Stimato Senatore Quagliarello,
Signore e Signori,
Vi ringrazio cordialmente per l’invito e per l’opportunitá di fare luce sul tema “identità e integrazione - due concetti fondamentali dell’Europa di oggi.
”Già dopo queste poche parole, sicuro della Vostra comprensione, continuerò la relazione nella mia lingue-madre – in fondo l’identità linguistica significa anche rispetto per il Paese ospitante e la sua lingua…
Meine Damen und Herren,
Herr Botschafter,
meine Herren Senatoren,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
vor fast genau 200 Jahren, am 6. August 1806, hat der österreichische Kaiser Franz II. unter dem Eindruck des Siegeszuges Napoleons durch Europa gegen die immerhin beachtliche Allianz von Österreich, Russland und England die deutsche Kaiserkrone niedergelegt. Damit war das jahrhundertealte Heilige Römische Reich deutscher Nation zu Ende. Ein Reich, das bei genauem Hinsehen weder heilig noch römisch noch deutsch war, aber über einen beachtlich langen Zeitraum eine jedenfalls supranationale Verfassung nicht Europas, aber in Europa dargestellt hat.
Von europäischer Identität oder europäischer Integration war damals keine Rede. Als dieses Reich ruhmlos, lautlos, beinahe unauffällig an sein Ende gekommen war, ging eine Epoche zu Ende und es begann eine neue Epoche in Europa, die durch das vitale Bedürfnis der Gründung von Nationalstaaten gekennzeichnet war. In dieser Phase haben damals sowohl Deutschland wie Italien ihre nationale Einheit gefunden. Die Epoche der Gründung von Nationalstaaten in Europa hat manche alten Probleme dieses Kontinentes gelöst und dabei gleichzeitig manche neuen Probleme geschaffen, bis sich schließlich aus der Eigendynamik kraftstrotzender rivalisierender Nationalstaaten multipliziert mit dem Größenwahn von Diktatoren in zwei Weltkriegen, die von Europa ihren Ausgang nahmen, der Kontinent beinahe selbst in die Luft gesprengt hat. Danach hat es nach meiner Beurteilung nur einen ernstzunehmenden neuen Anlauf gegeben, aus den Erfahrungen einer gemeinsamen Geschichte Schlussfolgerungen für eine veränderte Zukunft zu ziehen. Und das sind die Römischen Verträge, deren 50-Jahr-Feier wir im nächsten Jahr begehen werden.
Die Römischen Verträge wurden abgeschlossen zwischen sechs Gründungsstaaten, unter ihnen Deutschland wie Italien, von denen sich damals niemand hätte vorstellen können, dass 50 Jahre danach dieser Gemeinschaft 25, zum 1. Januar nächsten Jahres wohl 27 Mitgliedsstaaten angehören würden, und dass die Teilung Europas, die eine der Anlässe und Gründe für die Bildung dieser Gemeinschaft war, 50 Jahre danach überwunden sein könnte. 50 Jahre Europäische Gemeinschaft lesen sich auf den ersten oberflächlichen Blick wie eine einzige ununterbrochene Erfolgsgeschichte. Tatsächlich hat es eine vergleichbar lange Zeit in der europäischen Geschichte nicht gegeben, die für alle beteiligten Länder eine Periode des Friedens, der Freiheit, der Entwicklung eines gemeinsamen Marktes und schließlich der Einführung einer gemeinsamen Währung, dem fast klassischen Ausdruck nationalstaatlicher Souveränität, geworden ist. All diese Errungenschaften erscheinen uns heute geradezu als Selbstverständlichkeit. Es gehört überhaupt zu den merkwürdigen Begabungen der Europäer, Ereignisse, die man jahrzehntelang für ausgeschlossen gehalten hat, in dem Augenblick, wo sie dennoch eintreten, für eine schiere Selbstverständlichkeit zu halten. Die Deutschen haben diese Begabung zu einer besonderen Perfektion entwickelt, die man nicht zuletzt im Umgang mit der Wiederherstellung der Deutschen Einheit in einer besonders deprimierenden Weise beobachten kann. Obwohl, vielleicht auch weil die Europäische Gemeinschaft eine 50-jährige Erfolgsgeschichte war, stellen wir heute fest, dass die Begeisterung der Menschen für diese Gemeinschaft kontinuierlich zurückgeht - übrigens in den neuen Beitrittsländern dramatisch schneller und deutlicher als in den alten. In Polen und Tschechien haben Parteien mit dezidiert eurokritischen Positionen unmittelbar nach Beitritt zu dieser Gemeinschaft Wahlkämpfe geführt und gewonnen. Von ihnen besondere Initiativen für die weitere Entwicklung dieser Gemeinschaft zu erwarten, lässt sich kaum anders als reines Wunschdenken charakterisieren.
Wir befinden uns unmittelbar vor dem 50. Jubiläum der Europäischen Gemeinschaft in einer Situation, in der die Gemeinschaft nie so groß war wie jetzt und selten so schwach wie gegenwärtig. Dass jedenfalls dem Zuwachs an Größe kein entsprechender Zuwachs an Stärke gegenübersteht, ist schwerlich zu übersehen. Das vorläufige Scheitern des Verfassungsvertrages ist nach meiner Überzeugung Ausdruck, aber nicht Kern der Krise, in der sich die Europäische Gemeinschaft gegenwärtig befindet. Nach meiner Beurteilung gibt es mindestens drei gravierende Fehler, die in unterschiedlichen Verantwortlichkeiten im Zusammenhang mit diesem Verfassungswerk unterlaufen sind und das Scheitern des Ratifizierungsprozesses erklären helfen.
Der erste vordergründige Aspekt ist die Durchführung unnötiger Referenden in zwei Gründungsstaaten der Europäischen Gemeinschaft, Frankreich und den Niederlanden, die weder allein aus europapolitischen Gründen initiiert noch allein aus europapolitischen Gründen gescheitert sind.
Der zweite aus meiner Sicht beachtliche Grund ist ein bemerkenswerter Vollständigkeitswahn, der bei der Komplettierung dieses Textes wie in einem wechselseitigen Überbietungswettbewerb zu beobachten war und der am Ende die Bürger Europas eher mit einer Enzyklopädie europäischer Richtlinien konfrontiert hat als mit einer Magna Charta dessen, was wir uns unter dieser Gemeinschaft vorstellen.
Und drittens schließlich hat man ausgerechnet dieses enzyklopädische Kompendium mit dem Anspruch einer Verfassung beklebt, ein Anspruch, dem dieser Text eben nicht genügt, weder aus formellen noch aus materiellen Gründen. In dieser Diskrepanz zwischen Volumen und Substanz war die Skepsis geradezu programmiert, die sich beinahe folgerichtig in gescheiterten Referenden niedergeschlagen hat.
Nun haben sich alle Regierungen für die beteiligten Mitgliedsstaaten eine Denkpause verordnet, die auch offenkundig dringend nötig ist. Die Frage ist, ob und welche Ergebnisse wir aus dieser Denkpause gewinnen.
Senator Pera hat in seinem mich sehr beeindruckenden, gemeinsam mit dem damaligen Kardinal Ratzinger herausgegebenen Buch „Ohne Wurzeln. Die Krise der Kultur Europas“ vom Unbehagen Europas geschrieben, „das reich, aber unsicher und unfähig ist, das Problem seiner eigenen Identität und Zukunft zu lösen. Im gleichen Kontext haben sie vom „Überdruss des Westens an seinen eigenen Prinzipien und Werten“ gesprochen.
Ich fürchte, der Befund ist richtig. Und wenn ich vorhin im Blick auf den Verfassungsvertrag davon gesprochen habe, dass für mich das Scheitern dieses Vertrages nicht der Kern, sondern der Ausdruck der Krise ist, dann deswegen, weil ich den Kern eher dort vermute, wo Senator Pera ihn beschrieben hat: in einer beachtlichen Verunsicherung Europas mit Blick auf seine eigene Identität.
Deswegen ist keine andere Frage dringlicher als die Klärung genau dieser Frage: Welches Europa wollen wir eigentlich? Haben wir überhaupt eine gemeinsame Vorstellung von Europa? Wollen wir überhaupt eine gemeinsame Vorstellung von Europa zur Grundlage einer gemeinsamen Verfassung machen? Und wächst eigentlich die Aussicht auf Gemeinsamkeit nicht nur in Regeln, sondern in Überzeugungen mit der Anzahl der Teilnehmer, die in der gleichen Organisation beteiligt werden sollen und/oder wollen?
Ich persönlich vermute, dass in ein paar Jahren sich die Historiker intensiv mit der Frage beschäftigen und möglicherweise auch heftig darüber streiten werden, ob es vielleicht der größte einzelne, dann allerdings historische Fehler der 50-jährigen Geschichte der Europäischen Gemeinschaft war, die Erweiterung der Gemeinschaft um neue Mitgliedsstaaten mit zeitlichem Vorrang vor der Vertiefung zu behandeln und damit im Ergebnis faktisch möglicherweise die Erweiterung der Vertiefung vorgezogen zu haben. Jedenfalls macht jeder nüchterne Blick auf die tatsächliche Verfassung dieser Gemeinschaft mit 25, demnächst 27 Mitgliedsstaaten offenkundig, dass die Aussicht auf Vertiefung, auf notwendige institutionelle Reformen zur Sicherung der Handlungsfähigkeit einer solchen Gemeinschaft, wenn sie denn mehr sein will als ein Club, ein politischer Verein mit der zunehmenden Zahl der Mitgliedsstaaten dramatisch gesunken ist. Dies liegt übrigens keineswegs nur an der Anzahl der weiteren Mitgliedsstaaten, sondern an deren spezifischer historischer Erfahrung, die nicht identisch ist mit der Erfahrung, die die Gründungsstaaten und eine Reihe später hinzugekommener westeuropäischer Länder veranlasst haben, diese Gemeinschaft zu bilden. Und auch wenn ich weiß, dass historische Vergleiche selten zutreffen, erlaube ich mir ohne jeden Anspruch auf Beweisführung schlicht als Illustration den Hinweis, dass auch das römische Weltreich am Ende nicht an rapider Schrumpfung zugrunde gegangen ist, sondern an der Eigendynamik eines Wachstums, das nicht mehr zu beherrschen war.
Europa muss nach meiner festen Überzeugung eine Reihe von Fragen dringlich beantworten, die wir eine Reihe von Jahren aus mehr oder weniger guten Gründen vertagt, nicht gestellt, jedenfalls nicht beantwortet haben. Dazu gehört ganz wesentlich auch die Frage, ob Europa eigentlich Grenzen hat und, falls ja, wofür ja einiges spricht, wo diese Grenzen liegen. Allein unter diesem Gesichtspunkt, aber keineswegs nur unter diesem Gesichtspunkt, wird die Entscheidung über eine Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Gemeinschaft eine Schlüsselfrage für die faktische Beantwortung der Frage, was wir uns unter Europa vorstellen. Wenn die Neigung zur Vertagung der Fragen nach der inneren Konsistenz, nach der Identität der Europäischen Gemeinschaft andauert, ersetzt am Ende möglicherweise die Beantwortung der Beitrittsfrage der Türkei die vorherige Beantwortung dieser Frage. Jedenfalls kann doch kein ernsthafter Zweifel daran bestehen, dass sich mit der positiven oder negativen Entscheidung der Mitgliedschaft der Türkei sowohl quantitativ wie qualitativ jeweils völlig andere Perspektiven der Europäischen Gemeinschaft eröffnen. Das hat was mit der Anzahl weiterer Mitgliedsstaaten zu tun, denen man nach meiner Überzeugung einen Beitritt ernstlich nicht verwehren könnte, weder unter geografischen noch unter historischen noch unter kulturellen Gesichtspunkten, wenn die Türkei ein ernsthafter Beitrittskandidat ist, und schließt natürlich die zentrale Frage der Identität, der kulturellen Identität Europas ein. Etwas akzentuiert formuliert: Mit dieser Frage ist im Ergebnis auch die Antwort verbunden, ob Europa tatsächlich eine politische Gemeinschaft wird, die auf der Basis gemeinsamer Überzeugungen gemeinsame Interessen wahrnimmt und gemeinsame Herausforderungen bewältigt, oder ob es eine kleinere, schickere Ausgabe der Vereinten Nationen wird, mit nicht ganz so vielen Mitgliedsstaaten wie die UN, aber operativ ähnlich bedeutungslos.
Wir müssen uns nicht nur wegen des Jubiläums - aber allein dieses ist ein hinreichend guter Anlass - auf die geistigen Grundlagen besinnen, die der Gründung dieser Europäischen Gemeinschaft zugrunde gelegen haben und von denen wir wissen müssen, ob wir sie als Grundlage dieser Gemeinschaft für die Zukunft reaktivieren wollen oder ob wir sie mit den angedeuteten Konsequenzen für den weiteren Entwicklungsprozess dieser Gemeinschaft für verzichtbar halten.
Ich will dazu ein paar Hinweise geben, um zu verdeutlichen, warum mir die Revitalisierung der kulturellen Grundlagen der Europäischen Gemeinschaft so wichtig erscheint und warum ich sie für die Schlüsselfrage der Zukunft dieses Kontinents halte. Nicht nur für Europa, sondern auch für ihre einzelnen demokratisch verfassten Nationalstaaten ist immer wieder die Frage gestellt worden, ob der moderne demokratische Verfassungsstaat sich selbst garantieren kann oder ob er auf normativen Voraussetzungen beruht, die er selbst nicht schaffen kann, ohne die er seine Existenz aber nicht sichern kann. Wo immer diese Frage ernsthaft erörtert worden ist, ist sie regelmäßig mit der Einsicht beantwortet worden, dass der säkulare Staat seine normativen Grundlagen nicht aus eigenen Ressourcen schafft und deswegen auch nicht selbst erneuern könne, sondern auf weltanschauliche, auf religiöse, jedenfalls auf kollektiv verbindliche ethische Überlieferungen angewiesen sei. Wenn man diese in verschiedenen Ländern, in Deutschland, in Italien, in Frankreich auch in der wissenschaftlichen Literatur anzutreffende Überzeugung vor Augen hält, dann ist die öffentliche Diskussion in unseren Ländern und schon gar in der europäischen Öffentlichkeit, die es kaum gibt, zu diesem Thema auffällig mutlos. Sie ist gekennzeichnet durch die möglichst sorgfältige Vermeidung von Festlegungen. Und dieses Bedürfnis, Festlegungen zu vermeiden, korrespondiert mit dem ausdrücklichen, oft vordergründigen Bekenntnis zur Multikulturalität, Dialogbereitschaft und Toleranz, was immer das dann im Einzelnen auch bedeuten mag.
Dabei setzt im übrigen die Bereitschaft zum Dialog als Mindestvoraussetzung einen eigenen Standpunkt voraus. Gelegentlich kann man sich aber nur schwer des Eindrucks erwehren, dass die Forderung nach Dialog immer häufiger als Ersatz für den eigenen Standpunkt vorgetragen wird. Wir müssen nach meiner festen Überzeugung aufpassen, dass wir nicht einer der beiden großen Übertreibungen zum Opfer fallen, die gegenwärtig weltweit zu beobachten sind. Zum einen ist das die Anmaßung, religiöse Überzeugungen mit fundamentalistischem Eifer gleichzeitig als staatliche verbindliche Vorgaben allgemeinverbindlich durchsetzen zu wollen - ein großer globaler Trend, mit dem wir seit Jahren konfrontiert sind. Zum anderen ist es die Leichtfertigkeit, religiöse Überzeugungen für irrrelevant, bedeutungslos oder belanglos zu halten. Der zweite Irrtum ist nicht weniger gefährlich als der erste. Manche Intellektuelle in Europa haben zu lange in richtiger Distanzierung gegenüber der ersten die zweite Übertreibung gefordert oder gefördert. Vielleicht hängt das auch mit der doppelten Verunsicherung des modernen Menschen zusammen, die sich zugleich in der Sehnsucht nach allgemeinverbindlichen Werten und in dem Unwillen zur Bindung ausdrückt. Wie schön wäre es, wenn irgendetwas ein für allemal wahr und richtig wäre, und um wie viel noch schöner wäre es, wenn man sich nicht darauf festlegen muss.
Allerdings ist die Fähigkeit zur Bindung nicht nur Ausdruck von Freiheit, wahrscheinlich ist sie auch Voraussetzung für Freiheit, so wie die Bereitschaft zum Konsens Voraussetzung der Konfliktfähigkeit einer Gesellschaft ist. Hier liegt eines der großen Themen, die wir zu lange in der Politik vernachlässigt haben. Gerade wenn man eine liberale Gesellschaft will, wenn man individuelle Freiheit will, nicht nur als rhetorische Floskel, sondern als alltägliche Realität, dann bedeutet das Bekenntnis zur individuellen Freiheit das Bekenntnis zur Unvermeidlichkeit von Konflikten. Konflikte kann sich aber eine Gesellschaft überhaupt nur erlauben, wenn es das Mindestmaß an Gemeinsamkeit gibt, das sicherstellt, dass eine Gesellschaft mit ihren Konflikten friedlich fertigwerden kann. Ohne ein Mindestmaß an Gemeinsamkeit erträgt eine Gesellschaft keine Vielfalt. Deswegen ist dies eine der unsinnigen, wenn auch weit verbreiteten Scheinalternativen, die in dieser Diskussion immer wieder vorgetragen werden, als ginge es um Vielfalt oder Gemeinsamkeit, um Pluralität oder Identität. Jeder aufgeklärte Blick auf den komplizierten Zusammenhang macht deutlich, das eine ist ohne das andere nicht zu haben. Integration setzt Identität voraus. Übrigens schon als individueller Vorgang, als sozialer, als gesamtgesellschaftlicher allemal. Wir machen in Deutschland nun seit einer Reihe von Jahren außerordentlich schwierige Erfahrungen mit den Integrationsproblemen, die sich aus der Migration von Menschen aus anderen kulturellen Kontexten ergeben. Und wir haben - übrigens heftig unterstützt durch moderne Medien, die gewissermaßen die Abschottung der neuen Heimat gegenüber der Herkunftswelt perfekt machen - ganze Stadtteile in Deutschland, in denen es die viel beschriebenen Parallelgesellschaften gibt, in denen die Integration schon deswegen nicht mehr scheitern kann, weil sie gar nicht mehr versucht wird. Da leben Menschen nebeneinander in völlig abgeschlossenen Kontexten, da kann Integration nicht stattfinden, weil sie weder auf der einen noch auf der anderen Seite ernsthaft versucht wird, weil es das Mindestmaß an Gemeinsamkeiten nicht gibt, das Voraussetzung für Verständigung ist und schon gar die Mindestvoraussetzung für Integration.
Wenn ich auch mit Blick auf den mehrfach angesprochenen Europäischen Verfassungsvertrag für die Revitalisierung der kulturellen Grundlagen dieser Europäischen Gemeinschaft werbe, dann deswegen, weil Verfassungen, gründlich betrachtet, in ihrem Kern kulturelle Setzungen sind und nichts anderes.
Verfassungen fallen nicht vom Himmel. Sie werden auch nicht im Himmel konserviert, wenn auf Erden die Zeiten turbulent geworden sind. Die Voraussetzung jeder Verfassung ist Kultur. Deswegen sind übrigens die Verfassungen auf der Welt so verschieden, wie sie sind. Verfassungen sind immer der Ausdruck der historischen Erfahrungen, die ein Land mit sich selbst gemacht hat. Sie sind Ausdruck der Traditionen, die es in einem Land gibt. Sie sind Ausdruck der Überzeugungen, die in einem Volk über Generationen gewachsen sind. Sie sind Ausdruck der religiösen Überzeugungen, die es in einem solchen Gebiet gibt oder nicht gibt. Und sie haben, meine Damen und Herren, so lange Bestand, wie diese kulturellen Grundlagen Bestand haben. Die Vorstellung, eine Verfassung könne als freischwebender Überbau unabhängig von der kulturellen Basis, aus der heraus sie entstanden ist, ihre Existenz behaupten, läuft auf die naive Vorstellung hinaus, nun müsse man sich um die Wurzel nicht mehr kümmern, nachdem die Bäume so prächtig gediehen sind. Sie gedeihen aber nur so lange, wie die Wurzeln intakt sind.
Wenn ein Europa der Vielfalt nationale Identitäten bewahren und dennoch eine kollektive Identität entwickeln soll, braucht es eine politische Leitidee, ein gemeinsames Fundament von Werten und von Überzeugungen. Und eine solche europäische Leitidee kann sich nur beziehen auf gemeinsame kulturelle Wurzeln, auf eine gemeinsame Geschichte, auf gemeinsame religiöse Traditionen. Dieses vereinende Fundament bleibt konstitutiv für die europäische Identität. Jedenfalls für das Europa, das ich meine, wenn ich von Europa rede. Für mich ist Europa nicht eine geografische Bezeichnung. Vielleicht auch eine geografische Bezeichnung. Europa ist mehr als ein Zusammenschluss von Nationalstaaten, Europa ist mehr als ein Markt, Europa ist mehr als eine Wirtschaftsgemeinschaft, allemal mehr, als eine gemeinsame Milchpreisordnung, gemeinsam finanzierte Subventionen für Kohle, Stahl, Wein oder was auch immer. Europa ist eine Idee, Europa ist eine Gesinnung, Europa ist eine Sichtweise vom Menschen, Europa ist eine Vorstellung vom Anspruch der Menschen auf Teilhabe an ihren eigenen Angelegenheiten. Europa ist eine Vorstellung von der Selbstverantwortung des Menschen und von der Notwendigkeit und Möglichkeit der staatlichen Organisation des Umgangs selbstverantwortlicher Menschen miteinander. Nur ein solches Europa rechtfertigt die Anstrengungen, die der Zusammenschluss von Nationalstaaten mit einer jeweils ehrwürdigen jahrhundertealten Geschichte unvermeidlich macht. Ich fürchte, dass auch in der Außenwahrnehmung der Europäischen Gemeinschaft bei vielen anderen Ländern der Eindruck entstanden ist, diese Union sei sich nicht gewiss über das, was sie will, was sie sein will.
Das ist wieder dieses Unbehagen, von dem Senator Pera geschrieben hat. Auch der Überdruss an den eigenen Werten und Überzeugungen, den man sich nicht mehr offensiv vorzutragen traut, und schon gar die Zögerlichkeit, Bindungen zu akzeptieren. Und Bindungen nicht nur als Zumutung zu begreifen, sondern als Voraussetzung für die Verortung in einer Welt, in der man seinen Platz braucht, schon gar dann, wenn sich die Verhältnisse um einen herum mit einer immer größeren Geschwindigkeit verändern.
Der verstorbene Papst Johannes Paul II. hat immer wieder in seinen Reden und Predigten darauf hingewiesen, „die Identität des europäischen Kontinents lässt sich ohne das Christentum nicht verstehen.“
Das ist wohl das Mindeste, was man offenkundig festhalten muss, dass sich die Geschichte dieses Kontinents ohne die Geschichte des Christentums nicht schreiben, nicht erzählen, nicht begreifen lässt. Die politisch spannendere Frage ist, ob dieser Zusammenhang nicht nur für das Verstehen nötig, sondern für die Identität erforderlich ist. Auch hier habe ich bei Herrn Kollegen Pera eine bemerkenswerte Formulierung gefunden, die ich gerne in einer leichten Variante vertreten möchte. Sie, Herr Pera, haben in Ihrem Buch geschrieben: „Das Christentum ist von seinem Wesen her derart mit dem Westen verbunden, dass ein Rückzug verheerende Konsequenzen hätte.“
Wäre der Satz nicht immer noch richtig, wenn man ihn wie folgt variierte: Der Westen ist von seinem Wesen her derart mit dem Christentum verbunden, dass die Auflösung dieser Verbindung für beide verheerende Konsequenzen haben könnte?!
Ich ahne, dass dies keine massenmedial populären Gedanken sind. Aber ich habe persönlich nicht den geringsten Zweifel daran, dass es die zentralen Fragen sind, die wir nicht länger vertagen dürfen, die wir beantworten müssen, übrigens einschließlich der Souveränität, unterschiedliche denkbare Antworten als zulässige Antworten zu ertragen. Aber wir dürfen die Beantwortung dieser Fragen nicht länger verweigern. Wir dürfen nicht länger uns und anderen einreden wollen, das kläre sich von selbst. Ich habe eine bestimmte Ahnung, wie die Beantwortung der Frage aussähe, die anstelle einer klaren Positionierung sich in dieser Gemeinschaft von 25, demnächst 27, in absehbarer Zukunft über 30 Mitgliedsstaaten ereignen würde, wenn sie nicht bewusst gegeben wird.
Papst Benedikt, ein Papst, der aus Deutschland kommt und der sowohl aufgrund seiner Laufbahn als Priester, als Bischof, als Wissenschaftler, als Theologe wie aufgrund seiner Teilhabe an den Erfahrungen eines Landes, das besonders bittere Erfahrung mit dem Verlust des Zusammenhanges zwischen politischen Regeln und kulturellen Überzeugungen gemacht hat, hat vor und nach der Übernahme des Pontifikats immer wieder auch und gerade mit Blick auf den Europäischen Verfassungsvertrag auf dieses offenkundige Defizit hingewiesen. Die Unbedingtheit, beschreibt er in einer Rede, die er vor dem italienischen Senat vor zwei Jahren gehalten hat, die Unbedingtheit, mit der Menschenwürde und Menschenrechte als Werte proklamiert werden, die jeder staatlichen Rechtsetzung vorangehen, kodifizieren ganz wesentlich christliches Erbe, dass gleichwohl nur verschämt neben anderen kulturellen Traditionen als Fundament reklamiert und schon gar nicht für allgemein verbindlich erklärt wird. Der Zustand der mentalen Verdrängung von Zusammenhängen findet seinen schon gar nicht mehr als Problem wahrgenommenen Ausdruck in der Gleichgültigkeit, christliche Wertüberzeugungen als selbstverständliche Prinzipien einer europäischen Gemeinschaft zu reklamieren, ohne sich zu trauen, den Zusammenhang als solchen kenntlich zu machen. Im Gegenteil: Die sorgfältige Verschleierung des Zusammenhangs ist bei genauem Hinsehen eine der Voraussetzungen für die Vereinbarkeit dieses Verfassungstextes gewesen. Papst Benedikt schreibt, „Europa braucht aber eine neue, gewiss kritische und demütige Annahme seiner selbst, wenn es überleben will“.
Europa braucht eine gewiss kritische und demütige Annahme seiner selbst, wenn es überleben will. Dass Europa überleben will, daran habe ich keinen Zweifel. Ob Europa sich hinreichend darüber im Klaren ist, welche Voraussetzungen sein Überleben hat, daran sind Zweifel erlaubt. Diese Zweifel auszuräumen, ist unsere gemeinsame Aufgabe.