sie haben die Frage nicht zugelassen. - Die Frage, die ich an Sie richte, ist sehr wichtig. In einem Ihrer letzten Sätze haben Sie von der Möglichkeit eines Kompromisses gesprochen, wenn wir jetzt intern im Parlament in die Verhandlungen gehen. Meine konkrete Frage ist: Können wir damit rechnen, dass wir im Sinne eines Kompromisses noch einmal Nachverhandlungen mit der Schweiz führen werden?
Vizepräsident Eduard Oswald:
Zur Antwort, Kollege Klaus-Peter Flosbach.
Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU):
Vielen Dank, Herr Kollege, für diese Frage. - Wir diskutieren heute den Entwurf der Bundesregierung. Als Parlament werden wir uns mit diesem Thema beschäftigen. Parallel dazu laufen die Beratungen in den Bundesländern. Selbstverständlich werden wir im Finanzausschuss diese Themen diskutieren. Wir haben aber auch bereits nachverhandelt. Herr Gerster hat hervorragend dargestellt, welche neuen Möglichkeiten erreicht worden sind. Es sind sicherlich einige Verbesserungen erreicht worden. Die Verbesserung, dass die Zahl der Auskunftsersuchen von 999 auf 1300 erhöht worden ist, hat er als herausragend dargestellt. Aber dass es überhaupt Auskunftsersuchen gibt, hat er in Misskredit gebracht.
Die zentralen Punkte sind ohne Zweifel verhandelt. Ob es Möglichkeiten der Nachverhandlung gibt, wird sich im Laufe des Verfahrens zeigen. Ich jedenfalls freue mich darauf, dass wir uns mit diesem Thema sehr intensiv beschäftigen werden.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die Aussprache.
Gemeinsam haben wir verhandelt, dass die Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 17/10059 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen wird. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann haben wir die Überweisung gemeinsam so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme nun zu den Tagesordnungspunkten 49 a bis 49 c:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Undine Kurth (Quedlinburg), Renate Künast, Bärbel Höhn, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Tierschutzgesetzes (TierSchGNeuregG)
- Drucksache 17/9783 -
Ãœberweisungsvorschlag:
A. f. Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (f)
Rechtsausschuss
A. f. Wirtschaft und Technologie
A. f. Gesundheit
A. f. Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
A. f. Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
A. f. die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Heinz Paula, Dr. Wilhelm Priesmeier, Petra Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Tierschutzgesetz ändern - Kennzeichnung von Pferden tierschutzgerecht ausgestalten
- Drucksachen 17/4850, 17/5563 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Stier
Heinz Paula
Hans-Michael Goldmann
Alexander Süßmair
Undine Kurth (Quedlinburg)
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Alexander Süßmair, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Tiertransporte verringern - Tierschutz verbessern
- Drucksachen 17/6913, 17/8028 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Stier
Heinz Paula
Hans-Michael Goldmann
Alexander Süßmair
Friedrich Ostendorff
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Sind Sie alle damit einverstanden? - Dann haben wir das hiermit beschlossen.
Erste Rednerin in unserer Aussprache ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin Undine Kurth. Bitte schön, Frau Kollegin Undine Kurth.
Undine Kurth (Quedlinburg) (BÃœNDNIS 90/DIE GRÃœNEN):
Vielen Dank. - Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren auf den Rängen! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor fast genau zehn Jahren - es war der 17. Mai und nicht der 29. Juni - ist in diesem Hohen Hause parteiübergreifend mit großer Mehrheit beschlossen worden, den Tierschutz als Staatsziel in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland aufzunehmen. Es waren damals 543 Ja- und nur 19 Nein-Stimmen. Seitdem ist der Schutz der Tiere ein eindeutiger staatlicher Handlungsauftrag.
Leider aber fußt das geltende Tierschutzgesetz, da es noch keine grundlegende Überarbeitung erfahren hat, zum Teil auf Herangehensweisen und Wertvorstellungen, die noch aus der Zeit stammen, als man darüber diskutierte, ob Tiere nicht als Sache zu behandeln seien. Es ist nicht nur ärgerlich, dass das so ist, sondern es ist ein großes Missverhältnis. Das muss dringend beseitigt werden. Deshalb legen wir, die Grünen-Fraktion, heute ein grundlegend überarbeitetes Tierschutzgesetz zur Beratung vor.
Wer in die Geschichte schaut, weiß genau: Jeder Fortschritt im Tierschutz - wirklich jeder - muss hart erkämpft werden, erfordert Leidenschaft und Engagement.
Ohne diese Leidenschaft und dieses Engagement hätten zum Beispiel Renate Künast und Bärbel Höhn in diesem Land nie Veränderungen für die Legehennen - das Verbot der Käfighaltung - durchbekommen.
- Bleiben Sie ganz ruhig!
Zu besonderem Dank sind wir alle in diesem Zusammenhang den Tierschutzverbänden verpflichtet. Einige Vertreter sind heute unsere Gäste und verfolgen die Beratung von der Tribüne aus. Ich grüße Sie von hier unten herzlich. Es sind nämlich die engagierten Bürgerinnen und Bürger in den Verbänden, die uns immer wieder auf gravierende Missstände aufmerksam machen und Veränderungen einfordern. Das ist notwendig und wichtig.
In den vier Minuten Zeit, die ich hier zur Verfügung habe,
kann ich leider nicht alle wesentlichen Neuregelungen unseres Gesetzentwurfs vorstellen. Ich kann aber auf die Grundprinzipien hinweisen, die ihm zugrunde liegen:
Erstens. Tiere haben einen Anspruch auf Leben und Unversehrtheit. Sie haben einen Anspruch auf Schutz um ihrer selbst willen - nicht nur, weil sie uns nützen.
Zweitens. Eingriffe in diese Rechte können wir nur dulden und zulassen, wenn es dafür einen rechtfertigenden Grund gibt. Rechtfertigend ist aber nicht alles, was uns bisher vernünftig erschien. Wir müssen lernen: Nicht alles, was sich rechnet, rechtfertigt sich auch.
Ein alarmierendes Beispiel dafür sind die Zustände, wie wir sie heute in der Landwirtschaft erleben. Sie wissen selber: In Deutschland werden jährlich ungefähr 114 Millionen Hühner, 11,5 Millionen Schweine und 12,5 Millionen Rinder gehalten,
und zwar größtenteils unter Haltungsbedingungen, die wir alle zusammen nicht akzeptieren sollen, dürfen und können.
Ich frage mich wirklich: Wie viele Skandale, grausame Bilder oder in solchen Anlagen erstickte Tiere brauchen wir eigentlich noch, ehe wir alle - Sie alle wissen von diesen Missständen - bereit sind, Konsequenzen zu ziehen?
Einer der größten Skandale in diesem Zusammenhang ist die Anpassung der Tiere an die Bedingungen der industriellen Massentierhaltung. Schweinen werden Schwänze kupiert, Enten und Hühnern brutal die Schnäbel gekürzt, Rindern werden Hörner weggeätzt. Weil das alles passiert, damit die Tiere sich unter diesen unwürdigen Bedingungen nicht gegenseitig massakrieren, wird uns das auch noch als Tierschutz verkauft.
Das kann nicht Ihr Ernst sein!
Verantwortungsvoller Umgang mit Tieren sieht anders aus. Da werden die Tiere nicht den Haltungsbedingungen angepasst, sondern die Haltungsbedingungen entsprechen den Bedürfnissen der Tiere.
Wir brauchen dringend Veränderungen; das wissen wir eigentlich alle. Diese Veränderungen wollen wir erreichen. In diese Richtung gehen ja auch die Anträge von SPD und Linken, die wir mitbehandeln.
Abschließend möchte ich Ihnen sagen: Ich weiß, dass dieser Gesetzentwurf - bis hin zum Verbandsklagerecht für anerkannte Tierschutzverbände - in einigen Fraktionen und bei manchen Lobbyisten für Unruhe sorgen wird. Das ist, ehrlich gesagt, auch so gewollt. Ich möchte Sie aber herzlich bitten, diesen Gesetzentwurf als Grundlage für ernsthafte Diskussionen zu nehmen.
Er ist entstanden in der Zusammenarbeit mit Tierärzten, Amtsveterinären, Wissenschaftlern, Verbänden, Tierschützern und vielen engagierten Menschen in diesem Land.
Er ist ein Angebot zur Diskussion. Lassen Sie uns diesen Entwurf nutzen, um den Tierschutz in Deutschland ernsthaft voranzubringen! Wir Grüne jedenfalls sind bereit und willens, für den Schutz der Tiere einen großen Schritt nach vorn zu gehen. Ich möchte Sie herzlich bitten, sich zu überlegen, ob Sie das nicht auch wollen.
Danke schön.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Frau Kollegin Kurth. - Nächster Redner ist der Kollege Dieter Stier, dem ich jetzt zu seinem Geburtstag gratuliere, den er heute feiert.
Ich habe das nicht nur gesagt, damit er den Beifall des gesamten Hauses bekommt.
Bitte schön, Kollege Dieter Stier.
Dieter Stier (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich die Gelegenheit nutzen, mich für die von allen Seiten des Hauses zugegangenen herzlichen Glückwünsche zu meinem heutigen Geburtstag zu bedanken. Meine Freude könnte durchaus länger währen, wenn ich nicht zu einem Tagesordnungspunkt sprechen müsste, bei dem wir uns mit einem Gesetzentwurf der Opposition beschäftigen.
Mit Verwunderung habe ich zur Kenntnis genommen, dass die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen einen eigenen Gesetzentwurf zur Neuregelung des Tierschutzes vorgelegt hat - Frau Kurth hat ihn eben kurz skizziert -, und dies während eines laufenden Abstimmungsverfahrens zu einem seit dem 23. Mai vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung in gleicher Sache.
Das ist schon ungewöhnlich. Statt der üblichen Änderungsanträge der einzelnen Fraktionen wird uns hier von Ihnen ein über 100 Seiten starkes Gesetzeswerk präsentiert, dessen professionelle Ausgestaltung - das muss ich Ihnen zugestehen - überrascht.
Ein Lob spreche ich Ihnen für die juristische Abhandlung aus. In der Sache drängt sich mir aber die Frage auf, in welcher Schmiede dieses Gesetzeswerk entstanden ist, aber darüber möchte ich hier und heute erst einmal nicht spekulieren.
Bekanntlich folgt nach dem Lob Kritik.
Der von Ihnen vorgelegte Gesetzentwurf, meine Damen und Herren von Bündnis 90/Die Grünen, bringt aus unserer Sicht keine Verbesserung für den Tierschutz. Er ist ein Katalog der Grausamkeiten, mit negativen Folgen für landwirtschaftliche Arbeitsplätze und den ländlichen Raum insgesamt. Darüber hinaus ist er ein Bürokratiemonster.
Er ist wirtschaftsfeindlich und hilft uns in Sachen Tierschutz nicht weiter.
Alle Ihre Forderungen gehen weit über eine Eins-zu-eins-Umsetzung von EU-Recht hinaus.
Die Umsetzung dieses Horrorkatalogs hätte fatale Konsequenzen für die Tierhaltung in Deutschland.
- Liebe Frau Künast, da hilft kein Schreien. Man muss sich damit beschäftigen. - Sie fordern maßlos überzogene Standards in der Tierhaltung, und gleichzeitig verkennen Sie, dass nur wenige tierhaltende Betriebe überhaupt in der Lage sein werden, diese hohen Anforderungen zu erfüllen.
Ist Ihnen eigentlich bewusst,
dass Sie mit diesen Auflagen massiv gerade gegen kleine und mittlere landwirtschaftliche Betriebe vorgehen, welche Sie sonst eigentlich fördern wollen?
Sie vernichten damit die bäuerliche, sogenannte bodengebundene Tierhaltung, und Sie zerstören landwirtschaftliche Strukturen.
Sie treiben tierhaltende Bauernhöfe in den Exodus. Sie müssen den Menschen ehrlich sagen, dass Sie die landwirtschaftliche Tierhaltung in Deutschland abschaffen wollen.
Dabei sind es doch gerade die bodengebundenen Betriebe, die es zu schützen gilt;
denn diese produzieren die Futtergrundlage für das Vieh, auch auf dem eigenen Hof. Lediglich große landwirtschaftliche Betriebe, die nicht bodengebunden produzieren, die sehr stark gewerblich ausgerichtet sind, könnten die von Ihnen geforderten Standards einhalten und die damit einhergehende Kostenbelastung schultern.
Meiner Meinung nach vernichten die von Ihnen geforderten hohen Standards geradezu die bäuerliche Tierhaltung. Sie fördern sie nicht, sondern tragen zu einer weiteren Vernichtung von Arbeitsplätzen im ländlichen Raum bei. Ich frage Sie: Wollen Sie dafür wirklich die politische Verantwortung übernehmen?
Zu den einzelnen Details Ihres Gesetzentwurfes. Sie wollen Schlachttiertransporte auf vier Stunden begrenzen.
Sie wollen Befugnisse von Tierschutzorganisationen erweitern.
Sie wollen ein Verbandsklagerecht einführen.
Sie wollen staatliche Beauftragte für den Tierschutz auf Bundes- und Landesebene.
Sie wollen die Anerkennung, dass die Angst der Tiere Leiden bedeutet. Ich stelle mir ernsthaft die Frage, wie Sie das feststellen wollen.
Besonders erschreckend ist die Aussage, welche sonstigen Kosten durch die Umsetzung des Gesetzes anfallen würden. Nach Ansicht der Grünen halten sich die Kosten im Rahmen dessen, was im Interesse eines von der Gesellschaft gewollten effektiven Tierschutzes notwendig ist. Angesichts der Opportunitätskosten für die deutsche Landwirtschaft heißt das im Klartext - ich denke, das müssen Sie auch unverblümt sagen -: Wir beerdigen damit die Tierhaltung in Deutschland.
Das kann nicht unser Ziel sein. Richtig ist, dass sich die Tierhalter zunehmend mit einer kritischen Öffentlichkeit auseinandersetzen müssen. Das ist akzeptabel. Das ist auch gut so.
Dennoch muss der Sachverstand der Tierhalter - den schließen Sie aus - anerkannt werden. Es darf nicht zu einer Vermenschlichung von Nutztieren kommen.
Deutschland wird in der EU und auf der ganzen Welt für seine hohen Standards im Tierschutz geschätzt. Das betone ich hier abermals. Mit der von der Regierungskoalition vorgelegten Novelle des Tierschutzgesetzes gehen wir, wie bereits erwähnt, über die Eins-zu-eins-Umsetzung der Vorgaben der EU-Ebene hinaus. Das ist aus unserer Sicht zwar ein Kompromiss, den wir aber in weiten Teilen mittragen, um mit der Opposition und den Tierschutzverbänden auf einen Nenner zu kommen.
- Das zeigt Ihre Einstellung, Herr Kollege Ostendorff.
Jetzt komme ich zum Antrag der SPD und zum geforderten Verbot des Schenkelbrandes beim Pferd. Auch in diesem Punkt werden wir mit Ihnen nicht mitgehen.
Das Plenum des Hohen Hauses hat bereits einen gleichlautenden Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zu diesem Thema abgelehnt.
Eine Kennzeichnungsmethode, die geltendem EU-Recht entspricht, die sich über Jahrhunderte bewährt hat, die tierzüchterisches Kulturgut
und ein Aushängeschild der sehr erfolgreichen deutschen Pferdezucht ist, werden wir Ihnen zuliebe nicht opfern.
Meine Kollegen in der christlich-liberalen Koalition und ich werden gemeinsam nicht nachlassen, die bestehenden hohen Tierschutzstandards in Deutschland ständig weiterzuentwickeln; das habe ich an dieser Stelle schon mehrfach betont. Wir werden das mit Augenmaß und im Einklang mit der Wirtschaftlichkeit in der Tierhaltung tun. Ich lade Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, herzlich ein, dieses Thema im Herbst mit uns zu beraten. Ich denke, wir sollten das auf sachliche Weise tun.
Vielen Dank.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Kollege Dieter Stier. - Nächster Redner für die Fraktion der Sozialdemokraten ist unser Kollege Heinz Paula. Bitte schön, Kollege Heinz Paula.
Heinz Paula (SPD):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor kurzem, nachdem die Bundesregierung eine Novelle zum Tierschutzgesetz vorgelegt hat, habe ich mich an zahlreiche Tierschutzverbände, Tierärzte und engagierte Persönlichkeiten mit der Bitte um kurze Einschätzung des vorgelegten Entwurfs gewandt: Was ist gut? Was kann verbessert werden? - Sie vermuten es bereits. Die durchgehende Ansage war: Der Entwurf greift zu kurz; er reicht nicht aus, um auch nur im Ansatz die Probleme im Bereich des Tierschutzes zu beheben bzw. zu Verbesserungen zu kommen.
Es versteht einfach niemand, dass zum Beispiel hinsichtlich der betäubungslosen Kastration bei Ferkeln bis 2017 gewartet werden soll. Niemand versteht das Geschrubbel bei den Ausführungen zu den Wildtieren in Zirkussen. Mit einem Wort: Der vorgelegte Entwurf greift viel zu kurz. Im Gegensatz zu dem Horrormärchenerzähler vor mir kann ich einfach sagen: Der Entwurf der Bundesregierung zeigt, dass man nicht über den Tag hinaus gedacht hat. Erst recht geht man damit nicht über die EU-Vorgaben hinaus.
Dabei weiß die Bundesregierung doch ganz genau, wo überall Probleme zu finden sind. Sie haben doch selbst einen Tierschutzbericht vorgelegt. Leider verweigern Sie die Diskussion darüber im Ausschuss bisher. Ich greife nur einen einzigen Punkt heraus - Zitat -:
Die Praxis des Schwänzekupierens bei Ferkeln wird aus Tierschutzsicht zu Recht kritisiert.
Was tun Sie denn, um an dieser Stelle gegenzusteuern?
Erst letzte Woche hat Ihr Staatssekretär Peter Bleser, CDU, auf die verheerende Situation in unseren Schlachthöfen klar hingewiesen.
Elende Arbeitsbedingungen und ungenügende Lohnzahlungen führen in der Konsequenz automatisch zu unsäglichem Tierelend und Tierleid. Nehmen Sie doch bitte einfach zur Kenntnis: Von den rund 59 Millionen getöteten Schweinen im Jahr sind bei handgeführten elektrischen Schlachtanlagen bis zu 12,5 Prozent nicht ausreichend betäubt. Das heißt im Klartext: Diese Tiere gehen lebendig in die entsprechenden Brühbehälter. Es ist ein Armutszeugnis, dass die Bundesregierung hier nicht endlich konkrete Schritte unternimmt.
Dass es so nicht weitergehen kann, liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungskoalition, unterstreichen doch überdeutlich Ihre eigenen Minister. Herr Kollege Goldmann, Herr Holzenkamp, Sie kennen doch Ihren Minister Lindemann.
Herr Staatssekretär, Sie wissen doch, in Bayern gibt es den CSU-Landwirtschaftsminister Brunner. All die haben mit ihren Initiativen weitgehende Änderungen dieses von Ihnen vorgelegten Entwurfes mit eingefordert, und das zu Recht.
Sie wissen, wir von der SPD-Bundestagsfraktion haben eine Fülle von Initiativen zur Verbesserung des Tierschutzes gestartet. Ich nenne einige wenige, zum Beispiel den Tierschutz-TÜV und Verbesserungen bei der Kaninchenhaltung; da kommen auch Sie jetzt allmählich in die Puschen. Gegen die Verstümmelungen von Tieren brauchen wir dringend ein konsequentes Verbot. Wir brauchen Verbesserungen im Bereich der Intensivtierhaltung und beim Antibiotika-Einsatz sowie ein Verbot von Wildtierhaltung in Zirkussen, Herr Kollege Goldmann. Die Käfigkleingruppenhaltung von Legehennen muss endlich beendet werden. Ich könnte die Liste fortführen. Wir haben eine große Palette an Themen aufgegriffen.
Heute geht es daher auch um unseren Antrag zum Verbot des Schenkelbrandes bei Pferden. Sie wissen doch, dass seit 2009 von der EU klar vorgegeben ist, eine entsprechende eindeutige Kennzeichnung mit Chips vorzunehmen.
Ein Brandzeichen - Herr Stier, da hilft alles Lamentieren und Leugnen nichts - ist eine Verbrennung dritten Grades.
Dies ist eine überflüssige Schikane von Tieren.
Wenn Sie sich schon auf die klare Ansage von Experten berufen, Herr Stier, empfehle ich Ihnen dringend, zum Beispiel die Bücher von Fred Rai, einem anerkannten Experten, zu lesen. Er schreibt klipp und klar - ich zitiere ihn kurz -: Pferde kennen als Fluchttiere keinen Schmerzschrei - das sollten Sie wissen -, doch sie spüren den Schmerz genauso wie Menschen; auch das sollten Sie wissen. Ein Schenkelbrand diene einzig der Werbung für Pferdezüchter und werde völlig verharmlost.
Wenn Sie schon dem Experten nicht glauben, dann glauben Sie doch Ihrer eigenen Expertin. Ich darf Frau Aigner, Ihre Ministerin, zitieren:
Da seit Jahren das elektronische Chippen zur Kennzeichnung von Pferden vorgeschrieben ist, ist die bisherige Ausnahmeregelung für Brandzeichen hinfällig.
Nehmen Sie das einfach zur Kenntnis.
Ich darf auch aus einer Stellungnahme der Bundesregierung zitieren:
Die Bundesregierung unterstützt die Anliegen des Bundesrates, den Schenkelbrand bei Pferden aus Gründen des Tierschutzes zu verbieten.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Kollege Heinz Paula, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dieter Stier?
Heinz Paula (SPD):
Aber liebend gerne, Herr Kollege.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Sogar liebend gerne. - Bitte.
Dieter Stier (CDU/CSU):
Lieber Herr Kollege Paula, vielen Dank. - Ich wollte Sie fragen, wie Sie die Sachlage beurteilen, dass Gutachter von beiden Seiten auch den Chip als schmerzhafte Methode bewerten und dass bisher nicht sachgerecht geklärt ist, welche von beiden Methoden die schmerzhaftere ist. Wie bewerten Sie diese Sachlage?
Heinz Paula (SPD):
Herr Kollege, Sie haben schlicht und ergreifend die falsche Datenlage. Ich kenne auch die Gutachten, die immer wieder mit eingebracht werden, zum Beispiel von Herrn Schatzmann oder von Herrn Professor Steinkraus. Sie müssen sich einmal die Formulierungen in den Gutachten genau anschauen. Lassen Sie sich die einmal auf der Zunge zergehen: „... die ... Resultate ... divergierend beurteilt werden können“. Was heißt denn das? Wollen Sie sich auf solch eine Untersuchung stützen?
Es schlägt allerdings dem Fass den Boden aus, wenn ein anerkannter Dermatologe wie Herr Professor Steinkraus zu folgender Formulierung kommt - die muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen -:
Die untersuchte Haut zeigte in den heißbrandbehandelten Regionen keine nennenswerten Veränderungen.
Verbrennungen dritten Grades bezeichnet ein Professor in einem Gutachten als „keine nennenswerten Veränderungen“.
Entschuldigung, das können Sie beruhigt vergessen. So kommen Sie an dieser Stelle keinen Schritt weiter.
Kolleginnen und Kollegen, es ist spannend, wie hier ein Redner der CDU ans Rednerpult tritt und der eigenen Ministerin im Grunde genommen eine solch schallende Ohrfeige verpasst, dass man für die weiteren Diskussionen über das Thema Schenkelbrand wirklich Schlimmstes befürchten muss.
Es ist spannend, zu beobachten, dass das Kabinett noch zentrale Fragen hat, zum Beispiel zum Schenkelbrand.
Unser Chefdiplomat Westerwelle befasste sich in einer Kabinettssitzung mit diesem Thema.
Wie man hört, befasst sich auch Frau von der Leyen damit.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Herr Kollege Paula, es gibt den Wunsch nach einer weiteren Zwischenfrage. Wollen Sie sie zulassen oder nicht?
Heinz Paula (SPD):
Können wir uns darauf einigen, dass ich jetzt mit meiner Rede fortfahre? Denn ich glaube, durch Zwischenfragen gewinnen wir keine neuen Erkenntnisse. Man wird eigentlich nur aufgehalten.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Frau Kollegin, Sie haben es wahrgenommen
Heinz Paula (SPD):
Meine Sorge ist, dass sich die Ewiggestrigen in Ihrer Regierungskoalition schlicht und ergreifend durchsetzen werden, dass auf der einen Seite die Ministerin treuherzig für den Tierschutz eintreten und auf der anderen Seite die Koalitionsmehrheit den Forderungen der Pferdezüchter Folge leisten wird.
Um das Ganze zu entlarven, möchte ich ganz kurz aus einer Fraktionssitzung - im Spiegel nachzulesen - zitieren. Der Kollege Max Straubinger, CSU, bringt es auf den Punkt - Zitat -:
Wie eine Politikerin aus Oberbayern ein Jahr vor entscheidenden Wahlen eine solch belastende Regelung auf den Weg bringen kann, ist mir schleierhaft.
Es geht also um Wahlkampf und nicht um Tierschutz. Das ist - ganz im Vertrauen - erbärmlich.
Es ist schade, dass Frau Ministerin Aigner - wie immer, wenn es um Fragen des Tierschutzes geht - nicht anwesend ist.
Das ist wirklich sehr bedauerlich. Denn es wäre für sie sehr interessant, einmal mitzubekommen, wie ihre eigene Koalition ihre Initiativen behandelt. Es wäre auch sehr spannend, einmal von ihr zu hören, was sie unternimmt - außer ankündigen und verzögern. Ankündigen und verzögern, das scheint die Art von Politik zu sein, mit der sie sich bis zum Wahltermin 2013 über die Zeit retten zu können glaubt.
Kolleginnen und Kollegen, ich hatte anfangs kurz angesprochen, dass die E-Mail-Aktion sehr interessante Ergebnisse gebracht hat, auch inhaltlich. Bei aller Unterschiedlichkeit, was die Beurteilung der einzelnen Maßnahmen angeht, wurde eines deutlich: die Bitte an uns Abgeordnete, uns ernsthaft mit den Fragen, die sich im Zusammenhang mit dem Tierschutz stellen, zu befassen.
In jeder Antwort kam die an uns gerichtete Hoffnung zum Ausdruck, parteiübergreifend zu Lösungen zu kommen.
Wenn ich mir vor Augen halte, was mein Vorredner gesagt hat, befürchte ich allerdings, dass die Bürgerinnen und Bürger darauf noch sehr lange werden warten müssen und dass es noch sehr lange dauern wird, bis die Kollegen von der Regierungskoalition den Auftrag des Grundgesetzes - ich erinnere Sie an Art. 20, in dem es heißt, dass der Staat die Tiere schützt - endlich ernst nehmen.
Es ist Zeit, dass Sie endlich handeln.
Ich bedanke mich.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Jetzt hat die Kollegin Sibylle Pfeiffer zu einer Kurzintervention das Wort.
Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU):
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Kollege Paula, ich bin Pferdebesitzerin und Züchterin. Ich habe Sie so verstanden, dass Sie mir unterstellen, ich würde mich nicht an die Regelungen des Tierschutzes halten bzw. sie nicht beachten. Des Weiteren hatte ich das Gefühl, Sie würden mir als Züchterin und Pferdebesitzerin unterstellen, ich sei eine Tierquälerin. Ich möchte mich ausdrücklich und in aller Form dagegen verwahren. Das tue ich, wie ich annehme, wahrscheinlich im Namen aller Pferdebesitzer und aller Pferdezüchter. Ich möchte Sie bitten, bei Ihren Formulierungen etwas vorsichtiger zu sein, wenn Sie über diese Themen, von denen Sie offensichtlich keine Ahnung haben, reden.
Wie, bitte, Herr Kollege Paula, unterscheiden wir Pferdebesitzer und Züchter uns von denen, die einem Pferd einen Chip einsetzen, wodurch es zu Verletzungen und Entzündungen kommen kann, im schlimmsten Fall sogar dazu, dass der Chip bis in die Knochen wandert
und dadurch nachhaltigen Schaden anrichtet?
Vizepräsident Eduard Oswald:
Das Wort zur Antwort hat Kollege Heinz Paula.
Heinz Paula (SPD):
Herr Präsident! Ich darf feststellen: Es war wirklich sehr sinnvoll, die Frage vorhin nicht zuzulassen; denn im Grunde genommen kam außer Vorhaltungen, die uns zu keinem Ergebnis führen, nichts Substanzielles. Sie haben nur die ganze Palette an Vorurteilen vorgetragen, mit der interessierte Verbände zurzeit schlicht und ergreifend versuchen, der Öffentlichkeit Sand in die Augen zu streuen.
Sie wissen, in welchen Ländern der Chip bereits eingesetzt wird, nämlich europaweit, und Sie müssen zur Kenntnis nehmen: Eine Reihe von Ländern hat die Brandmarkung schon verboten. Darüber hinaus wissen Sie, dass es keine fundierten Gutachten gibt,
die die Horrorszenarien - wandernde Chips, Nichtlesbarkeit, Manipulierbarkeit etc. - bestätigen.
Sie müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass selbst Ihre eigenen Verbände - die der Traber und die der Galopper - seit 1994 bzw. 2003 freiwillig chippen. Seit 2009 sind über 150 000 Pferde gechippt worden, und siehe da: All die Horrorszenarien in Bezug auf den Chip, die Sie und Ihre Verbände immer wiederholen, sind in keinster Weise eingetreten.
Eindeutig klar ist allerdings, dass eine Verbrennung dritten Grades eine erhebliche Verletzung für die Pferde ist. Ich glaube, das werden nicht einmal Sie leugnen können.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Der nächste Redner ist der Kollege Hans-Michael Goldmann. Sie sprechen für die Fraktion der FDP. Bitte schön, Kollege Hans-Michael Goldmann.
Hans-Michael Goldmann (FDP):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mich auf die heutige Debatte gefreut, weil ich glaube, dass es ganz wichtig ist, dass wir uns nach Möglichkeit fraktionsübergreifend, vielleicht sogar gesellschaftsübergreifend, intensiv mit diesem Thema beschäftigen.
Liebe Undine Kurth, Sie haben es vorhin angesprochen: Vor zehn Jahren waren wir uns ziemlich einig. Man kann nicht sagen, dass wir danach nichts erreicht haben, aber man kann sicherlich sagen, dass wir noch mehr erreichen können.
Man muss aber auch sagen: Das können wir nur gemeinsam erreichen.
Es macht keinen Sinn, hier im Deutschen Bundestag aufgrund von parlamentarischen Mehrheiten irgendwelche Weichenstellungen vorzunehmen; denn erstens müssen sie sowieso immer mit den Vorstellungen der Länder im Einklang stehen, und zweitens verändern sich die politischen Mehrheitsverhältnisse manchmal. Ich glaube also, das wäre schädlich für die Gesamtentwicklung im Tierschutz zum Wohle des Tieres.
Jetzt bringen wir die Novellierung des Tierschutzgesetzes auf den Weg. Dazu wurde die Bundesregierung durch die europäische Ebene gedrängt. Ursache dafür waren in erster Linie Tierversuche. Ich finde es richtig, dass an dieses Gesetz einige zentrale Bausteine angehängt werden, die natürlich noch ausgestaltet werden müssen; das sollte man der Fairness halber sagen.
Die Charaktere der beiden Gesetzentwürfe - der Gesetzentwurf der Bundesregierung und der der Grünen - unterscheiden sich sehr deutlich. Lassen Sie uns aber erst einmal die Gemeinsamkeiten feststellen.
Ein Jahr früher, als von europäischer Ebene vorgegeben, steigen wir aus der betäubungslosen Kastration aus. Vielleicht geschieht das etwas später als bei dem einen oder anderen in der Tierproduktion Tätigen, der schon jetzt ausgestiegen ist, aber ich glaube, das muss man einmal herausstellen. Bis 2017 haben wir dieses Thema beendet, und ich nehme an, darüber freuen sich 20 Millionen Ferkel.
Daneben haben wir uns mit den Wildtieren beschäftigt. Auch Sie beschäftigen sich in Ihrem Gesetzentwurf damit. Sie wollen eine Positivliste; ich halte nicht viel von einer Positivliste. Ich glaube, es ist richtiger, eine Ausschlussliste zu erstellen und das Halten von Tieren in Zirkussen daran zu orientieren, wie die Bedingungen im jeweiligen Zirkus wirklich sind.
Hier gibt es sehr große Unterschiede und sehr unterschiedliche fachliche Kompetenzen. Ich glaube, es ist wichtig, dass man sich an der fachlichen Schiene orientiert.
Wir tun etwas gegen streunende Katzen. Wir müssen allerdings gewaltig aufpassen, dass wir die Katzenhalter, deren Katzen auch aus dem Haus herausdürfen, nicht gegen uns aufbringen. Ich glaube aber, dass wir vernünftig damit umgehen. Es sind sich alle darüber im Klaren, dass streunende Katzen ein Problem sind und dass wir sie nicht nur kastrieren sollten, sondern auch dafür sorgen sollten, dass sie danach vernünftig untergebracht sind. Das ist eine große Herausforderung.
- Ja, mal langsam. Wir haben das in der letzten Woche im Rat behandelt.
Ich weiß nicht, was die Stadt Augsburg bis jetzt getan hat, um diesem Problem zu begegnen.
Und dann kommen Begriffe, die wir auffüllen müssen; da sind wir uns einig. Natürlich müssen wir die Tierwohlbedingungen verbessern. In diesem Bereich sind wir uns doch völlig einig. Das müssen wir fachlich abarbeiten. Wir müssen uns insbesondere mit dem Qualzuchtverbot beschäftigen. Auch da sind wir uns einig. Dabei sollten wir uns aber daran orientieren, was ernstzunehmende Leute interessenorientiert sagen. Ich zitiere die DAFA, die Deutsche Agrarforschungsallianz: Wissenschaftler, Wirtschaft und kritische Gruppen müssen gleich bei der Konzeption mit eingebunden sein, um zu gemeinsamen Lösungen zu kommen.
Das ist der springende Punkt. Ich bin völlig Ihrer Meinung, wenn Sie sagen, es gibt in diesen Bereichen an einigen Stellen Fehlentwicklungen, die wir korrigieren müssen. Diese Korrekturen werden dazu führen, dass die gesellschaftliche Akzeptanz für qualifizierte Haltungsformen insgesamt verbessert wird.
Nun möchte ich auf den Gesetzentwurf eingehen. Ich finde ihn prima und habe ihn sehr gern gelesen, allerdings - das muss ich zugeben - nicht gleich verstanden.
Denn in dem Einstieg zu diesem Bereich wird der Begriff „Konkordanz“ genannt. Dieser Begriff wird von Ihnen sehr juristisch aufgearbeitet. Ich finde den Begriff hochspannend. Er ist allerdings - ich sage es in Anführungsstrichen - nicht ganz ungefährlich. Ich bin dafür, dass wir zwischen der Tierschutzverpflichtung - überhaupt keine Frage - und dem Nutzungsrecht abwägen. Bezüglich der Ausführung, die Sie meiner Meinung nach an sehr vielen Stellen in Ihrem Gesetzentwurf zum Ausdruck bringen, müssen Sie sich schon den Vorwurf gefallen lassen, Sie wollten eigentlich keine Ernährung mehr aus tierischer Produktion.
Schauen wir uns einmal an, was Sie da machen. Sie machen das Ganze - vielleicht darf man in diesem Zusammenhang den Schweinebegriff verwenden - sauteuer. Darüber müssen Sie sich im Klaren sein. Wenn Sie jedem Tier eine Liegefläche, eine Futterfläche, eine Kotfläche und eine Freilauffläche anbieten wollen, dann hat das Investitionskosten zur Folge, die nicht von schlechten Eltern sind. Das sage ich Ihnen ganz ehrlich.
Und da tun sich die Betriebe, die im Moment mit diesen Bedingungen Schwierigkeiten haben, schwerer als die Großen, die in diesem Markt sind. Frau Künast, das ist so etwas mit den Geflügelbaronen, die Sie eben genannt haben. Das Problem ist, dass die Geflügelbarone mit ihrer Geflügelproduktion Wertschöpfungen erzielen, die letztlich Möglichkeiten schaffen, tiergerechte Bedingungen sehr schnell nachzuvollziehen - wie es zum Beispiel bei der Käfighaltung erfolgt ist. In diesen Betrieben sind die Fortschritte am größten und die Fortschritte für die Tierhalter am besten.
Sie begleiten das Ganze auch mit einem erheblichen personellen Aufwand. Ich bin dafür, dass das eine oder andere passiert. Das ist überhaupt keine Frage. Aber dass man jedem Tun in diesem Bereich jemanden mit einer besonderen Haltung zum Tierschutz an die Seite stellt, halte ich schon für sehr problematisch. Als Liberaler will ich Ihnen auch sagen, dass ich dies für einen falschen Ansatz halte. Nicht Tierschützer müssen dafür sorgen, dass Tiere tiergerecht gehalten werden, sondern die Halter müssen dafür sorgen.
Deswegen müssen wir die Halter qualifizieren und die Bedingungen für die Halter verbessern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir können es ganz gelassen sehen. Wir sind uns doch im Ausschuss einig. Wir werden zu diesem Thema im Oktober eine Anhörung durchführen. Da werden beide Gesetzentwürfe, der der Bundesregierung und der der Grünen, auf dem Prüfstand stehen. Dafür werden wir uns genügend Zeit nehmen. Bis jetzt sind dafür drei Stunden vorgesehen. Wenn vonseiten der Grünen der Antrag gestellt wird, die Anhörung auf sechs Stunden oder mehr auszudehnen, habe ich überhaupt nichts dagegen. Lassen Sie uns dieses Thema sauber abarbeiten zum Wohle der Tiere, aber auch mit Blick auf die Sicherung einer klugen Agrarproduktion in Deutschland und in Europa.
Danke schön.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Kollege Hans-Michael Goldmann. - Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der Linken unser Kollege Alexander Süßmair. Bitte schön, Kollege Alexander Süßmair.
Alexander Süßmair (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach längerer Zeit haben wir endlich wieder das Thema Tierschutz auf der Tagesordnung des Deutschen Bundestages. Darüber freue auch ich mich. Im Mittelpunkt stehen hier der Gesetzentwurf vom Bündnis 90/Die Grünen zur Neuregelung des Tierschutzgesetzes, des Weiteren der Antrag der SPD zum Verbot des Schenkelbrands bei Pferden sowie ein Antrag von meiner Fraktion zur zeitlichen Begrenzung von Tiertransporten.
Die Linke beantragt eine Begrenzung von Tiertransporten auf maximal vier Stunden. Wir wissen, dass dafür ein dezentrales Netz von Schlachthöfen erforderlich ist. Das ist auch richtig;
denn so bleibt die Wertschöpfung vor Ort. Zudem wird durch die Reduzierung des Verkehrs die Umwelt geschont. Wenn Sie also den Tieren und der regionalen Wirtschaft helfen möchten und auch noch etwas für die Umwelt tun wollen, dann stimmen Sie einfach dem Antrag der Linken zu.
Den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Novellierung des Tierschutzgesetzes werden wir heute leider nicht beraten; das haben wir schon gehört. Wie so oft hat Frau Bundesministerin Aigner auch bei diesem Thema gesagt, dass dringend Handlungsbedarf besteht, und angekündigt, dass sie einen Gesetzentwurf mit deutlichen Verbesserungen im Tierschutz vorlegen will. Das Ganze ist schon mehr als ein Jahr her. Jetzt erfahren wir, dass der Gesetzentwurf der schwarz-gelben Regierung erst im Herbst dieses Jahres im Plenum einbracht werden soll. Der Grund für diese Verschiebung hat sich hier teilweise schon abgezeichnet: ein Streit innerhalb der CDU/CSU über Themen, zu denen die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung eine eindeutige und klare Meinung hat, nämlich dass wir endlich ein Verbot von Wildtieren im Zirkus brauchen und dass der Schenkelbrand bei Pferden verboten werden muss. Das sieht die Linke genauso.
Deshalb werden wir dem Antrag der SPD zum Thema Schenkelbrand zustimmen. Die Debatte war sehr aussagekräftig und hat gezeigt, welche Ansichten hier bestehen, von denen wir einige nicht nachvollziehen können.
Allerdings glaube ich, dass sich die Koalition mit dieser Debatte um die wahren Probleme herumdrücken will; denn Tierschutzthema Nummer eins ist zurzeit die Situation bei der Intensivtierhaltung.
Dazu gehören die Qualzucht, das Beschneiden von Schnäbeln, Schwänzen und Hörnern, die Käfighaltung bei Geflügel, das Schreddern von Küken in der Legehennenzucht, die betäubungslose Kastration von Ferkeln. All das und noch vieles mehr sollten wir hier engagiert diskutieren. Wir von der Opposition werden Ihnen nicht durchgehen lassen, dass Sie sich davor drücken.
In diesem Jahr begehen wir ein Jubiläum - das ist schon gesagt worden -: zehn Jahre Tierschutz als Staatsziel. Was hat sich seitdem getan? Leider ist das Tierschutzrecht das alte geblieben; das muss sich dringend ändern.
In dem Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen steht sehr viel Richtiges. Ich begrüße es, Kollegin Kurth, dass Sie diesen Entwurf vorlegen. Allerdings sind wir von der Linken der Meinung, dass wir primär nicht neue und schärfere Normen brauchen, sondern die Normen und Gesetze endlich umsetzen müssen. Natürlich gibt es Bereiche, in denen wir Verschärfungen brauchen. Aber was nützen uns gute Gesetze und Verordnungen, wenn die Länder und Kommunen vor Ort kein Geld haben, um das Personal einzustellen, das die Einhaltung der Normen und Gesetze umsetzt? Das muss sich ändern, wenn wir den Tieren konkret helfen wollen.
Einen Widerspruch im Bereich Tierschutz löst leider auch der Gesetzentwurf der Grünen nicht auf. Ich meine § 90 a des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Darin steht, dass Tiere keine Sache sind, aber wie Sachen zu behandeln sind. Das müssen wir dringend ändern.
Wir brauchen im Tierschutzrecht endlich eine rechtliche Position der Tiere als leidensfähige Wesen, zwischen einer Sache auf der einen Seite und den Menschen auf der anderen Seite. Darum geht es. Sie können uns Linke haben, wenn wir endlich zu wirklichen Verbesserungen im Tierschutz kommen.
Vielen Dank.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Kollege Alexander Süßmair. - Letzter Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Josef Rief. Bitte schön, Kollege Rief.
Josef Rief (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, ich halte es schon für ein starkes Stück, dass Sie uns mit einem rund 100 Seiten umfassenden Entwurf eines Tierschutzgesetzes beschäftigen, obwohl Sie genau wissen - das haben meine Vorredner schon gesagt -, dass die Bundesregierung an einer Novellierung des Gesetzes arbeitet.
Ich glaube, dass Sie an der geplanten Anhörung ein sehr geringes Interesse haben, obwohl gerade Sie eine größere Einbindung der Verbände fordern.
Ich hoffe nicht, dass wir jetzt, wie vergangenen Freitag, jeden Freitag von der Opposition mehr Theater als Politik erwarten müssen.
Die Auseinandersetzung über den Tierschutz muss auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen und darf nicht ausschließlich einem hocherregten Teil der Bevölkerung folgen, welcher Nutztiere meist aus dem Fernsehen kennt. Aus Umfragen wissen wir: Die überwältigende Mehrheit der Landwirte geht mit ihren Tieren ordentlich um. Es kommt eben auf den Landwirt an.
Die permanent scharf geführte Debatte über Tierschutz verunglimpft einen ganzen Berufsstand. Ich bin davon überzeugt, dass die Mehrheit der Bevölkerung die heutige Nutztierhaltung mit ihren hohen Tierschutzvorgaben richtig findet.
Ich bin davon überzeugt, dass die Mehrheit der Bevölkerung den Tierhaltern vertraut. Zudem sind wir hier im internationalen Vergleich spitze.
Eine weitere Erhöhung der Tierschutzstandards ist nicht kostenlos zu haben. Auch das muss klar sein. Wo sind denn Ihre glaubwürdigen Ausgleichsmaßnahmen für die Tierhalter? Höhere Standards im deutschen Alleingang gefährden unsere Wettbewerbsfähigkeit und damit Arbeitsplätze auch im vor- und nachgelagerten Bereich. Sie führen - auch das ist schon gesagt worden - analog zur Legehennenhaltung zur Abwanderung der Produktion in die Nachbarländer.
Ihre Vorschläge sind letzten Endes ein Programm zum Höfesterben hierzulande, ohne dass die Tiere irgendeinen Vorteil davon haben.
Sie wissen genau, dass die Legebatterien, die in Deutschland abgebaut wurden, jetzt im Ausland stehen. Das kann doch nicht unsere Politik sein.
Die deutschen Landwirte setzen sich gerade mit ihrer Zukunftsstrategie Tierhaltung dafür ein, dass das Wohlbefinden des einzelnen Tieres im Vordergrund steht, und das ist gut so.
Der Antrag der Linken zu Tiertransporten zeigt völlige Praxisferne.
Die Behauptung, Transporte seien für die Tiere generell eine Tortur, trifft schlichtweg nicht zu.
Ich habe als Landwirt seit 30 Jahren mit dem Verladen von Tieren zu tun. Ich weiß bei diesem Bereich, wovon ich spreche. Glauben Sie ernsthaft, dass Transportunternehmen, Bauern und die beteiligten Behörden täglich Transporte und Fahrzeuge zulassen würden, bei denen Tiere, wie Sie in Ihrem Antrag schreiben, Hunger, Durst, Luftmangel und Schmerzen erleiden? Diese Vorwürfe mögen öffentlichkeitswirksam sein. Sie haben aber mit der Realität in Deutschland nichts zu tun.
- Negativbeispiele sind nicht repräsentativ, sehr geehrter Herr Kollege.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir führen diese Debatte jetzt noch zu einem ordentlichen Ende.
Josef Rief (CDU/CSU):
Die Regel ist - daran kann auch noch so viel Remmidemmi, wie man im Schwäbischen sagen würde, nichts ändern -, dass sich Landwirte, Transportunternehmen und Fahrer in Deutschland korrekt verhalten.
Auch die geforderte Begrenzung der Transportzeit auf vier Stunden ist nicht sachgerecht. Bis ein Fahrzeug, gerade wenn bei kleinen Betrieben mehrere Höfe angefahren werden müssen, aufgeladen hat, vergehen oft mehr als zwei Stunden.
Dies würde dazu führen, dass nur wenige Schlachtstätten mit dem Fahrzeug erreicht werden könnten. Auf diese Weise würden wir über die Begrenzung der Transportzeit eine Monopolisierung der Schlachtstätten geradezu erzwingen.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Herr Kollege, ich sehe, Sie haben noch zwei Blätter vor sich. Das scheint mir doch ein bisschen zu viel zu sein.
Josef Rief (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident, ich bin sehr oft unterbrochen worden.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Aber wir werden die Zeitvorgabe einhalten. Sie kommen jetzt bitte schön zum Schluss.
Josef Rief (CDU/CSU):
Jawohl. - Meine Damen und Herren, die Anträge der Opposition sind nicht praxisgerecht, dienen vorrangig der öffentlichkeitswirksamen Profilierung und sind einseitig gegen die Tierhalter und die Fuhrunternehmen gerichtet. Wir lehnen sie daher ab.
Danke schön.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Es geht doch.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die Aussprache.
Gemeinsam haben wir die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/9783 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vereinbart. Sind Sie damit einverstanden? - Widerspruch erhebt sich nicht. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 49 b. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel „Tierschutzgesetz ändern - Kennzeichnung von Pferden tierschutzgerecht ausgestalten“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5563, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/4850 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das sind die drei Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? - Keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 49 c. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Tiertransporte verringern - Tierschutz verbessern“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8028, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/6913 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das sind die Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke. Enthaltungen? - Das ist die Fraktion der Sozialdemokraten. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich unterbreche nun die Sitzung für Fraktionssitzungen bis voraussichtlich 17 Uhr. Der Wiederbeginn wird rechtzeitig durch das berühmte Klingelsignal bekannt gegeben.
Die Sitzung ist unterbrochen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Es gibt noch einige freie Plätze.
Bevor ich den vereinbarten Zusatzpunkt 10 sowie die Tagesordnungspunkte 50 a bis 50 g aufrufe, hat die Kollegin Dr. Enkelmann das Wort für einen Geschäftsordnungsantrag. Bitte schön.
Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Fraktion Die Linke beantragt die Absetzung des Tagesordnungspunktes 50 von der heutigen Tagesordnung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich werbe um Ihre Zustimmung. Wir entscheiden heute über nicht weniger und nicht mehr als über die Zukunft Europas.
Hier sollen heute dauerhafte Eingriffe in die demokratische Haushaltshoheit der Länder beschlossen werden. Dauerhaft soll die Kompetenz von Parlamenten und Regierung beschnitten werden. Diese Eingriffe bedeuten massive Kürzungen im Sozialbereich, Kürzungen bei Renten, Löhnen, Sozialleistungen. Die Staaten werden künftig immer weniger Einfluss auf die Ausgestaltung des Sozialstaates haben. Das ist für die Linke nicht zu akzeptieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem heutigen Verfahren werden die parlamentarischen Rechte mit Füßen getreten. Was ist in der letzten Nacht in Brüssel passiert? Die Kanzlerin hat einer Gipfelerklärung zugestimmt. Diese Gipfelerklärung kündigt an: Der hier noch nicht einmal beschlossene Vertrag wird gravierend geändert. Dabei soll unter anderem die Öffnung für eine Bankenunion erfolgen und damit eine direkte Finanzierung der Banken ermöglicht werden. Das ist Arroganz der Macht. Ich kann es nicht anders nennen.
Ich wiederhole für Sie alle: Das Parlament hat diesem Vertrag in diesem Moment noch nicht zugestimmt; wir haben ihn noch nicht beschlossen. Wir wissen bereits jetzt - wir alle haben diese Gipfelerklärung in der Hand -: Dieser Vertrag wird bald Makulatur sein.
Noch einmal: Es geht um die Zukunft Europas. Wir alle wollen in diesem Parlament verantwortungsbewusst entscheiden.
So, wie es jetzt hier vorgesehen ist, so, wie diese Entscheidung jetzt hier durchgezockt werden soll, ist es nicht hinnehmbar. So ist eine verantwortungsbewusste Entscheidung nicht möglich. Das ist eine Verarschung - Entschuldigung, Herr Präsident! - des Parlaments.
Das ist mit der Linken nicht zu machen.
Wir stellen deswegen den Antrag auf Absetzung des Tagesordnungspunktes von der Tagesordnung.
Danke.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Frau Kollegin, ich nehme Ihre Entschuldigung zu Protokoll. - Ich erteile zur Erwiderung dem Kollegen Michael Grosse-Brömer das Wort.
Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Europa wartet auf ein Zeichen aus Deutschland, und es wäre ein falsches Signal, wenn Europa es heute nicht bekäme.
Ich darf das dankenswerterweise auch für die anderen Fraktionen sagen. Denn Ihre Begründung gibt gar nicht Anlass, mehr als einmal darauf zu antworten.
Im Prinzip war Ihre Rede nichts anderes als ein vorgezogener Wortbeitrag für die Debatte.
Ich habe nicht einen Grund gehört, warum denn eine Verschiebung notwendig sein soll.
Ich kann Ihnen auch erzählen, warum Sie da keine Argumente haben. Es haben zahlreiche Verhandlungen stattgefunden, noch heute eine Sondersitzung des Haushaltsausschusses. Bei den Verhandlungen, an denen ich teilgenommen habe, hat sich die Linke nie zu Wort gemeldet.
An mangelnder Information kann es im Prinzip auch nicht liegen, weil Sie jedenfalls in der Lage sind, sehr frühzeitig festzustellen, dass Sie gegen all das sowieso klagen wollen. Infolgedessen müssen Sie ausreichend informiert sein.
Es besteht kein Grund, diese Debatte, dieses wichtige Zeichen aus Berlin in Richtung Europa, zu verschieben.
Deswegen bitte ich darum, diesen Antrag abzulehnen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich lasse über den Antrag der Fraktion Die Linke auf Absetzung dieses Tagesordnungspunktes abstimmen. Wer dem Antrag zustimmen möchte, bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Antrag abgelehnt.
Ich rufe nun Zusatzpunkt 10 sowie Tagesordnungspunkt 50 auf:
ZP 10 Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin
zur Schaffung einer Stabilitätsunion
50. a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. März 2012 über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion
- Drucksache 17/9046 -
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. März 2012 über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion
- Drucksache 17/9667 -
Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)
- Drucksachen 17/10125, 17/10171 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Carsten Schneider (Erfurt)
Otto Fricke
Dr. Gesine Lötzsch
Priska Hinz (Herborn) Verabschiedung
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Alexander Ulrich, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Ratifizierung des Fiskalvertrags ablehnen - Ursachenorientierte Politik zur Krisenbewältigung einleiten
- Drucksachen 17/9147, 17/10125, 17/10171 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Carsten Schneider (Erfurt)
Otto Fricke
Dr. Gesine Lötzsch
Priska Hinz (Herborn) Beschlussfassung
c) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. Februar 2012 zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus
- Drucksache 17/9045 -
Verabschiedung
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. Februar 2012 zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus
- Drucksachen 17/9370, 17/9670 -
Beschlussfassung
- Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur finanziellen Beteiligung am Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM-Finanzierungsgesetz - ESMFinG)
- Drucksache 17/9048 -
Verabschiedung
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur finanziellen Beteiligung am Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM-Finanzierungsgesetz - ESMFinG)
- Drucksachen 17/9371, 17/9670 -
Beschlussfassung
- Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesschuldenwesengesetzes
- Drucksache 17/9049 -
Verabschiedung
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesschuldenwesengesetzes
- Drucksachen 17/9372, 17/9671 -
Beschlussfassung
Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)
- Drucksachen 17/10126, 17/10172 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Carsten Schneider (Erfurt)
Otto Fricke
Dr. Gesine Lötzsch
Priska Hinz (Herborn)
Beschlussfassung
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Europäischen Stabilitätsmechanismus ablehnen, europäisches Investitionsprogramm auflegen
- Drucksachen 17/9146, 17/10126, 17/10172 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Carsten Schneider (Erfurt)
Otto Fricke
Dr. Gesine Lötzsch
Priska Hinz (Herborn) Beschlussfassung
e) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Beschluss des Europäischen Rates vom 25. März 2011 zur Änderung des Artikels 136 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist
- Drucksache 17/9047 -
Verabschiedung
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Beschluss des Europäischen Rates vom 25. März 2011 zur Änderung des Artikels 136 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist
- Drucksachen 17/9373, 17/9670 -
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union (21. Ausschuss)
- Drucksache 17/10159 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Bettina Kudla
Michael Roth (Heringen)
Joachim Spatz
Dr. Diether Dehm
Manuel Sarrazin
Beschlussfassung
f) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union (21. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Diether Dehm, Andrej Hunko, Thomas Nord, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Grundlegende Reformen der EU-Verträge umsetzen - Änderung von Artikel 136 des Vertrags zur Arbeitsweise der Europäischen Union verhindern
- Drucksachen 17/9148, 17/10159 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Bettina Kudla
Michael Roth (Heringen)
Joachim Spatz
Dr. Diether Dehm
Manuel Sarrazin Beschlussfassung
g) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Zimmermann, Jutta Krellmann, Alexander Ulrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Soziale Errungenschaften in der Europäischen Union verteidigen und ausbauen
- Drucksachen 17/9410, 17/9791 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Josip Juratovic Beschlussfassung
Wir werden später, nach der Aussprache, über vier Gesetzentwürfe der Fraktionen der CDU/CSU und FDP namentlich abstimmen: erstens über den Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion, zweitens über den Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus, drittens über den Entwurf eines Gesetzes zur finanziellen Beteiligung am Europäischen Stabilitätsmechanismus, viertens über den Entwurf eines Gesetzes zu dem Beschluss des Europäischen Rates zur Änderung des Artikels 136 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union. Dazu liegen mehrere Änderungs- und Entschließungsanträge vor, über die wir teilweise namentlich abstimmen werden.
Die Debatte, die wir im Anschluss an die Regierungserklärung führen werden, findet vor einer gespannten deutschen, aber auch europäischen Öffentlichkeit statt. Deswegen will ich, auch um Missverständnisse zu vermeiden, darauf aufmerksam machen: Wir werden nach der Regierungserklärung natürlich auch über das debattieren, was gestern und heute in Brüssel stattgefunden hat. Aber nichts von dem, was da gestern besprochen wurde, steht hier heute zur Entscheidung an. Entschieden wird heute über die gerade von mir vorgetragenen Gesetzentwürfe.
Dazu gibt es unterschiedliche Auffassungen im Hause, was völlig normal und in Ordnung ist.
Ich will deswegen ausdrücklich darauf hinweisen: Es hat in den vergangenen Wochen intensive, teilweise leidenschaftliche Auseinandersetzungen gegeben, in den Ausschüssen, in den Fraktionen. Alle diejenigen, die sich an dieser Debatte beteiligt haben, haben, zu welchem Schluss sie auch immer gekommen sein mögen, meinen vollen Respekt. Ich wünsche mir sehr, dass er in dieser Debatte auch zum Ausdruck kommt.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zweieinhalb Stunden vorgesehen. Darf ich dazu Ihr Einvernehmen feststellen? - Das ist der Fall.
Dann hat nun das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel.
Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute liegt dem Deutschen Bundestag und dem Bundesrat ein Gesetzespaket zur Schaffung einer Stabilitätsunion in Europa zur Abstimmung vor. Zu ihm gehören der Fiskalvertrag, der dauerhafte Krisenbewältigungsmechanismus ESM sowie, wie schon genannt, mehrere Begleitgesetze. Die Verabschiedung dieses umfangreichen Gesetzespaketes wäre noch vor wenigen Monaten undenkbar gewesen. Doch so undenkbar es war, so notwendig ist es gleichzeitig; denn wenn die europäische Staatsschuldenkrise eines gezeigt hat, dann, dass die unverantwortliche Haushaltspolitik eines Euro-Staats die Finanzstabilität der gesamten Euro-Zone als Ganzes gefährden kann. Dem muss Einhalt geboten werden.
Dazu macht der Fiskalvertrag den im letzten Jahr mit der Stärkung des Stabilitäts- und Wachstumspakts eingeschlagenen Weg unumkehrbar. Mit ihm verabschieden wir heute einen völkerrechtlich verbindlichen Vertrag. Er macht klare und ehrgeizige Vorgaben für nationale Schuldenregelungen, wie sie Deutschland bereits seit 2009 hat. Dass es ein völkerrechtlicher Vertrag ist und kein Vertrag im Rahmen der EU-Verträge, liegt nicht an diesem Parlament und nicht an der deutschen Bundesregierung, sondern das liegt daran, dass im Wesentlichen ein Land in der Europäischen Union nicht bereit war, einer Vertragsänderung zuzustimmen.
Wir hätten gerne die Möglichkeit eines Protokolls für die Euro-Staaten genutzt. Deshalb sagen wir auch, dass dieser Fiskalvertrag so schnell wie möglich in EU-Recht überführt werden soll, wann immer sich die Möglichkeit dafür ergibt.
Was passiert mit dem Fiskalvertrag? Mit dem Fiskalvertrag binden sich nationale Regierungen und nationale Parlamente in bislang noch nicht dagewesener Weise, die Wirtschafts- und Währungsunion zu einer Stabilitätsunion zu formen. Warum machen wir das? Wir machen das aus der Erkenntnis, dass wir durch eine gemeinsame Währung oder gemeinsam mit denen, die eines Tages dieser Währung angehören wollen, verpflichtet sind, nicht nur in der gemeinsamen Währung zu zahlen, sondern auch in bestimmten Politikbereichen uns aufeinander verlassen zu können. Das ist das Wesen dieses Fiskalvertrages.
Die neuen europäischen Regeln sind wie die Schuldenbremse im Grundgesetz sehr intelligent ausgestaltet und eben gerade nicht blind für wirtschaftliche Entwicklungen. Der Fiskalvertrag - man kann das so sagen - bedeutet einen wegweisenden Integrationsschritt innerhalb der Wirtschafts- und Währungsunion.
Zusammen mit dem Fiskalvertrag liegt heute dem Bundestag und dem Bundesrat auch der Vertrag zur Einrichtung des dauerhaften Krisenbewältigungsmechanismus ESM zur Abstimmung vor. Er dient dazu, zukünftige Gefahren für die Stabilität der Euro-Zone wirksam abzuwehren. Nach dem Inkrafttreten beider werden Hilfen aus dem Europäischen Stabilitätsmechanismus nur gewährt werden, wenn die Ratifikation erfolgt und später dann auch die Umsetzung des Fiskalvertrages durch das jeweilige Land erfüllt ist. Es gibt hier also eine rechtliche Verknüpfung zwischen Solidität und Solidarität. Auch das halte ich für ganz wichtig.
Deshalb bilden auch für die Bundesregierung und die sie tragenden Parlamentsfraktionen diese beiden Verträge eine inhaltliche Einheit. Sie gehören zusammen.
Wir haben über die Verträge und alle Begleitgesetze intensive fraktionsübergreifende Gespräche in den letzten Wochen geführt. Am letzten Wochenende haben wir darüber hinaus in Gesprächen zwischen Bund und Ländern eine Einigung über Eckpunkte zur innerstaatlichen Umsetzung des Fiskalvertrags erzielt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Ihnen allen, den Kolleginnen und Kollegen im Bundestag, aber auch auf der Bundesratsbank, danken für das konstruktive, nicht immer ganz einfache - aber das gehört dazu -, aber zum Schluss erfolgsorientierte und ergebnisorientierte Miteinander in diesen Beratungen.
Heute sendet Deutschland mit der Verabschiedung von Fiskal- und ESM-Vertrag in Bundestag und Bundesrat parteiübergreifend ein wichtiges Signal aus.
Es ist ein Signal der Geschlossenheit und der Entschlossenheit, nach innen wie nach außen, ein Signal, die europäische Staatsschuldenkrise zu überwinden, und zwar nachhaltig, und ein Signal, dass für uns Europa unsere Zukunft bedeutet.
Meine Damen und Herren, mit diesen Verträgen machen wir unumkehrbare Schritte hin zu einer nachhaltigen Stabilitätsunion.
Wir haben gleichzeitig gesagt: Solide Finanzen, das ist eine Seite der Medaille. Aber es gehört noch etwas dazu. Wenn wir unseren Wohlstand erhalten wollen, brauchen wir mehr als nur solide Finanzen. Es hat sich gezeigt, dass die Krise nur dann zu überwinden ist, wenn wir nicht nur gemeinsame Haushaltspolitiken haben, sondern wenn wir gleichermaßen daran arbeiten, in unserer Wettbewerbsfähigkeit vergleichbare Ergebnisse zu erzielen.
- Schauen Sie - wenn ich das einfach noch einmal sagen darf -: Die Welt hat 7 Milliarden Einwohner. Alle möchten in Wohlstand leben. Als Konrad Adenauer im Deutschen Bundestag gesprochen hat, gab es auf der Welt 2,5 Milliarden Einwohner. Wir Europäer waren 500 Millionen. Wir Europäer sind heute noch 500 Millionen. Wir stellen inzwischen noch 8 bis 9 Prozent - genau: 8,7 Prozent - der Welteinwohnerschaft. Wir erarbeiten 25 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Welt. Wir haben ungefähr 50 Prozent der Sozialleistungen auf der Welt. Wenn wir für dieses Sozialmodell, für das wir alle bzw. mehr oder weniger alle in verschiedenen Variationen einstehen, wenn wir für die soziale Marktwirtschaft der Zukunft kämpfen wollen, dann müssen wir sehen: Wir werden ohne Wettbewerbsfähigkeit den Wohlstand unseres Landes und Europas nicht erreichen.
Wettbewerbsfähigkeit ist kein Selbstzweck. Wettbewerbsfähigkeit sagt doch nicht anderes aus, als dass unsere Unternehmen in der Lage sind, auch außerhalb Deutschlands ihre Waren zu verkaufen: Autos von VW und anderen Automobilunternehmen, chemische Produkte und vieles andere mehr. Das bedeutet Wettbewerbsfähigkeit. Es ist uns sehr wichtig, aus Wettbewerbsfähigkeit Wachstum zu machen und aus Wachstum Beschäftigung für die Menschen in unserem Land. Deshalb ist es richtig, dass wir einen Pakt für Wachstum und Beschäftigung geschmiedet haben.
Ein solcher Pakt für Wachstum und Beschäftigung ist gestern bzw. heute vom Europäischen Rat verabschiedet worden, nicht nur in den klassischen Schlussfolgerungen, sondern als Entscheidung, um unsere Bestimmtheit deutlich zu machen, die darin genannten Ziele auch wirklich umzusetzen.
Meine Damen und Herren, wir werden hierfür in etwa 1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Europäischen Union in die Hand nehmen, nämlich 120 Milliarden Euro: durch eine verbesserte Anwendung von Strukturfondsmitteln in Höhe von 55 Milliarden Euro, durch Investitionen in Höhe von 60 Milliarden Euro, die wir durch eine Aufstockung des Kapitals der Europäischen Investitionsbank erreichen, und durch eine Pilotphase und später erweiterte Anwendung von sogenannten Projektanleihen. Das kann man sich vorstellen wie Public Private Partnerships.
Was wollen wir? Wir wollen mehr Arbeitsplätze schaffen.
- Gut, dass wir uns um die Arbeitsplätze kümmern, meine Damen und Herren!
Also, wir wollen mehr Arbeitsplätze schaffen. Wir haben hier in ganz besonderer Weise auch die jungen Menschen im Fokus. Es ist nicht gelungen, das Ziel, das wir unter den Fraktionen gern gehabt hätten, nämlich, innerhalb von vier Monaten muss jeder Jugendliche ein Angebot bekommen, in Europa zu verabschieden. Aber innerhalb von mehreren Monaten muss ein solches Angebot wirklich erfolgen. Die Kommission wird dies immer wieder bei den einzelnen Ländern einklagen, im Übrigen auch bei der Umsetzung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes in den länderspezifischen Empfehlungen, die ab nun jedes Jahr verkündet werden.
Wir haben uns dann geeinigt, dass wir parteiübergreifend für die Erhebung einer Finanztransaktionsteuer eintreten. Der Bundesfinanzminister hat alles ausgelotet.
- Ich war schon mit dem Finanzminister Steinbrück gemeinsam auf G-20-Treffen, bei denen wir uns für die Finanztransaktionsteuer eingesetzt haben.
Ihm ist es nicht gelungen, die Welt zu überzeugen. Mir auch nicht. Daraus können Sie jetzt Ihre Schlüsse ziehen. Wir haben immerhin neun Länder - der Bundesfinanzminister hat das geschafft - innerhalb der Europäischen Union davon überzeugt. Wir konnten gestern festhalten, dass im Rahmen der verstärkten Zusammenarbeit der Gesetzgebungsprozess bis zum Ende des Jahres abgeschlossen sein soll.
Angesichts dessen, was wir bei den Schwierigkeiten der Banken beobachten und bei den vielen Menschen, die keine Arbeit haben, sehen, ist es wichtig, dass wir auch deutlich machen: Der Finanzsektor, der eine wesentliche Ursache unserer heutigen Situation ist, muss einen Beitrag zur Ãœberwindung dieser Krise leisten.
Dieses ist das Paket, über das wir heute befinden, über das viele Wochen diskutiert und beraten wurde. Nun hat gestern und heute ein Europäischer Rat stattgefunden, und zwar in einer bestimmten Situation, in der auf der einen Seite das Wachstumspaket verabschiedet wurde, wir uns aber auf der anderen Seite mit der aktuellen Situation im Euro-Raum beschäftigt haben. Hier haben wir die Situation, dass es einige Länder gibt, in denen die Zinssätze sehr hoch sind.
Hohe Zinssätze sind nicht nur bei Staatsanleihen, das heißt für die Staaten ein Problem, sondern hohe Zinssätze erschweren auch die Refinanzierung der jeweiligen Unternehmen, kleinerer und mittlerer Unternehmen, in dem Land.
Deshalb war es wichtig, dass wir überlegt haben, in welcher Weise wir darauf reagieren können.
Meine Damen und Herren, deshalb haben wir für Spanien mit Blick auf die aktuelle Rekapitalisierung der Banken eine Entscheidung getroffen, und zwar folgende: Spanien stellt einen spezifischen Antrag bei der EFSF für die Rekapitalisierung seiner Banken. Dazu wird ein Memorandum of Understanding ausgehandelt, die Konditionalität sozusagen. Wenn der EFSM in Kraft ist, dann wird dieser Antrag von der EFSF in den ESM überführt. Weil der ESM normalerweise den Preferred Creditor Status hat, also eine höhere Bewertung sozusagen, haben wir ausgemacht, dass die Bewertung der EFSF nicht verändert wird und so in den ESM überführt wird. Aber die Bewertung im ESM als solche, so wie wir ihn heute verabschieden, bleibt unbeschadet davon weiter die des Preferred Creditor Status.
Meine Damen und Herren, wir haben etwas Zweites gemacht. Hierzu will ich etwas sagen, weil die Kommunikation sehr uneinheitlich war, was zu sehr vielen Missverständnissen geführt hat. Wir haben darüber gesprochen, wie wir Mitgliedstaaten der Euro-Zone helfen können, wenn die Finanzstabilität durch die sehr hohen Zinssätze in ihrem Land gefährdet sein könnte, aber - glücklicherweise, sage ich - nicht eine Situation da ist, in der das Land vollständig vom Markt genommen werden muss.
Dafür haben wir uns bereits in vergangenen Beschlussfassungen ein Instrumentarium erarbeitet. Es gibt Vorsorgeprogramme. Es gibt die Rekapitalisierung von Banken, wie sie jetzt von Spanien beantragt wird. Es gibt Interventionen auf den Sekundärmärkten. Es gibt Interventionen im Primärmarkt. All diese Instrumente sind immer mit einer Konditionalität verbunden. Das ist deutlich zu unterschieden von Vollprogrammen.
Jetzt haben wir gestern über die Konditionalität im Zusammenhang mit Interventionen im Primär- oder Sekundärmarkt gesprochen. Da muss natürlich wieder ein Memorandum of Understanding ausgehandelt werden. Wir haben gesagt: Angesichts der Tatsache, dass wir seit diesem Jahr im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes durch die Kommission für jedes Land Länderempfehlungen haben und den Ländern gesagt wird - im Übrigen auch Deutschland -, was sie zu tun haben, um ihre wirtschaftliche Entwicklung voranzubringen, sollen diese Länderempfehlungen die Grundlage für das Memorandum of Understanding sein - ich empfehle, einmal zu lesen, was zum Beispiel in den Länderempfehlungen für Spanien und Italien steht; das sind harte Auflagen - und mit einem Zeitplan versehen werden. Dann wird natürlich, wie bei jedem Memorandum of Understanding, die Erfüllung dieser Auflagen überwacht.
Damit auch da kein Zweifel erzeugt wird - das ist ja durch die Kommunikation heute leider geschehen -, haben wir in den Ratsschlussfolgerungen heute noch einmal ganz deutlich gemacht: Jede Anwendung der EFSF und des ESM erfolgt entsprechend der Guidelines, der Richtlinien, die wir im Zusammenhang mit der EFSF - und in Zukunft dann auch mit dem ESM - verabschiedet haben. Ich weiß noch, dass viel Wert darauf gelegt wurde, dass diese Richtlinien vorliegen, weil in ihnen sehr detailliert geregelt wird, wer sich um welche Frage im Zusammenhang mit der Erfüllung eines Memorandum of Understanding kümmert. Ich glaube, das ist ein guter Beschluss, ein vernünftiger Beschluss.
Dann haben wir etwas Weiteres gemacht - das habe ich in einer meiner beiden letzten Regierungserklärungen, vielleicht auch in beiden, gesagt -: eine unabhängige Bankenaufsicht. Angesichts der Bankenkrise in Spanien haben wir nämlich erkannt, dass durch die EBA, die für die ganze Europäische Union 2009 entwickelte neue Bankenaufsicht, nicht alle Probleme gelöst sind. Deshalb haben wir gesagt: Im Euro-Raum brauchen wir eine solche unabhängige Bankenaufsicht. Art. 127 des EU-Vertrags sieht ja nun vor, dass die Kommission einen Vorschlag machen und die EZB mit bestimmten Aufgaben betrauen kann. In 17 Ländern gibt es den Euro, in 15 davon erfolgt die Überwachung durch die jeweilige Notenbank. Insofern ist es in sich schlüssig, dass die Europäische Zentralbank auch Überwachungsfunktionen übernehmen kann. Ich kann das auch sehr gut begründen, weil die Europäische Zentralbank als die Bank, die den Banken überall Geld und Liquidität zur Verfügung stellt, natürlich ein immanentes Interesse daran hat, dass diese Banken in Ordnung sind, weil ansonsten die Europäische Zentralbank selber in Probleme geriete.
Diese Euro-weite Bankenaufsicht soll durch einen Vorschlag der Kommission, durch einstimmige Beschlussfassung im Rat und natürlich anschließende Umsetzung in den nationalen Staaten mit Parlamentsbeschlüssen geschaffen werden. Das passiert nicht in einem Tag und auch nicht in zwei Wochen, sondern das ist ein längerer Prozess. Ein Vorschlag dazu soll bis Ende des Jahres vorliegen.
Wenn diese Aufsicht geschaffen ist, dann haben wir eine europäische Institution im Euro-Raum, die in der Lage ist, Kontrolle auszuüben, und gleichzeitig auch befugt sein muss, Auflagen zu erteilen.
Damit ändern sich die Voraussetzungen für die Frage: Wie können wir mit Banken im Euro-Raum umgehen?
Deshalb wird in dem Beschluss dargelegt, dass in Zukunft - das geht, wie gesagt, in mehreren Monaten oder vielleicht in einem Jahr - erkundet werden soll, ob auch eine direkte Kapitalisierung von Banken aus dem ESM nach Ausarbeitung eines Memorandum of Understanding durch die Europäische Zentralbank und nach Antrag des entsprechenden Landes erfolgen kann.
Jetzt gibt es eine breite Diskussion: Will man das, oder will man das nicht? Unsere schwedischen Kollegen zum Beispiel sagen: Wenn es um Restrukturierung von Banken geht, dann kann es für einen Staat sehr sinnvoll sein, selbst auch eine direkte Kapitalisierung zu machen. Wir haben davon Abstand genommen, weil wir bis jetzt keine europäische Kontrollbehörde hatten. Wenn wir aber einmal eine europäische Kontrollbehörde haben, stellt sich diese Frage anderweitig.
Dies sind die Beschlüsse, die wir für die Maßnahmen in kurzer bzw. mittlerer Frist gefasst haben. Die betreffen in keiner Weise die heute zu bestätigende Beschlussfassung.
Jeder der Schritte, die zusätzlich entwickelt werden müssen, bedarf einer erneuten Befassung des Deutschen Bundestages und ist völlig getrennt davon zu verstehen.
Ich glaube, dass wir damit unser Instrumentarium erweitert haben.
Als Letztes haben wir den Bericht der vier Präsidenten diskutiert, auf den ich schon am Mittwoch eingegangen bin. Wir haben erwartungsgemäß darüber eine lebhafte Diskussion mit sehr unterschiedlichen Positionen geführt, die ich heute nicht wiederholen will. Wir haben eine Arbeitsmethode verabredet - so wie ich Ihnen das versprochen habe -, nämlich die Einbeziehung der Mitgliedstaaten und keine weitere Arbeit auf der Ebene der Präsidenten allein. Wir haben schließlich einen Zeitplan vereinbart: einen Bericht im Oktober und einen weiteren Bericht im Dezember. Diese Gruppe ist notwendig, weil mit der Verabschiedung eines Fiskalvertrages und auch des Europäischen Stabilitätsmechanismus allein die Wirtschafts- und Währungsunion noch nicht vollendet ist. Das sind wichtige Schritte, aber es müssen noch mehr folgen.
Wie die aussehen kann, wie Kontrolle und Haftung immer wieder in Balance gebracht werden können, das muss weiterhin diskutiert werden.
In diesem Sinne sage ich: Was wir heute beschließen, ist ein wichtiger Schritt, um der Welt deutlich zu machen: Wir stehen zum Euro. Wir wollen ihn als unsere stabile Währung. Wir glauben, dass wir mit ihm besser wirtschaften können, besser in Wohlstand leben können. Deshalb werbe ich um Ihrer aller Zustimmung.
Herzlichen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Sigmar Gabriel für die SPD-Fraktion.
Sigmar Gabriel (SPD):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin! Damit es gleich am Anfang klar ist: Wir finden die Wachstumsbeschlüsse des EU-Gipfels richtig. Wir freuen uns darüber, dass neben Wachstumsprogrammen endlich die Finanztransaktionsteuer auf den Weg gebracht worden ist.
Wir erinnern uns, wie die Verhandlungen gestartet sind: Nichts von dem, was wir jetzt erreicht haben - Wachstumsinitiativen und die Besteuerung der Finanzmärkte -, wäre ohne den Druck von SPD und Bündnis 90/Die Grünen möglich gewesen.
Wir erinnern uns noch, wie das losging: ausschließlich ein Fiskalpakt und der Zwang zum Sparen, keine Initiativen für Wachstum und schon gar nicht die dringend notwendige Beteiligung der Finanzmärkte an der Beseitigung des Desasters, das sie selber herbeigeführt haben.
Um auch das Thema Euro-Bonds gleich am Anfang zu klären. Frau Bundeskanzlerin, Ihr Kollege Schäuble hat recht, wenn er auf die Frage nach der Einführung von Euro-Bonds in dieser Woche im Spiegel antwortet, dass dazu erst eine echte Fiskalunion geschaffen werden und es einen europäischen Finanzminister geben müsse. Auch dem stimmen wir ausdrücklich zu.
Allerdings, Frau Bundeskanzlerin, gibt es zwischen der Aussage des Kollegen Schäuble und den von Ihnen gestellten Bedingungen an Euro-Bonds eine - sagen wir mal - leichte Differenz. Herr Schäuble hält es laut Spiegel-Interview für möglich, das innerhalb der kommenden fünf Jahre zu schaffen. Sie dagegen sollen gesagt haben, Euro-Bonds gebe es nicht, solange Sie am Leben sind. Ich hoffe doch, dass Ihnen Herr Schäuble ebenso wie wir ein viel längeres Leben wünscht als nur noch fünf Jahre.
Mein Vorschlag ist: Lassen wir einmal diese Scheindebatten über Euro-Bonds; denn in Wahrheit haben wir sie ja bereits.
- Bei der FDP ist es immer so: Sie hören nicht bis zum Ende zu. - Mehr als 1 Billion Euro hat die Europäische Zentralbank parallel zu allen Rettungsschirmen still und heimlich an direkter und indirekter Staatsfinanzierung geleistet. Wer haftet dafür? Natürlich alle, auch wir hier in Deutschland mit fast 400 Milliarden Euro. Das war und ist von Ihnen auch so gewollt, Frau Bundeskanzlerin. Es gibt sie also längst, die vergemeinschafteten Schulden, nur heimlich, Merkel-Bonds sozusagen, und das, obwohl Sie, Frau Merkel, sich Gott sei Dank bester Gesundheit erfreuen.
Schlimm ist allerdings, dass das alles, anders als bei den Euro-Bonds, die sich Herr Schäuble vorstellt, ganz ohne Auflagen passiert. Deutschland haftet für diese vergemeinschafteten Schulden mit fast 400 Milliarden Euro, ohne dass wir irgendeine Kontrolle darüber hätten, was die Länder, die davon profitieren, damit anfangen.
Deshalb ist auch ein weiterer Beschluss des Europäischen Rates von gestern zumindest ein Fortschritt: Sie lassen für Staaten der Euro-Zone eine Senkung des Zinsdrucks über die europäischen Rettungsschirme für die Fälle zu, in denen die betreffenden Staaten die europäischen Auflagen für ihre wirtschaftliche Entwicklung und Finanzlage einhalten, es also keinen Anlass für überhöhte Zinsforderungen an den Kapitalmärkten gibt. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, haben Sie eben mit etwas komplizierteren Worten genau diesen Tatbestand zu erklären versucht.
Das ist mehr als SPD und Grüne in den Verhandlungen mit der Bundesregierung Ihnen gegenüber durchsetzen konnten. Es ist gut, Frau Bundeskanzlerin, dass Sie trotzdem diesem Kompromiss beim Europäischen Rat zugestimmt haben. Das bremst den Druck auf die Ausgabe weiterer „Merkel-Bonds“ durch die EZB und lindert den Zinsdruck auf die Euro-Staaten. Wir jedenfalls werfen Ihnen das nicht vor; ganz im Gegenteil: Wir finden es richtig, dass Sie sich an der Stelle bewegt haben.
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, seit Ihrem, wie ich finde, erfolgreichen Einsatz im französischen Präsidentschaftswahlkampf, seit dem Amtsantritt des neuen sozialistischen Präsidenten Frankreichs, François Hollande, hören wir von Ihnen, dass Schuldenabbau und Wachstum zusammengehören. Bravo! Das sehen wir auch so.
Allerdings frage ich Sie: Warum, Frau Bundeskanzlerin, haben Sie eigentlich fast drei Jahre lang nicht eine einzige Wachstumsinitiative auf den Weg gebracht?
Können Sie uns verraten, Frau Bundeskanzlerin, warum Sie in den letzten Jahren Ihrer Kanzlerschaft
- warten Sie einmal ab -, auf den 24 Gipfeln alles Mögliche beschlossen haben, nur eines nicht, nämlich Wachstumsinitiativen für die europäischen Volkswirtschaften? Haben Sie dafür eigentlich irgendeine Erklärung?
Es kann nicht sein, dass wir für die Frage der Verschuldung harte Regeln haben und uns im Bereich der Wirtschafts-, Steuer- und Sozialpolitik mit unverbindlichen Gesprächsrunden und so schillernden Begriffen wie „offene Koordinierung“ begnügen müssen.
Frau Bundeskanzlerin, Ihr Fraktionsvorsitzender - er sitzt hier vor uns - fasste Ihre Politik in der EU in der Vergangenheit mit der ihm eigenen vornehmen Zurückhaltung in dem Satz zusammen: „In Europa wird jetzt deutsch gesprochen“. Das ist wohl seine Freundlichkeit gegenüber den Nachbarn. Schauen wir uns einmal an, was das Ergebnis Ihres bisherigen Deutschunterrichts in Europa ist:
Das wirtschaftliche Wachstum ist in den letzten drei Jahren in Europa dramatisch eingebrochen.
Die Schulden, die Sie angeblich senken wollten, sind in den letzten drei Jahren in Europa um 1 100 Milliarden Euro gestiegen.
Und die Jugendarbeitslosigkeit ist in den letzten drei Jahren in Europa so stark angestiegen, dass davon jetzt fast ein Viertel aller Jugendlichen betroffen ist. In manchen Ländern ist die Hälfte aller jungen Menschen arbeitslos.
Das ist das Ergebnis, wenn man im Sinne von Herrn Kauder deutsch spricht.
Europa ist dabei, eine verlorene Generation zu produzieren. Das ist die gleiche Generation, die Europa weiterbauen soll. Das ist die vielleicht schlimmste Bilanz all dessen, was Sie in den letzten zwei bis drei Jahren angerichtet haben.
Frau Bundeskanzlerin, die Krise hat sich also in Europa in den letzten drei Jahren unter Ihrer Führung massiv vergrößert, und jetzt erreicht sie auch Deutschland. So mussten Ford in Köln oder Johnson Controls in Hannover Kurzarbeit anmelden, weil die Aufträge aus Europa wegbrechen. Wissen Sie, Frau Bundeskanzlerin, es ist wirklich Ihr gutes Recht, sich von Gipfel zu Gipfel als Krisenmanagerin zu inszenieren,
aber tun Sie uns einen Gefallen: Übernehmen Sie dann auch die Verantwortung für diese verheerende Bilanz Ihres Krisenmanagements in Europa.
Das wäre ja nicht schlimm, wenn das nur unsere Auffassung wäre.
Ich lese Ihnen einmal etwas vor. Sogar die konservative Welt schreibt Ihnen ins Stammbuch - ich zitiere -:
... so fördern Merkel und die Fiskalradikalen ein Ende des Wachstums, indem sie auf ihrem Spardiktat bestehen ...
Die Financial Times - auch nicht gerade ein Organ der Sozialdemokratie - konstatiert Folgendes.
- Doch. Mensch, da muss mir etwas entgangen sein.
- Ja, es ist doch klar, dass Sie es nicht ertragen können, dass Ihre Haus- und Hofjournalisten das schreiben, was ich jetzt zitiere:
Zwei Jahre lang wurde in Merkel-Europa jede neue Marktpanik damit zu beantworten versucht, dass es noch einen Pakt gegen Staatsschulden gab, noch ein hektisches Austeritätspaket ...
Das Ergebnis war: steigende Arbeitslosigkeit, steigende Staatsverschuldung und kein Weg raus aus der Krise, sondern immer tiefer rein in die Krise. Das ist das Ergebnis, das Sie zu verantworten haben.
Nun, wo das europäische Haus an allen Ecken und Enden brennt, suchen auch Sie nach Wachstumsinitiativen. Ich bin froh darüber, dass Sie das tun. Ich hoffe nur, dass die Wachstumsinitiativen nicht zu spät kommen. Wir werden sehen, ob wir damit ausreichend Erfolg haben. Denn es hat viel zu lange gedauert, und das lag an Ihrer Regierung; es war nämlich ganz anders, als Sie hier eben behauptet haben. Sie haben gesagt: Ich war schon einmal für die Finanzmarktbesteuerung, als ich noch mit den Sozialdemokraten in der Großen Koalition war und Peer Steinbrück Finanzminister war. Das stimmt, Frau Bundeskanzlerin.
Dazwischen ist Ihnen aber etwas missglückt: Sie sind in einer Koalition mit der FDP gelandet, und in der Zeit waren Sie dagegen.
Sie selbst, Frau Bundeskanzlerin, erteilten der Forderung der Gewerkschaften nach einer Finanztransaktionsteuer auf dem DGB-Kongress eine kühle Abfuhr. Noch am 15. Mai erklärte Herr Brüderle - ich zitiere -:
Die Finanztransaktionsteuer sei … gescheitert … „Das sollte die SPD nun auch endlich anerkennen.“
Nein, Herr Kollege Brüderle, das haben wir nicht anerkannt, sondern wir haben zusammen mit Gewerkschaften, Grünen und vielen anderen dafür gekämpft, dass sie endlich kommt. Jetzt wird sie kommen. Das ist auch richtig so, meine Damen und Herren.
Sie, Herr Brüderle und andere, wollten aufgeben. Eigentlich wollten Sie gar nicht, dass diese schreiende Ungerechtigkeit ein Ende hat, dass diejenigen, die an dieser dramatischen Finanzkrise mitschuldig sind,
bis heute keinen Cent dazu beitragen müssen, die Krise zu beenden. Damit ist jetzt Schluss. Deswegen ist es gut, dass wir uns durchgesetzt haben.
Frau Bundeskanzlerin, wir wissen jedenfalls auch, warum wir dem Europäischen Stabilitätsmechanismus zustimmen.
Aber wissen Sie das eigentlich auch? Vielleicht sollte ich es anders formulieren: Wissen Sie eigentlich, was Ihre Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und der FDP heute hier abstimmen, durchaus mit uns gemeinsam? Ich lese Ihnen einmal den Änderungsantrag Ihrer Fraktion vor, dem wir jedenfalls zustimmen. Dort steht:
Finanzhilfen zur Rekapitalisierung von Finanzinstituten ... schließen Finanzhilfen an eine Einrichtung zur Stabilisierung des Finanzsektors mit ein, wenn ... keine direkten Bankrisiken übernommen werden und die Rückzahlung durch eine Garantie der Vertragspartei gesichert ist.
In der Begründung von CDU/CSU und FDP zu dieser Ergänzung heißt es: „Eine direkte Gewährung von Finanzhilfen an Finanzinstitute ist ausgeschlossen.“
Das ist eine kluge Ergänzung, weil sie verhindert, dass die Steuerzahler, auch die deutschen, für die Spekulationsrisiken internationaler Banken in Anspruch genommen werden. Deshalb stimmen wir diesem Vorschlag auch zu. Aber Sie, Frau Bundeskanzlerin, haben gestern in Brüssel einer Vereinbarung zugestimmt, die das exakte Gegenteil beinhaltet.
In der Gipfelerklärung heißt es - ich lese Ihnen das einmal vor -:
Sobald ... ein wirksamer einheitlicher Aufsichtsmechanismus für Banken des Euro-Währungsgebiets eingerichtet worden ist,
hätte der ESM ... die Möglichkeiten, Banken direkt zu rekapitalisieren.
Das, Frau Bundeskanzlerin, ist das Gegenteil dessen, was wir gleich beschließen werden.
Nach der heutigen Gesetzeslage, also wenn wir es so beschließen, wie es in dem von Ihnen eingebrachten Änderungsantrag steht, ist ein gemeinsamer Aufsichtsmechanismus der Banken natürlich nicht ausreichend; denn laut der von Ihnen formulierten Gesetzesänderung soll eine Rekapitalisierung von Banken ohne Auflagen nicht möglich sein. Das Gegenteil von dem hat Ihre Bundeskanzlerin in Europa verabredet.
Wenn Sie es trotzdem anders machen, dann müssen Sie damit zurück in den Bundestag. Wir sind gespannt auf das Votum Ihrer eigenen Fraktion dazu,
wenn Sie das machen wollen - entgegen dem, was wir heute hier beschließen.
Statt einer erneuten Übertragung von Haftungsrisiken aus Banken auf die kleinen Leute braucht es eine europaweite Bankenabgabe für Großbanken, damit sie selbst für ihre Risiken haften.
Mindestens müssen die Staaten nationale Einlagensicherungssysteme schaffen, damit wir in Europa ein Verfahren zur geordneten Bankeninsolvenz bekommen.
Und: Wir brauchen ernsthaftere Schritte zur Regulierung der Finanzmärkte als die, zu denen Sie bislang bereit sind, einschließlich der bilanziellen Trennung von Investmentbanking und Geschäftsbanken. Sonst machen deren Akteure munter immer weiter und fordern demokratische Politik jedes Mal erneut schamlos heraus.
Herr Brüderle hat am Mittwoch vor dem Schuldensozialismus in Europa gewarnt.
Lieber Kollege Brüderle, diesen Schuldensozialismus haben die Vorstandsetagen von Banken, Versicherungen und Fondsmanagern in Europa eingeführt. Nicht wenige von denen haben Ihr Parteibuch in der Tasche.
Es waren doch diese Taugenichtse, die bis heute Milliarden damit verdienen, dass sie mit fremder Leute Geld riskante Geschäfte machen, Geschäfte, die wir in Europa endlich verbieten müssen, meine Damen und Herren.
Darum geht es in Zukunft.
Noch etwas, Frau Bundeskanzlerin. Kommen Sie in Zukunft rechtzeitig. Ihre Art, Politik zu machen, hat uns nun mehrfach vor veritable Verfassungsschwierigkeiten gebracht.
Drei Monate haben Sie sich Zeit gelassen, bis Sie das erste Mal mit uns über das geredet haben, was Sie in Brüssel bereits unterschrieben hatten - drei Monate, in denen wir in Ruhe hätten verhandeln können, um am Ende dem Bundestag und dem Bundespräsidenten ausreichend Gelegenheit zur Beratung zu geben und zudem das Bundesverfassungsgericht nicht unter Zeitdruck zu setzen. Es ist Ihrem dilettantischen Regierungshandwerk zu verdanken, dass es schon wieder zu diesem Konflikt der Verfassungsorgane untereinander kommt. Dafür sind Sie persönlich verantwortlich, Frau Bundeskanzlerin.
Ich verstehe, dass in meiner Fraktion einige Kolleginnen und Kollegen sagen, dass sie sich, was immer wir hier verhandelt haben, diese Art des Umgangs mit dem Verfassungsorgan Bundestag nicht länger bieten lassen wollen.
Frau Bundeskanzlerin, steigende Schulden, steigende Arbeitslosigkeit, vor allem unter Jugendlichen, und erste negative Auswirkungen auf die deutsche Volkswirtschaft - das ist die Bilanz Ihrer letzten drei Jahre Europapolitik.
Nun machen Sie den Versuch einer Wende in letzter Minute. Jetzt kommt es zu den Notoperationen mit ESM, Ergänzung des Fiskalpaketes um einen Wachstumspakt und Besteuerung der Finanzmärkte. Freiwillig hätten Sie das nie getan.
Ja, wir stimmen diesen Notoperationen zu. Nicht, weil wir uns darüber freuen, recht behalten zu haben, schon gar nicht, um Ihnen politisch aus der Patsche zu helfen.
Wir stimmen zu, weil wir nicht wollen, dass die Spekulationen an den Finanzmärkten immer mehr europäische Mitgliedstaaten erfassen und am Ende Europa vor dem wirtschaftlichen und sozialen Ruin steht.
Wir stimmen zu, weil wir nicht wollen, dass ohne europäische Solidarität am Ende auch die europäischen Demokratien gefährdet werden.
Wenn ich mir Ihr europapolitisches Verhalten, Frau Bundeskanzlerin, während der letzten Landtagswahlen anschaue, dann sage ich auch: Wir stimmen zu, weil uns Europa wichtiger ist als die parteipolitische Profilierung. Auf diesen Unterschied legen wir Wert, meine Damen und Herren.
Manches, ja vieles hätte früher passieren können, wenn Sie vor den Wahlen nicht Angst gehabt hätten, den Menschen die Wahrheit zu sagen.
Scheitern wir in den kommenden Wochen und Monaten: Die europäische Einigung würde dadurch um Jahrzehnte zurückgeworfen, und eine lange Rezession mit millionenfacher Arbeitslosigkeit wäre sicher unvermeidbar. Noch unsere Enkelkinder würden uns für dieses Versagen verfluchen. Das ist der Grund, warum wir Sozialdemokraten keine Verweigerungs- oder Blockadepolitik betreiben. Wir wollen nicht, dass das verspielt wird, wofür so viele vor uns mit aller Energie gearbeitet, gestritten und manchmal auch gelitten haben. Wir wollen diesen Erfolg bei der Rettung Europas auch dann, wenn er am Ende sogar Ihrer Regierung etwas mehr als der Opposition zugutekommt. Das verstehen wir unter verantwortlichem politischen Handeln.
Frau Bundeskanzlerin, das beginnt übrigens damit, dummen Argumenten offensiv entgegenzutreten, statt sie einfach stehen zu lassen. Das gilt zum Beispiel für das dumme Wort „Transferunion“. Frau Bundeskanzlerin, es ist eben falsch, Deutschland permanent nur als Lastesel der Europäischen Union hinzustellen. Wir sind keine Nettozahler der EU, sondern Nettogewinner. Seit der Währungsunion hat unser Land 575 Milliarden Euro mehr verdient, als wir als öffentliche Finanzmittel bereitgestellt haben. Wir sind Nettogewinner der Europäischen Union. Das muss man laut und deutlich und öffentlich sagen, statt Ressentiments zu schüren, wie das Ihre Mitglieder ständig tun.
Wenn wir jetzt für europäische Rettungsschirme mit bürgen, dann geben wir nur einen Teil dessen zurück, was wir selbst an der europäischen Einigung verdient haben. Wir tun das auch im ureigenen Interesse Deutschlands; denn niemand in Deutschland zahlt nur für andere. Wir zahlen immer auch für uns selbst, wenn wir in Europa investieren.
Meine Damen und Herren, Europa ist an einem Scheideweg. Entweder wir verzichten auf eine gemeinsame Währung in der heutigen Art, damit sich die Schwächeren wenigstens durch Abwertung ihrer Währungen wieder zur Wettbewerbsfähigkeit verhelfen können, oder wir sind bereit, in die Annäherung der Lebensverhältnisse in Europa aktiv zu investieren. Wir sind für den zweiten Weg.
Eine gemeinsame Währung zu erhalten, während sich die wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede immer mehr vergrößern, muss scheitern, Frau Bundeskanzlerin. Die Wahrheit ist: Wir müssen in Europa investieren, auch wenn der Weg lang und teuer wird; denn am Ende ist er kürzer und preiswerter als das Auseinanderfallen Europas. Noch unsere Urenkel würden den politischen und wirtschaftlichen Preis für das Auseinanderfallen Europas bezahlen; denn Europa ist die einzige Chance der Menschen auf unserem Kontinent, sich in Zukunft noch Stimme und Gehör in der Welt zu verschaffen.
Hinsichtlich der Rhetorik sind wir uns einig, Frau Bundeskanzlerin, aber die von Ihnen und auch von Herrn Schäuble geforderte politische Union bleibt inhaltsleer, solange man ihr nicht ein gemeinsames Ziel gibt; und ohne Zustimmung in der Bevölkerung bleibt sie auch, wenn man der politischen Union das Ziel verweigert. Dieses Ziel muss die gemeinsame Interessenvertretung der europäischen Bürgerinnen und Bürger in der Welt sein, dieses Ziel müssen aber auch vergleichbare und angenäherte Lebensbedingungen und eine Eindämmung dieses ungeheuer gefährlichen Finanzkapitalismus auf unserem Kontinent sein.
Für eine echte politische Union brauchen wir neue demokratische Strukturen und auch die Übertragung von nationalen Souveränitätsrechten an die europäische Ebene. Manches davon kann man auch ohne eine Grundgesetzänderung machen, anderes wird Änderungen im Grundgesetz erfordern, für die man sich durchaus auch die Zustimmung unserer Bürger über Volksabstimmungen holen sollte. Am Ende steht sicher auch eine Volksabstimmung über unsere Verfassung.
Kein demokratischer Politiker sollte Angst vor Volksabstimmungen haben.
Ja, natürlich können sie auch einmal Integrationsschritte aufhalten, aber am Ende ist doch nichts gefährlicher, als Europa weiter nur zu einem Elitenprojekt zu machen, bei dem sich die Menschen in Deutschland und der Welt ausgeschlossen fühlen. Das muss auf diesem Kontinent ein Ende haben. Dafür streiten wir.
Wir kämpfen in Europa um die europäische Idee von Freiheit und Verantwortung. Das ist unsere Antwort auf die Globalisierung. Weder die absolute Freiheit der Märkte und die absolute Individualisierung Amerikas ist unser Weg, noch der Staatskapitalismus in Ländern wie China mit seiner ungebremsten Ausbeutung von Mensch und Natur. Freiheit und Solidarität, die Fähigkeit, aus seinem eigenen Leben etwas zu machen und trotzdem Verantwortung füreinander zu übernehmen: Das ist das Besondere an der europäischen Idee. Wir werden diese Idee nur gemeinsam verteidigen und der Welt anbieten können. Alleine gehen wir unter - auch wir Deutschen.
Diese Begründung müssen wir neu in den Mittelpunkt unserer europäischen Politik stellen. Es wird Zeit, aus dem Elitenprojekt EU wieder ein gemeinsames Projekt der Menschen in Europa zu machen, mit dem wir die Bürgerinnen und Bürger wieder für Europa begeistern können. Deswegen fordere ich Sie auf, ernsthaft den Prozess zur Erarbeitung einer neuen europäischen Grundordnung einzuleiten, die am Ende dem deutschen Volk zur Abstimmung vorgelegt wird.
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sind jedenfalls dazu bereit, für ein Europa als politische und soziale Union einzutreten, in dem die Menschen und die Interessen der Europäerinnen und Europäer im Mittelpunkt stehen. Das sind wir Europa als einzigartigem Kontinent von Aufklärung, Fortschritt und Emanzipation schuldig. Das ist der Weg, den wir gehen wollen. Wir hoffen, dass Sie uns folgen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun der Kollege Rainer Brüderle für die FDP-Fraktion.
Rainer Brüderle (FDP):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir bewältigen dieser Tage eine der außergewöhnlichsten Plenarwochen in der Geschichte unserer Republik. In dieser besonderen Situation muss man einen kühlen Kopf bewahren. Deshalb ist es schon verwunderlich, Herr Kollege Gabriel, dass Sie auf die sehr sachliche Regierungserklärung der Bundeskanzlerin auf Wahlkampfniveau geantwortet haben.
Ich will nur einige wenige Bemerkungen vorausschicken. Wer hat denn das meiste Wachstum in Europa ausgelöst? Wer ist die Wachstumslokomotive der europäischen Entwicklung?
Deutschland - wegen einer richtigen Politik, die betrieben wurde, und des Fleißes der Menschen.
50 Prozent unserer Exportumsätze gehen in Form von Aufträgen und Zulieferungen an die europäischen Nachbarländer. Ohne den deutschen Exporterfolg hätten viele europäische Partner keine Beschäftigung, keine Arbeitsplätze. Das ist die Relation.
Ja, die demokratischen Parteien mussten sich finden, um eine Zweidrittelmehrheit zustande zu bringen. Das ist auch immer eine Bewährungsprobe für das Parlament. Da muss jeder ein Stück geben. Wir haben mitgetragen, dass man eine Finanzmarktbesteuerung einführt. Aber die Redlichkeit erfordert, zu sagen: Wenn Sie den Finanzsektor wirklich beteiligen wollen, dann dürfen Sie nicht den Weg einer Umsatzsteuer gehen. In der Einführung in die Finanzwissenschaft werden Umsatzsteuern dahin gehend definiert, dass die Kunden diese tragen und nicht die Produzenten - Seite 2 der Einführung in die Finanzwissenschaft.
Letzte Vorbemerkung. Wer hat denn in Deutschland in der Regierung dereguliert, Derivate zugelassen, Hedgefonds eingeführt? Es war die rot-grüne Regierung. Den Drachen füttern und dann Siegfried spielen wollen, das ist zu billig.
In dem Miteinander hat sich gezeigt, dass wir im Gegensatz zu Ihnen - Sie wollen alles der Finanzmarktbesteuerung unterwerfen - darauf achten, dass Kleinsparer, Riester-Sparer nicht zusätzlich belastet werden. Das ist etwas anderes. Einer muss sich ja noch um die Riester-Sparer in Deutschland kümmern, wenn Sie es nicht mehr tun.
Meine Damen und Herren, mit dem Fiskalpakt und dem ESM betreten wir europapolitisches Neuland. Wir betreten auch verfassungsrechtliches Neuland. Wir ändern keinen Grundgesetzartikel, aber wir ändern die innere Verfasstheit unserer Republik. Manche sprechen von einer stillen Verfassungsänderung. Unsere Republik erfährt eine neue Prägung, eine Prägung, die europäischer ist. Auch das Haushaltsrecht wird davon berührt werden. Aber wir verpfänden die Kronjuwelen des Parlaments, die Haushaltsautonomie, nicht leichtfertig. Wir wollen einen europäischen Kronschatz daraus machen, und zwar aus Überzeugung. Europa selbst ist kostbar, sehr kostbar sogar. Deutschland hat nur eine Zukunft in einem starken Europa, Europa hat nur eine Zukunft mit einem starken Deutschland. Beides gehört zusammen.
Es gibt Kolleginnen und Kollegen, die heute nicht zustimmen wollen, nicht zustimmen können. Man kann hier zu anderen Schlüssen kommen. Ich respektiere ihr Verhalten. Aber ich sage auch klar und deutlich: Die große Zahl der Kolleginnen und Kollegen, die zustimmen wollen, haben genauso respektable Gründe für ihr Abstimmungsverhalten hier im Hause.
Auch sie haben lange gerungen und viele Gespräche geführt. Sie wollen Schaden vom deutschen Volk abwenden. Sie sind davon überzeugt: Der eingeschlagene Weg ist der richtige. Nicht nur der Bundestag, sondern alle Verfassungsorgane sind sich ihrer Verantwortung bewusst. Von Deutschland muss ein Signal der Handlungsfähigkeit ausgehen. Das erwarten unsere Freunde und Partner in Europa. Das erwarten unsere Partner in der Welt.
Es ist richtig, dass wir den ESM und den Fiskalpakt parallel auf den Weg bringen. Sie sind Zwillingsschwestern der Stabilitätsunion. Wir bauen eine neue Stabilitätsarchitektur in Europa. Es wird nationale Schuldenbremsen geben, quasi-automatische Sanktionen, Klagemöglichkeiten vor dem Europäischen Gerichtshof. Das alles hat entscheidend diese Bundesregierung durchgesetzt.
Es wird eben keine Euro-Bonds geben, was verfassungsrechtlich - das wissen Sie - gar nicht geht. Es wird keine Altschuldentilgung geben, dass wir also die Schulden von Europa über die 60-Prozent-Grenze hinaus - das sind über 2 000 Milliarden Euro - übernehmen, dass quasi der Handwerksmeister mit seinen Steuerzahlungen für die Altschulden in Griechenland und Italien aufkommt. Das kann nicht richtig sein. Das wird es nicht geben.
Es kann auch keine Bankenunion geben, die Herr Gabriel gefordert hat, bei der sozusagen die Oma mit ihrem Sparkassenbuch in Deutschland für die Investmentbanker in Spanien haftet. Das würde bedeuten, die Strukturen auf den Kopf zu stellen. Es muss eine andere Entwicklungsperspektive geben.
Wir haben fast zehn Jahre lang in der Euro-Zone einheitliche Zinssätze gehabt. Diese haben die Länder leider nicht zur Konsolidierung ihrer Staatshaushalte und zur Durchführung von Strukturreformen genutzt. Es wäre deshalb absolut kontraproduktiv, ein einheitliches Zinsniveau jetzt politisch einzuführen. Das würde zu Fehlanreizen führen. Das würde das Vertrauen in die Euro-Zone nicht stärken. Der Bundesbankpräsident hat dieser Tage zu Recht darauf hingewiesen.
Der ESM tritt an die Stelle der EFSF. Damit erhöht sich die Schlagkraft. Wir wissen, dass Spanien und Zypern Hilfe brauchen. Hierzu werden sicherlich in den nächsten Wochen Sondersitzungen nötig sein. Das müssen wir akzeptieren. Deshalb habe ich an meine Fraktionskollegen appelliert, in der Nähe zu bleiben. Das werden sie sicherlich tun. Wir sind alle für eine stark ausgebaute Parlamentsbeteiligung. Deshalb sind wir 24 Stunden am Tag und sieben Tage in der Woche bereit, zu beraten und zu entscheiden. Das kann ich für meine Fraktion erklären.
Wichtig ist, dass ohne den Willen Deutschlands und ohne den Willen des Bundestages keine Mittel fließen können. Das setzt europaweite Maßstäbe. Deshalb sind die strikte Konditionalität, mit der Zusammenhänge hergestellt werden, aber auch die Bereitschaft, Veränderungen umzusetzen, zwingend. Der ESM darf kein Instrument zur Finanzierung von Reformpausen sein.
Der ESM ist kein Instrument der Reformunwilligen, sondern der Reformwilligen. Er ist auch kein Weichspülprogramm für Reformverweigerer. Wir brauchen stabiles Geld. Es muss deshalb von Deutschland energisch dafür gesorgt werden, dass unser Geld stabil bleibt. Das ist die Geschäftsgrundlage unserer Demokratie.
Wenn das Geld schlecht wird, wird alles schlecht. Zu Beginn der unseligsten Zeit Deutschlands standen Inflation und Währungsreform, und am Ende standen wieder Währungsreform und Inflation. Eine Partei der Freiheit kämpft gegen die Enteignung von Sparern und Kleinanlegern und für stabiles Geld. Deshalb müssen wir auch europaweit klare Mechanismen durchsetzen. Das sind wir den Menschen in unserem Land schuldig.
Eine Währung ist Ausdruck dessen, was ein Volk war, ist und sein will. - Das hat Schumpeter einst gesagt. Die Deutsche Mark war Symbol für Wiederaufstieg und Stabilität in Deutschland. Der Euro ist Symbol für Frieden und Wohlstand in Europa. Deshalb muss er auf Solidität, Solidarität, aber auch auf Stabilität gebaut werden. Darum geht es heute, und darum sollten wir uns seriös kümmern. Den Wahlkampf führen wir anschließend.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Sahra Wagenknecht ist die nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke.
Sahra Wagenknecht (DIE LINKE):
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Milliarden von Steuergeldern sind verpufft. Derjenige, der Verantwortung trug, erwies sich als Marionette. Als Puppenspieler agierte ausgerechnet die Sorte Manager, die zuletzt Besserung gelobte: ein Investmentbanker.
Was das Handelsblatt über die Verstaatlichung des Energieversorgers EnBW geschrieben hat, gilt leider auch für die Europapolitik dieser Bundesregierung: Sie handeln wie Marionetten. Die Puppenspieler sind die Banker, und heraus kommen Verträge, mit denen die Bürgerinnen und Bürger über den Tisch gezogen werden, um die Vermögen der Reichsten zu retten und das Spielkasino Finanzmarkt am Laufen zu halten. Es ist schon bezeichnend, dass auf die gestrigen Gipfelbeschlüsse mit einem Kursfeuerwerk der Aktienmärkte reagiert wird.
Europa - ich darf das in Erinnerung rufen - sollte einmal ein Projekt des Friedens, der Demokratie und der Sozialstaatlichkeit sein, eine Lehre aus Jahrhunderten brutaler Kriege und eine bewusste Alternative zu jenem rüden Kapitalismus, der die Weltwirtschaftskrise und blutige faschistische Diktaturen heraufbeschworen hatte.
Europa muss, seinem Erbe getreu, einen neuen Humanismus verkörpern, als Hort der Menschenwürde und der sozialen Gerechtigkeit.
Das hat Richard von Weizsäcker einmal gesagt.
Das heutige Europa, das Sie jetzt mit dem zweiten riesigen Bankenrettungsschirm und dem Fiskalpakt besiegeln wollen, ist das genaue Gegenteil davon. Dieses Europa ist ein Projekt der Zerstörung von Demokratie und sozialer Gerechtigkeit,
ein Projekt zur Zerschlagung von Arbeitnehmerrechten und ein Projekt zur Senkung von Löhnen und Renten. Es ist ein Projekt von Deutscher Bank, Goldman Sachs und Morgan Stanley zur Ausplünderung der europäischen Steuerzahler.
Dass es dahin kommen konnte, dafür sind Sie alle gemeinsam verantwortlich: Sie, Frau Merkel, und Ihre schwarz-gelbe Koalition, für die es offenbar gar keine anderen Werte mehr gibt als die, die auf den Finanzmärkten gehandelt und von den Ratingagenturen benotet werden, aber auch Sie, werte Damen und Herren von der vermeintlichen Opposition aus SPD und Grünen, die sich zwar vor den Kameras gern als Regierungskritiker aufplustern, aber bisher nahezu jeder europapolitischen Schandtat dieser Regierung zugestimmt haben, so wie Sie es heute auch wieder vorhaben.
„Bitte sagen Sie mir, dass nicht alles, was ich gelernt habe, umsonst war“, schrieb mir vor kurzem eine junge Frau,
die aus Begeisterung für Europa und die europäische Idee ein Freiwilligenjahr in Griechenland verbracht hat und jetzt nach Deutschland zurückkommt. Sie ist entsetzt über das Griechenland-Bashing, aber vor allem hat sie Angst um ein Land, in dem über die Hälfte ihrer Altersgenossen keinen Job und keine Perspektive hat, in dem Schwangere vor dem Kreißsaal abgewiesen werden, wenn sie kein Bargeld dabei haben, in dem Rentner auf ihrem Balkon Zucchini züchten, weil die Rente nicht einmal mehr zum Sattwerden reicht. Mitten in Europa! Ja, Griechenland hatte große hausgemachte Probleme. Aber die soziale Katastrophe, die Griechenland heute durchleidet, ist nicht hausgemacht. Sie ist das Resultat Ihrer Politik.
Hören Sie endlich auf, die Realität durch Lügenworte zu umnebeln! Sie erzählen uns, wir hätten eine Staatsschuldenkrise. Tatsächlich ist es die Bankenkrise, die die Schulden der Staaten immer weiter nach oben treibt, weil Sie einerseits milliardenschwere Rettungsschirme aufspannen und riesige Brandmauern errichten und weil Sie andererseits nichts dafür tun, den eigentlichen Brandherd zu löschen. Dieser ist ein nach wie vor viel zu großer, weitgehend deregulierter Finanzsektor, der unverändert mit unverantwortlichen Zockergeschäften immer wieder riesige Verluste produziert.
Sie erzählen uns, die Krise in den Südländern gehe auf mangelnde Wettbewerbsfähigkeit zurück. Die spanische Industrie produziert heute zwar 30 Prozent weniger als 2008. Aber zwischen 2008 und heute sind die spanischen Lohnstückkosten um 9 Prozent gesunken. Daran kann es also nicht liegen. Es liegt daran, dass die Banken in Spanien marode sind und die Realwirtschaft nicht mehr mit Krediten versorgen. Es liegt des Weiteren daran, dass seit Jahren ein brutales Kürzungsprogramm in Spanien läuft, das der Wirtschaft die Luft zum Atmen nimmt. Genau das Gleiche haben wir schon in Griechenland erlebt.
Dieses Katastrophenkonzept soll jetzt mit dem Fiskalpakt auf ganz Europa übertragen werden? Wollen Sie irgendwann auch in Deutschland griechische Verhältnisse? Das ist doch Wahnsinn, Frau Merkel!
Schauen wir uns einmal die Zahlen an. Wenn der Fiskalpakt eingehalten wird, müssen die europäischen Staaten in den nächsten Jahren über 2 000 Milliarden Euro aus ihren Haushalten heraushacken: bei Gesundheit, bei Sozialem, bei Bildung und bei Renten. Was soll dann denn noch von Europa übrig sein? Herr Gabriel, jetzt zu behaupten, dass das durch die zusätzlichen 10 Milliarden Euro für die Europäische Investitionsbank und die Umwidmung einiger Gelder in der EU aufgefangen wird: Machen Sie sich doch nicht lächerlich!
Wer Wachstum und Wohlstand in Europa will, der muss den unsäglichen Fiskalpakt mit seinen billionenschweren Kürzungsdiktaten stoppen. Wer das nicht macht, der heuchelt. Das sage ich Ihnen ganz deutlich.
Vieles spricht dafür, dass die geplante Finanztransaktionsteuer eine Mogelpackung wird. Immerhin rechnet Herr Schäuble gerade einmal mit Einnahmen von 2 Milliarden Euro. Schauen Sie sich doch einmal an, was auf den Derivatemärkten umgesetzt wird. Eine ordentliche Steuer müsste wesentlich mehr einbringen.
Frau Merkel, ich sage Ihnen auch: Wenn Sie weiter die europäischen Staaten mit brutalen Kürzungsprogrammen in die Krise zwingen, statt sie endlich durch Direktkredite der Europäischen Zentralbank von der Zinstreiberei der Finanzmärkte unabhängig zu machen, dann werden Sie nicht als eiserne Kanzlerin in die Geschichte eingehen, sondern als Totengräberin des Euro.
Sie erzählen uns, dass der Fiskalpakt dazu da wäre, die Schulden zu senken. Auch das ist unwahr. Wenn Sie die öffentliche Schuldenexplosion eindämmen wollen, dann müssen Sie endlich aufhören, weitere Milliarden auf Pump in den Finanzsektor zu schleusen. Aber das haben Sie gar nicht vor; denn parallel zu diesem europäischen Kürzungspakt soll der Bundestag heute das nächste Milliardengrab absegnen, nämlich den ESM.
Sie haben vor kurzem einen Nachtragshaushalt beschlossen, in den schon einmal 8 Milliarden Euro eingestellt wurden, um die erste Überweisung an diesen großen, neuen Bankenrettungsschirm zu leisten. Ich möchte Ihnen gar nicht vorrechnen, wie Sie die Lebenssituation und die Bildungschancen von Kindern aus Hartz-IV-Familien mit diesen 8 Milliarden verbessern könnten. Schauen Sie sich die Situation in deutschen Kommunen, Städten und Gemeinden an. Da werden Bibliotheken, Schwimmbäder und Grundschulen geschlossen wegen Beträgen, die im Vergleich zu diesen 8 Milliarden lächerlich gering sind. Die Gemeinden haben seit Jahren kein Geld. Für die Kinder haben Sie kein Geld. Aber endlose Milliardenbeträge haben Sie offensichtlich, um die Banken zu retten. Hören Sie wenigstens auf, vom Sparen zu reden! Sie sparen überhaupt nicht. Sie verschleudern Milliarden.
Sie nehmen den einen und geben den anderen. Das nenne ich nicht Sparen, sondern Umverteilung.
Wer von dieser Umverteilung tatsächlich profitiert, kann man in Griechenland deutlich sehen. Zu Beginn seiner vermeintlichen Rettung hatte Griechenland 300 Milliarden Euro Schulden, die von Banken, Hedgefonds und vermögenden Privatanlegern gehalten wurden. Heute hat Griechenland 360 Milliarden Euro Schulden, aber für 300 Milliarden davon haften jetzt die europäischen Steuerzahler. An diesem Beispiel sieht man übrigens auch, was mit den vermeintlichen Hilfsgeldern passiert. Sie gehen nicht an griechische Rentner, sondern an die europäische Finanzmafia.
Spanien soll jetzt bis zu 100 Milliarden Euro für seine Banken bekommen. Auch das Geld wird nicht in Spanien bleiben. Allein die Deutsche Bank hat in Spanien 14 Milliarden Euro im Feuer. Sie ist natürlich hocherfreut, dass der deutsche Steuerzahler weiter brav überweist.
Herr Brüderle, Sie haben hier gerade populär herumgetönt, dass die Oma mit ihrem Sparbuch nicht für die Investmentbanker haften soll. Wenn Sie das ernst nehmen, müssen Sie und Ihre Fraktion heute aber geschlossen gegen den ESM stimmen;
denn der bedeutet genau das, was Sie gesagt haben, dass nämlich Rentner, Beschäftigte und Arbeitslose für die Zockereien der Investmentbanker zahlen müssen.
Wer den Steuerzahler solchen Risiken aussetzt - wir reden hier über zwei gigantische Rettungsschirme mit einem Haftungsvolumen für Deutschland von 300 Milliarden, eventuell von 400 Milliarden Euro -, wer solche Risiken provoziert, sollte rot anlaufen, wenn er von Haushaltskonsolidierung redet. Nehmen Sie das doch von Ihnen selber beschworene Prinzip der Haftung nur einmal ernst: Wer den Nutzen hatte, soll auch den Schaden tragen. Wer hatte den Nutzen? Es ist doch kein Zufall, dass parallel zu den Staatsschulden auch die privaten Vermögen der oberen Zehntausend in Europa immer neue Rekorde erreichen. Holen Sie sich das Geld doch dort zurück. Da liegen die Milliarden, die uns fehlen. Sie können sie von dort holen - ohne Fiskalpakt und ohne Zerstörung der Demokratie.
Sie aber tun das Gegenteil. Sie vergemeinschaften die Schulden, gerade damit die Finanzvermögen der Reichen nicht entwertet werden. Um das nötige Geld einzutreiben, soll jetzt die Budgethoheit der Staaten zugunsten einer Brüsseler Eurokratie aufgehoben werden, weil die natürlich rücksichtsloser kürzen kann. Das ist doch die Wahrheit darüber, was dahintersteht. Das ist der Kern Ihrer Politik. Sie retten nicht den Euro, sondern Sie retten die Euros der Millionäre.
Dann seien Sie wenigstens so ehrlich und sagen das den Bürgern. Sagen Sie ihnen, dass sich der soziale Bundestaat, den das Grundgesetz festschreibt, mit den vorliegenden Verträgen erledigt hat. Sagen Sie ihnen, dass sie in Zukunft auch in Deutschland ein Parlament wählen dürfen, das nicht mehr viel zu sagen haben wird; denn auch Deutschland gehört zu den Ländern, deren Staatsverschuldung weit über dem liegt, was der Fiskalpakt verlangt. Sagen Sie den Menschen, dass das ein kalter Putsch gegen das Grundgesetz ist.
Werte Abgeordnete von CDU und CSU, Ihre Parteien haben in der Nachkriegszeit den Slogan „Wohlstand für alle“ auf ihre Fahnen geschrieben. Jetzt zerstören Sie den Wohlstand von Millionen.
Sie nehmen den Armen das Brot,
weil Sie zu feige sind, den Reichen das Geld zu nehmen. Halten Sie das für christlich?
Werte Abgeordnete der Liberalen, dass ein Staat private Verluste sozialisiert, wenn die Betroffenen nur reich und einflussreich genug sind, ist alles, nur kein Liberalismus. Wollen Sie das wirklich vertreten?
Werte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie tragen die Wörter „sozial“ und „demokratisch“ in Ihrem Parteinamen. An diesem Anspruch haben Sie sich in den letzten Jahren schon oft genug versündigt: mit der Agenda 2010, mit der Deregulierung der Finanzmärkte, mit Hartz IV und mit der Zerschlagung der gesetzlichen Rente. Wenn man aber Knebelverträgen zustimmt, mit denen Sozialstaat und Demokratie in Europa endgültig zu Grabe getragen werden, heißt das, die Agenda-Politik in Deutschland mit einer Ewigkeitsgarantie zu versehen.
Dazu muss ich Sie fragen: Ist es das Linsengericht, nach der nächsten Wahl wieder als Juniorpartner einer Großen Koalition mittun zu dürfen, wirklich wert, Ihren Wählern noch einmal derart ins Gesicht zu schlagen?
Werte Kolleginnen und Kollegen, Sie wurden als Abgeordnete auf Basis unseres Grundgesetzes gewählt. Wenn Sie noch ein Gewissen haben - als Demokraten und als Europäer -, dann, bitte ich Sie, folgen Sie diesem Gewissen und stimmen Sie heute mit Nein.
Vielen Dank.
[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der
188. Sitzung - wird am
Montag, den 2. Juli 2012,
auf der Website des Bundestages unter „Dokumente“, „Protokolle“, „Endgültige Plenarprotokolle“ veröffentlicht.]