Navigationspfad: Startseite > Dokumente > Archive > 2009 > Florett und Holzhammer
60 Jahre Debatten im Deutschen Bundestag - das heißt auch: 60 Jahre Schimpfen, Sticheln und Stänkern. Empfindlich waren die Abgeordneten dabei noch nie: Seit Beginn der Bundesrepublik haben sie immer wieder zum rhetorischen Rundumschlag ausgeholt, um der eigenen Meinung Gewicht zu verleihen und den politischen Gegner zu übertrumpfen. Verbale Ausbrüche gehören zum parlamentarischen Alltag. Doch alltäglich ist die Wortwahl der Volksvertreter keineswegs. Im Gegenteil: Der frühere Leitende Redakteur der Wochenzeitung "Das Parlament", Günter Pursch, hat Geistesblitze und Stilblüten von Parlamentariern über die Jahrzehnte gesammelt, dokumentiert und schließlich als "Parlamentarische Schimpfbücher" herausgegeben.
Ein Glück: Die sprachlichen "Verirrungen und Verwirrungen" der Politiker sind schlichtweg zu schön, um vergessen zu werden. Insbesondere, weil die Bundestagsabgeordneten bisweilen einen sehr spielerischen Umgang mit der deutschen Sprache pflegten: So wurde etwa 1964 CSU-Innenminister Hermann Hörcherl vom damaligen SPD-Fraktionsvorsitzenden Herbert Wehner als "Mithörminister" tituliert, der Abgeordnete Jürgen Wohlrabe (CDU) als "Übelkrähe" und der Parlamentarische Geschäftsführer der Union, Philipp Jenninger, wurde gar als "Geschwätzführer" verunglimpft.
Das Spektrum des parlamentarischen Pöbelns ist breit: ungewöhnliche Tiervergleiche ("kläffender Goldhamster", "Schnarchhahn" oder "hospitalisiertes Nilpferd") gehören ebenso zum Vokabular wie historische Analogien ("roter Faschist", "Mini-Goebbels" oder "Obernazi").
Auch Drohungen und Machtworte ("Von mir hätten Sie rechts und links ein paar hingekriegt", "Halten Sie doch die Schnauze") sowie schlüpfrige Sticheleien ("Sie denken wieder an den G-Punkt oder irgendetwas Ähnliches!", "Schlappschwanz" oder "Sie Lüstling!") hat Pursch im stenographischen Wortprotokoll des Bundestages aufgespürt, das in den vergangenen 60 Jahren Bundestagsgeschichte auf ganze 240 000.Seiten angewachsen ist.
Ein Meister solcher Verbalattacken war Herbert Wehner. Der in der eigenen Partei als "Zuchtmeister" bekannte SPD-Politiker konnte rhetorisch Florett und Degen unterscheiden, scheute sich aber auch nicht, den verbalen Holzhammer zu nutzen: "Sie sind ein Schwein, wissen Sie das?" fragte Wehner so etwa 1974 den CDU-Politiker Wohlrabe.
Als Freund der gepflegten Beleidigung beliebte es ihm aber auch, den politischen Gegner mit eigenen Wortschöpfungen wie "Düffeldoffel" zu beschimpfen. "Wehner konnte wirklich die ganze Klaviatur der politischen Rhetorik benutzen", sagt Günter Pursch anerkennend.
Das blieb auch den Zeitgenossen nicht verborgen: So ärgerte sich etwa Karl Carstens (CDU), späterer Bundespräsident, in seiner Zeit als Unionsfraktionschef zwischen 1973 und 1976, maßlos über den "größten Schimpfbold im ganzen Bundestag".
Doch wer glaubt, Wehner sei einfach nur ein Choleriker gewesen, der das Pöbeln und Poltern als emotionales Ventil nutzte, der irrt: "Für ihn war der verbale Ausbruch Mittel der Politik", weiß Pursch. Wehner habe das Schimpfen durchaus kalkuliert eingesetzt. "Er konnte so alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen, gerade, wenn es der SPD nicht gut ging. Dann war die Auseinandersetzung um die Sache weg, und alles kümmerte sich nur noch um ihn."
Die von Pursch in seinem "Schimpfbuch" akribisch zusammengetragenen Tiraden der Volksvertreter mögen - gerade mit Abstand betrachtet - amüsant sein. Im Bundestag jedoch stießen (und stoßen) sie selten auf Gegenliebe. Darüber hinaus muss ein Schimpfer bis heute mit Konsequenzen rechnen, wenn er in der parlamentarischen Debatte allzu sehr über die Stränge schlägt.
Was sich verbal gehört und was nicht, liegt im Ermessen einer Person: der des Bundestagspräsidenten. Was er als "unparlamentarisch" empfindet, kann mit einem "Ordndungsruf" geahndet werden. Verwarnt wird nur zweimal, beim dritten Ordnungsruf gibt es ähnlich wie im Fußball eine Art "Platzverweis": Der Abgeordnete wird für die laufende Debatte des Plenums verwiesen. Eine solche Sperre kann mehre Tage andauern. Wenn in dieser Zeit wichtige Abstimmungen geplant sind, trifft das mitunter die ganze Fraktion.
Einer der legendärsten Ordnungsrufe lässt sich jedoch im Gegensatz zu vielen anderen in keinem Bundestagsprotokoll finden: Der Ausbruch des Grünen-Politikers Joschka Fischer "Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch, mit Verlaub!" erfolgte erst, als Bundestagspräsident Richard Stücklen (CSU) bereits wegen Tumults die Sitzung geschlossen hatte.
Rekordhalter in Sachen Ordnungsrufe ist übrigens - natürlich - Wehner: Er kam im Bundestag auf 57 Verwarnungen. In der ewigen Bestenliste landen direkt hinter ihm Heinz Renner (KPD) mit 47 und Ottmar Schreiner (SPD) mit 40 Ordnungsrufen. Letzterer habe es sich sogar zum "erklärten Ziel" gemacht, Wehner zu übertreffen, erzählt Pursch. Jedoch ohne Erfolg.
Der ebenfalls als Schimpfer berüchtigte Franz Josef Strauß (CSU) hat allerdings nur einen Ordnungsruf erhalten. Der Grund, so Pursch: "Der polterte eben mehr auf Parteiveranstaltungen als im Plenum."
Dass sich auf den Spitzenplätzen der Ordnungsruf-Statistik kaum noch aktive Politiker finden, hat ebenfalls seine Ursachen: Auch wenn es heute noch glänzende Rhetoriker gibt - Pursch zählt etwa den kürzlich aus dem Bundestag ausgeschiedenen Friedrich Merz (CDU) dazu, Guido Westerwelle (FDP), Peer Steinbrück (SPD), Jürgen Trittin (Bündnis 90/ Die Grünen) oder Gregor Gysi (Die Linke) - das parlamentarische Schimpfen scheint auf dem Rückzug zu sein. Heute werden weit weniger verbale Breitseiten verteilt als in der alten Bonner Republik.
Warum das so ist? Der Schimpf-Experte hat seine eigene Theorie: "Es liegt an den Plenarsälen. Im ersten Bundestag in Bonn war es recht dunkel und man saß nahe beieinander. Das nervte und führte schneller zu Zoff." Der Umzug in den durch Glas und Stahl atmosphärisch kühleren Bundestagsneubau hatte offenbar auch die Hitzköpfe abgekühlt, das Sticheln und Stänkern bald abgenommen.
Im noch größeren Reichstagsgebäude setzte sich diese Entwicklung fort. Wichtigstes Indiz für Purschs Annahme: Die Zahl der Ordnungsrufe ist tatsächlich stark zurückgegangen. "In der ersten Wahlperiode gab es noch 159 Ordnungsrufe, in der letzten nur fünf", so der Zitate-Sammler. Doch an einer neuen Sanftmut der Volksvertreter kann es nicht allein liegen: Seit den neunziger Jahren greifen die Bundestagspräsidenten auch nicht mehr so oft zum Mittel des Ordnungsrufs, hat Pursch bemerkt.
Und auch die Sprache hat sich mit den Jahren gewandelt: Worte wie "geil", die früher - wären sie einem Abgeordneten entschlüpft - mit Sicherheit geahndet wurden, sind heute längst kein Aufreger mehr. Einen Ordnungsruf kassiert allerdings in jedem Fall, wer einen NS-Vergleich bemüht. So passiert etwa Ulla Jelpke (Die Linke), als diese die Erfassung biometrischer Daten im Schengen-Raum 1993 in Beziehung zum "Arierausweis" der Nationalsozialisten setzte.
Doch trotz geringerer Ordnungsruf-Frequenz - die Befürchtung, dass es im Bundestag langweilig wird, scheint unnötig zu sein. Pursch sieht es gelassen: Je nach Regierungs- und Parlamentszusammensetzung habe es schon immer Schwankungen im verbalen Klima gegeben, so der langjährige Beobachter des parlamentarischen Geschehens.
Die Grünen etwa mischten das Hohe Haus 1983 bei ihrem Einzug besonders heftig auf. Mit der PDS, später Die Linke genannt, änderte sich 1990 der parlamentarische Stil erneut. Mit Beginn der neuen Legislaturperiode scheint der Ton wieder ruppiger zu werden.
"Die Große Koalition ist vorbei, die politischen Blöcke stoßen eben wieder aufeinander", erklärt Pursch. Ob das zu einer neuen Hochkonjunktur des Schimpfens führt, vermag er zwar nicht zu prognostizieren. "Doch sicher werden die Debatten wieder lebhafter", so der Schimpf-Experte, "und vielleicht fliegen dann auch die Verbalinjurien wieder etwas tiefer."