03.01.2005 - Neujahrsansprache von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse im Deutschlandfunk
Es gilt das gesprochene Wort
Liebe Hörerinnen und Hörer!
Das Jahresende 2004 ist überschattet von den Bildern der entsetzlichen Naturkatastrophe im Indischen Ozean. Es ist wohl die schlimmste Katastrophe seit Menschengedenken: 100.000 Tote, furchtbare Zerstörungen, unendliches Leid! Unser Mitgefühl gilt den Angehörigen der vielen Opfer. Wir trauern auch um Landsleute, für die geruhsame Urlaubstage im Tod endeten. Ich wünsche mir sehr, dass Betroffenheit und Anteilnahme bei uns Solidarität und Hilfsbereitschaft für die betroffenen armen Länder stärken. Und ich danke all denen, die durch Spenden zur Linderung der Not und zum Wiederaufbau beitragen.
Liebe Hörerinnen und Hörer,
wir in Deutschland haben ein konfliktreiches politisches Jahr hinter uns. Im Zentrum stand die Reform des Sozialstaates, vor allem die des Arbeitsmarktes. Nach anfänglichen Protesten im Sommer hat aber offenbar eine Mehrheit die Absicht dieser Reform verstanden. 65% der Deutschen sind nach dem jüngsten Politbarometer mit ihrer Situation im vergangenen Jahr zufrieden. Das gehört zu den guten Nachrichten, die uns erlauben mit Zuversicht in das neue Jahr zu gehen.
Wir werden uns aber auch 2005 unter Demokraten weiter streiten müssen und Sorgen haben. Mich beschäftigt zum Beispiel, dass der Reichtum unseres Landes sehr ungleich verteilt ist. Die Kluft zwischen arm und reich ist größer geworden. Es gibt offenbar kein erfolgreiches nationalstaatliches Mittel, das internationale Wettbewerbsfähigkeit und gerechtere Einkommensverteilung gleichzeitig bewirken könnte. Dieses Problem wird uns auch im neuen Jahr beschäftigen und wir werden nach europäischen Lösungen suchen müssen. Gerade vor diesem Hintergrund freue ich mich über das europäische Jahr, das 2004 vor allem gewesen ist. Die Wiedervereinigung Europas durch Aufnahme der neuen Mitglieder in die EU am 1.Mai und die ersten gesamteuropäischen Wahlen sind zusammen mit der Vorlage des europäischen Verfassungsvertrages die wichtigsten politischen Ereignisse gewesen. Nun sollten wir auch als Bürger und Wähler lernen, die europäische Ebene stärker zu beachten.
Zu meinen innenpolitischen Sorgen gehört, dass Bildungs- und Aufstiegschancen immer noch von der Herkunft abhängen. Da sind Bildungssysteme in anderen Staaten fairer. Forschung, Bildung und Innovationen sind deshalb – und weil sie unsere einzigen Trümpfe im internationalen Wettbewerb sind – die wichtigsten Aufgaben der nächsten Jahre.
Deshalb ist zu beklagen, dass es Bund und Ländern nicht gelungen ist, ihre jeweiligen Zuständigkeiten klarer zu ordnen- auch und gerade in Sachen Bildung nicht. Ich vermute, dass es Ihnen, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, um ein gutes und faires Bildungswesen geht, das den Umzug in ein anderes Bundesland nicht mit Nachteilen für schulpflichtige Kinder bestraft. Deswegen erscheint mir eine Mitverantwortung des Bundes für einheitliche Zugänge und Abschlüsse, für gemeinsame Bildungsstandards und Bildungsplanung nötig. Ich hoffe, dass die Föderalismuskommission diese Aufgabe im neuen Jahr löst.
In den letzten Wochen und Monaten haben wir Anlass gehabt, über das Zusammenleben der Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen und mit unterschiedlichen Religionen zu diskutieren. Ganz konkret geht es dabei um die 3 Millionen hier in Deutschland lebenden Muslime und deren Integration in unsere Gesellschaft. Ich wünsche mir und allen, die hier leben, dass diese Debatten uns voran bringen zu einer Gesellschaft, in der wir alle als Menschen ohne Angst verschieden sein können.
Dafür sollte die so genannte Mehrheitsgesellschaft viel mehr Zuwendung und mehr Hilfen zur Integration für die Einwanderer und ihre Kinder und Enkel aufbringen. Wir tragen heute die Folgen davon, dass wir eine einfache Erkenntnis ignoriert haben, die der berühmte Schriftsteller Max Frisch vor 30 Jahren so formuliert hat: "Wir haben Gastarbeiter gerufen; aber gekommen sind Menschen."
Aber auch die Muslime unter den Zuwanderern müssen lernen, dass Integration nicht nur die Beherrschung der deutschen Sprache voraussetzt, sondern auch die Beachtung unserer Gesetze und der Grundwerte und Rechte unserer Verfassung: die Religionsfreiheit, die ihnen die ungestörte Ausübung ihres Glaubens garantiert ebenso wie die Gleichheit von Mann und Frau; das Verbot der Diskriminierung auf Grund von Herkunft, Religion und Geschlecht, das ihnen die Teilhabe am beruflichen, gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Leben erleichtert ebenso wie die Garantie der individuellen Freiheit und Entscheidung und sei es die, eine andere Religion anzunehmen.
Der internationale Terrorismus und Fundamentalismus, der sich ein islamistisches Gewand gibt, setzt auch die in Deutschland lebenden Muslime großem Druck und pauschalem Verdacht aus. Das ist ungerecht, unangebracht und unangemessen. Für die überwältigende Mehrheit der Muslime, ihre Friedfertigkeit, ihre hoch entwickelte Zivilität, ihre Abscheu gegen Mord und Terrorismus kann man getrost die Hand ins Feuer legen.
Im Alltag mancher muslimischer Familien existieren jedoch noch Verhaltensweisen, die - wenn man unsere Verfassung ernst nimmt - nicht akzeptabel sind. Beispiele, die insbesondere in vielen Schulen erhebliche Probleme bereiten, sind die Versuche, Mädchen von Bildungsgängen, vom Sportunterricht und vom sozialen Leben an der Schule auszuschließen. Die allgemeine Schulpflicht gilt aber auch für muslimische Mädchen und das Grundgesetz verpflichtet, allen hier lebenden Menschen gleichwertige Teilnahme am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben zu gewährleisten.
Lassen Sie uns 2005 gemeinsam zu einem Jahr machen, in dem wir dem Ziel näher kommen, ein Land des friedlichen Zusammenlebens von Menschen unterschiedlicher Herkunft und Religion zu sein.
Ich wünsche Ihnen allen ein gutes neues Jahr 2005!