Navigationspfad: Startseite > Dokumente > Textarchiv > 2010 > Historische Debatten (12): Streit um den Parlaments- und Regierungssitz
60 Jahre Bundestagsgeschichte - das sind 16 Legislaturperioden, acht Bundeskanzler und unzählige Reden, die im Plenum des Parlaments gehalten wurden. Einige Debatten in dieser Zeit waren besonders kontrovers, wie etwa die über die Frage der Wiederbewaffnung Deutschlands 1952 oder die der Ostverträge 1972. Ein Streifzug durch die bedeutendsten Dispute und Entscheidungen der vergangenen 16 Wahlperioden.
Bonn oder Berlin? Die Frage, wo der Sitz von Bundestag und Bundesregierung im wiedervereinigten Deutschland sein sollte, wurde in Politik und Öffentlichkeit äußerst kontrovers und leidenschaftlich diskutiert.
Die einen sahen in Bonn ein Symbol für den demokratischen Neubeginn nach dem Zweiten Weltkrieg. Berlin erinnerte sie dagegen an die dunklen Kapitel der deutschen Geschichte wie den Nationalsozialismus. Die Bonn-Befürworter warnten zudem vor immensen Umzugskosten.
Die anderen betrachteten es dagegen als Gebot der Glaubwürdigkeit und Beitrag zur Vollendung der inneren Einheit Deutschlands, Berlin zum Sitz von Regierung und Parlament zu machen.
Während der Verhandlungen um den Einigungsvertrag im Sommer 1990 war die umstrittene Frage bereits berührt, dann wohlweislich vom damaligen Bundesinnenminister Dr. Wolfgang Schäuble und dem Leiter der DDR-Delegation, Günther Krause, ausgeklammert worden.
Für den Text des Einigungsvertrags einigte man sich nur auf die knappe Kompromissformel: "Hauptstadt Deutschlands ist Berlin. Die Frage des Sitzes von Parlament und Regierung wird nach Herstellung der Einheit Deutschlands entschieden."
Parallel dazu war aber längst ein Streit entbrannt, der Gräben zwischen Bonn- und Berlin-Befürwortern quer durch alle Parteien und Fraktionen aufriss. Den eigentlichen Auftakt zu dieser öffentlich geführten "Bonn-Berlin-Debatte" - die letztlich beinahe ein Jahr, bis zur Entscheidung des Bundestages am 20. Juni 1991, währte - markiert eine Rede des damaligen Bundespräsidenten am 29. Juni 1990.
Richard von Weizsäcker sprach sich anlässlich der Verleihung der Ehrenbürgerwürde von Gesamt-Berlin als erster sehr eindringlich für Berlin aus: "Hier ist der Platz für die politisch verantwortliche Führung Deutschlands." Ein Satz, der sofort Widerspruch auslöste.
Der damalige stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Horst Ehmke, reagierte besonders ablehnend auf die Äußerung des Bundespräsidenten mit der Frage: "Wann ist denn Deutschland von Berlin aus je politisch verantwortlich geführt worden? Die Antwort muss lauten: selten oder nie!" Ein Satz, der exemplarisch für die emotionsgeladene Atmosphäre steht, in der die Debatte in den folgenden Monaten geführt wurde.
Der Bundespräsident jedoch ließ sich nicht beirren: In einem Brief an die Partei- und die Fraktionsvorsitzenden im Bundestag forderte er am 24. Februar 1991, Berlin dürfe als Hauptstadt nicht auf eine bloß repräsentative Funktion reduziert werden, sondern müsse das politische Zentrum der neuen Bundesrepublik werden. Eine Intervention, die Weizsäcker sowohl die unverhohlene Ablehnung des Pro-Bonn-Lagers als auch die volle Zustimmung des Pro-Berlin-Lagers einbrachte.
Um den Streit zumindest zeitlich zu begrenzen, beschloss das Präsidium des Bundestages am 27. Februar 1991, die "Hauptstadtfrage" noch vor der Sommerpause zu klären. Zwei Monate später, am 23. April, einigten sich dann die Repräsentanten aller Verfassungsorgane sowie die Fraktionsspitzen im Bundestag darauf, dass der Bundestag am 20. Juni 1991 über die Frage entscheiden sollte, der Bundesrat einen Tag später, am 21. Juni 1991.
Als Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth am Tag der Entscheidung um 10 Uhr die Plenarsitzung im bis auf den letzten Platz besetzten alten Bonner Wasserwerk eröffnete, war dies der Auftakt zu einer rund zwölfstündigen leidenschaftlichen Debatte, die von manchem Beobachter als eine "rhetorische Sternstunde" bezeichnet wurde. Das Medieninteresse war groß. Immer wieder wurde live ins Parlament geschaltet.
Noch bis wenige Stunden vor Beginn der Debatte hatten etliche Politiker versucht, einen Kompromiss zu finden, auf den sich eine breite Mehrheit verständigen konnte. Doch ohne Erfolg. Es lief auf eine Konfrontation der beiden Lager hinaus - mit einem leichten Vorteil für Bonn: Bei einer Umfrage wenige Tage zuvor hatte sich ein knappe Mehrheit der 662 Bundestagsabgeordneten für Bonn ausgesprochen.
Zur Abstimmung standen insgesamt fünf Anträge: Der Antrag der Bonn-Befürworter, zu deren Erstunterzeichnern unter anderen Norbert Blüm (CDU/CSU), Horst Ehmke (SPD) und Gerhart Baum (FDP) gehörten, sah vor, Parlament und Regierung in Bonn zu belassen, während Bundespräsident und Bundesrat nach Berlin verlegt werden sollten.
Der kurz vor dem 21. Juni 1992 modifizierte Antrag der Berlin-Befürworter, darunter Willy Brandt (SPD) und Wolfgang Schäuble (CDU/CSU), forderte den Umzug von Regierung, Parlament, Bundesrat und Bundespräsident nach Berlin und im Gegenzug einen fairen Ausgleich für Bonn - so beispielsweise den Erhalt des größten Teils der Arbeitsplätze in Bonn sowie die Ansiedlung neuer Institutionen.
Heiner Geißler und Lothar de Maizière (beide CDU/CSU) formulierten in ihrem Antrag einen Kompromiss: nur Bundestag, Bundesrat und Bundespräsident sollten nach Berlin verlegt werden, die Regierung sollte ihren Sitz in Bonn behalten.
Dagegen setzte sich wiederum Otto Schily (SPD) ein: Eine Trennung der Sitze von Bundestag und Bundesregierung lehnte ein von ihm eingebrachter Antrag strikt ab.
Gregor Gysi und die PDS/Linke Liste forderten schließlich in ihrem Antrag kompromisslos, Berlin zum Sitz von Bundestag und Regierung zu machen und diesen Beschluss auch sofort umzusetzen.
Norbert Blüm war es dann, der die Debatte mit seiner Rede eröffnete: Der damalige Bundesarbeitsminister warb mit eindringlichen Worten für den bisherigen Sitz von Parlament und Regierung: "Lasst dem kleinen Bonn Parlament und Regierung."
Bonn verlöre viel. Berlin hingegen gewänne mit Bundestag und Regierung viele Probleme, warnte Blüm: "Wohnungsprobleme, Raumordnungsprobleme, Infrastrukturprobleme."
Wolfgang Thierse (SPD) warnte hingegen davor, Berlin zum "Ort der Repräsentation" zu degradieren. Dies sei nicht nur eine "Beleidigung für die Berliner, sondern auch eine Erniedrigung der Bürger im Osten", so der SPD-Vizevorsitzende mit Wahlkreis im Osten Berlins.
"Die Entscheidung für Berlin ist ein durch nichts - durch nichts! - zu ersetzender Schritt zur Verwirklichung der politischen, sozialen, menschlichen Einheit Deutschlands."
Auch Gregor Gysi (PDS) plädierte für Berlin und führte dafür Gründe der "nationalen Glaubwürdigkeit und der internationalen Reputation" an. 40 Jahre lang sei klar gewesen, dass Bonn nur die Funktion einer provisorischen Hauptstadt gehabt habe. Bereits in seiner ersten Legislaturperiode habe der Bundestag beschlossen, dass "die leitenden Bundesorgane ihren Sitz in die Hauptstadt Deutschlands Berlin" verlegen sollten, "sobald allgemeine, freie, gleiche, geheime und direkte Wahlen in ganz Berlin und in der Sowjetischen Besatzungszone" durchgeführt seien.
Dieser Beschluss sei in der Folge immer wieder bekräftigt worden. Zudem gebe es neben Berlin in Deutschland keine andere Stadt, in der sich die Vereinigung so "unmittelbar" vollziehe.
Der frühere Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP) warb wiederum für Bonn: Die Stadt repräsentiere besser als Berlin das föderalistische Prinzip der Bundesrepublik.
Eine "Rückkehr zum Hauptstadtgedanken des 19. Jahrhunderts" passe nicht mehr in die Gegenwart, so der Liberale. Bonn sei als funktionierender Regierungs- und Parlamentssitz "ein Glücksfall" - und ein Symbol für 40 Jahre "erfolgreiche Demokratie".
Über zwei Stunden war bereits debattiert worden, als sich Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU/CSU) vom Rednerpult aus an die Abgeordneten wandte: "Für mich ist es - bei allem Respekt - nicht ein Wettkampf zwischen zwei Städten, zwischen Bonn und Berlin. Es geht auch nicht um Arbeitsplätze, Umzugs- oder Reisekosten, um Regionalpolitik oder Strukturpolitik. Das alles ist zwar wichtig, aber in Wahrheit geht es um die Zukunft Deutschlands."
Schäuble mahnte, um die Teilung Deutschlands zu überwinden, müsse man bereit sein zu teilen - auch die Veränderungen, die durch die deutsche Einheit entstanden seien. Deshalb könne in Bonn nicht alles so bleiben, wie es war.
Diese Rede wurde von vielen Beobachtern als der Wendepunkt der Debatte gesehen. Die Stimmung bei so manchem Unentschlossenen kippte. Dennoch: Das Ergebnis der Schlussabstimmung (bei der es nur noch um den Bonn- und den Brandt-Schäuble-Antrag für Berlin mit dem Titel "Vollendung der Einheit Deutschlands" ging) war knapp.
Um 21.47 Uhr gab Bundestagspräsidentin Süssmuth bekannt, dass von 620 abgegebenen Stimmen 320 auf Bonn entfallen waren, 338 auf Berlin. Es gab zwei Enthaltungen. Damit war die Frage des Sitzes von Regierung und Parlament zugunsten Berlins entschieden.
Die rechtlichen Voraussetzungen zur Umsetzung dieses Beschlusses schuf der Bundestag am 26. April 1994 mit dem so genannten Berlin/Bonn-Gesetz. Schon ein halbes Jahr zuvor hatte die Bundesregierung beschlossen, bis zum Jahr 2000 nach Berlin umzuziehen.
Angestrebt wurde aber eine "faire Arbeitsteilung": So sollte ein Teil der Ministerien nach Berlin ziehen, ein Teil in Bonn bleiben. Bis heute haben die Ministerien für Bildung und Forschung, für Gesundheit, für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, für Verteidigung sowie für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ihren ersten Dienstsitz am Rhein, die übrigen an der Spree.
Der Bundestag zog 1999 nach Berlin. Offizieller Arbeitsbeginn war der 1. September. Die erste Sitzung des Deutschen Bundestages nach dem Umzug in das umgebaute Reichstagsgebäude fand am 4. Oktober statt. (sas)