Navigationspfad: Startseite > Presse > Pressemitteilungen > 2011 > 01.01.2012
Vorabmeldung zu einem Interview in der nächsten Ausgabe der Wochenzeitung
„Das Parlament“ (Erscheinungstag: 2. Januar 2012)
– bei Nennung der Quelle frei zur sofortigen Veröffentlichung –
Der frühere Bundespräsident und Präsident des Bundesverfassungsgerichts Roman Herzog sieht in der gegenwärtigen Schuldenkrise auch „eine Bedrohung für die Demokratie“. In einem Interview mit der Berliner Wochenzeitung „Das Parlament“ sagte Herzog: „Das Fundament der Demokratie ist das Vertrauen in die Institutionen und die Menschen, die diese Institutionen bewegen. Wenn die Institutionen nicht mehr funktionieren, dann sinkt das Vertrauen.“
Allerdings könne die Politik verlorenes Vertrauen wieder zurückgewinnen. Zum Beispiel durch Erfolg, Transparenz und den Versuch, „die gemachten Fehler auszumerzen. Ein Beispiel für einen solchen Fehler ist die Aufnahme Griechenlands in die Eurozone.“
Für Roman Herzog könnten die "Vereinigten Staaten von Amerika“ kein Orientierungspunkt für die EU sein: „Die Europäische Union ist nicht als Superstaat konzipiert.“ Wir lebten in einer Welt, in der es auf Flexibilität und individuelle Initiativen der Staaten ankomme. Heute gehe es darum, „die EU nicht so groß wie möglich, sondern so stark wie möglich zu machen“. „Zunächst muss rund die Hälfte der mittlerweile bis zu 70.000 Druckseiten EU-Vorschriften abgeschafft werden“, sagte Herzog.
Das Interview im Wortlaut:
Herr Professor Herzog, was sind die entscheidenden Herausforderungen für das Jahr 2012?
Kurzfristig natürlich die Schuldenkrise. Ich wage allerdings keine Prognose, weil die Situation völlig neu ist. Eine Krise wie diese hat es noch nicht gegeben. Das heißt, es gibt auch keinen, der damit Erfahrung hat. Das ist die eigentliche Schwierigkeit.
Wie bedrohlich ist die gegenwärtige Schuldenkrise für die Demokratie?
Die Krise könnte eine Bedrohung für die Demokratie werden. Das Fundament der Demokratie ist das Vertrauen in die Institutionen und die Menschen, die diese Institutionen bewegen. Wenn die Institutionen nicht mehr funktionieren, dann sinkt das Vertrauen. Aus den Meinungsumfragen und auch aus Zuschriften, die ich erhalte, lässt sich ein Prozess des Vertrauensverlustes schon ablesen. Aber Vertrauen lässt sich natürlich auch wieder gewinnen.
Wie?
Das Erste, was Vertrauen schafft, ist der Erfolg. Das Zweite ist Transparenz. Das Dritte ist, die gemachten Fehler auszumerzen. Ein Beispiel für einen solchen Fehler ist die Aufnahme Griechenlands in die Eurozone.
Für wie dramatisch halten Sie den Vertrauensverlust der Bevölkerung in die politischen Institutionen?
Der Vertrauensverlust ist dramatisch. Er trifft vor allem die EU. Warum etwa lassen es die Gemeinschaftsverträge nicht zu, dass man die Haushaltspolitik der Mitgliedsstaaten scharf kontrolliert und denen, die dabei nicht mitmachen, kein Geld mehr gibt und ihnen die Mitsprache darüber, was mit der Eurozone passiert, entzieht? Wenn eine Gemeinde einen Staatskommissar bekommt, weil sie überschuldet ist, dann sitzt der Bürgermeister auch nicht mit im Kabinett. Â
Geht der Weg in Richtung eines Kerneuropas?
Ja und nein. Ich vertrete seit Jahren die Auffassung, dass es nicht primär darum geht, die EU einfach zu vergrößern. Wenn es darum geht, die Stimme Europas in der Welt zu erheben, etwa um die Einhaltung der Menschenrechte zu fordern, dann kann das nur von den EU-Staaten gemacht werden, die dazu stark genug sind. Staaten, die aus wirtschaftlichen Gründen Rücksichten nehmen müssen, wird man da nicht mitnehmen können. Es gibt in den Gemeinschaftsverträgen aber für einzelne Staaten, die das wollen, die Möglichkeit, enger zusammenzuarbeiten. Das muss stärker mobilisiert werden.
Wie weit soll die Integration gehen? Brauchen wir die Vereinigten Staaten von Europa?
Ich halte den Begriff, mit Verlaub, für unbrauchbar. Diejenigen, die dem das Wort reden, sagen doch noch nicht einmal, was sie damit genau meinen.
Als Orientierungspunkt gelten die Vereinigten Staaten von Amerika.
Das ist völlig undenkbar. Die Europäische Union ist nicht als Superstaat konzipiert. Sie kann so nicht funktionieren. Wir leben in einer Welt, in der es auf Flexibilität, auf individuelle Initiativen der Staaten ankommt. Schon heute lähmen doch die Massen von Vorschriften, die Brüssel produziert, die Europäische Union.
Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Voßkuhle, hat kürzlich in einer Podiumsdiskussion mit Parlamentspräsident Lammert gesagt, die schleichende Transformation in einen europäischen Bundesstaat habe längst begonnen. Er pocht darauf, den Übergang demokratisch zu legitimieren. Was ist Ihre Position?
Ich stimme ihm zu. Die EU ist für die Aufgabe, sich in der sich neu ordnenden Welt zu behaupten, nicht ausreichend gewappnet. Es geht darum, die EU nicht so groß wie möglich, sondern so stark wie möglich zu machen. Zunächst muss rund die Hälfte der mittlerweile bis zu 70.000 Druckseiten EU-Vorschriften abgeschafft werden. Zudem sind die in den EU-Verträgen festgelegten Zuständigkeiten exakt einzuhalten.
Herr Bundespräsident, der Bundestag hat sich intensiv mit der Bewältigung der Schuldenkrise befasst. Wie ist das aus Ihrer Sicht gelaufen?
Das ist an sich nicht schlecht gelaufen. Aber ich sehe in Deutschland ein grundlegendes Verfassungsproblem. Unsere Parlamente auf Bundes- und Landesebene sind im Grunde zu Gesetzgebungsmaschinerien denaturiert, weil für jede Kleinigkeit, die eine Verwaltung macht, eine gesetzliche Grundlage vorliegen muss. In der Folge ist die erste Aufgabe der Parlamente, politisches Steuerungsorgan neben der Regierung zu sein, über die Wupper gegangen. Auch bei der Schuldenkrise wurde im Parlament daher nicht ausreichend diskutiert.
Karlsruhe hat das vom Bundestag beschlossene Neuner-Gremium vorerst gestoppt, das zu Entscheidungen in Sachen Euro-Rettungsschirm berufen ist. Muss das Parlament vor seinen eigenen Entscheidungen geschützt werden?
Darüber mache ich mir keine Sorgen. Wir haben ein selbstbewusstes Parlament. Allerdings: Wenn der Bundestag für eine Sache zuständig ist, dann ist das Verhältnis von 620 zu neun Abgeordneten schon ein wenig auffällig.
Herr Professor Herzog, Sie haben im „Konvent für Deutschland“, dem Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft angehören, ebenfalls die Schuldenkrise diskutiert. Mit welchem Ziel?
Wir sind angetreten, die Reformfähigkeit der Institutionen zu befördern. Gerade auf europäischer Ebene ist da viel zu tun. So rächt es sich, dass keine Institution geschaffen wurde, die über die Einhaltung der Stabilitätskriterien tatsächlich wachen kann. Ich bin fest davon überzeugt, dass eine EU-Haushaltsaufsicht für Schuldenstaaten mit weitreichenden Prüfungs- und Sanktionsmöglichkeiten eingeführt werden muss.
Eine gravierende institutionelle Veränderung wäre die Einführung einer Wirtschaftsregierung in Brüssel.
Da bin ich entschieden dagegen. Was braucht es denn? Jedenfalls keinen gewöhnlichen Haushaltsplan aus Brüssel für Griechenland oder Deutschland. Wohl aber Eckdaten, die für alle Mitgliedstaaten verbindlich sind und auch durchgesetzt werden; etwa eine Ober- und Untergrenze der Staatsquote, eine Obergrenze für Personalkosten und eine Mindest-Investitionsquote. Dafür braucht man aber keine eigene Wirtschaftsregierung.
Themenwechsel. Das Bundesverfassungsgericht hat die Fünf-Prozent-Klausel bei der Europawahl gekippt. Hat das Auswirkungen für die Bundestagswahl?
Ich halte die Fünf-Prozent-Klausel in der Bundesrepublik nach wie vor für gerechtfertigt, weil wir ein parlamentarisches System haben. Die Klausel hat ihren Ausgangspunkt in der Zersplitterung des Parteiensystems in der Weimarer Republik. Ziel war es, stabile Regierungsverhältnisse zu schaffen. Das ist weiterhin wesentlich. In Europa ist das anders. Das EU-Parlament hat zwar Kompetenzen, nicht aber die, die Regierung einzusetzen. Infolgedessen gibt es auch keine Notwendigkeit, dass die Kommission mit einer stabilen Mehrheit arbeiten muss.
Ist es richtig, ein neues NPD-Verbotsverfahren anzustrengen?
Es ist richtig, ein Verbotsverfahren anzuschieben – unter der Voraussetzung, dass man mit hoher Wahrscheinlichkeit den Prozess gewinnt. Das heißt nicht zwingend, alle V-Leute abzuziehen. Das Bundesverfassungsgericht hat 2003 lediglich moniert, dass der Verbotsantrag wesentlich mit Aussagen von V-Leuten begründet worden war. Grundsätzlich gilt: Wenn ich einen verfassungsfeindlichen Gegner habe, ob der links oder rechts steht, ist mir gleichgültig, dann muss ich aus allen Rohren feuern. Dazu gehört auch, ihm die Organisations- und Rekrutierungsbasis wegzunehmen.         Â
Auch unterwegs aktuell informiert mit der kostenlosen App "Deutscher Bundestag" und unter m.bundestag.de.