Navigationspfad: Startseite > Dokumente > Archive > 2010 > Neuordnung Arzneimittelmarkt
Geänderte Zulassungsverfahren und eine neue Preisgestaltung bei Arzneimitteln: So soll die gesetzliche Krankenversicherung künftig rund zwei Milliarden Euro einsparen. Der Bundestag hat am Donnerstag, 11. November 2010, dem ersten Teil der Gesundheitsreform zugestimmt und den Gesetzentwurf von CDU/CSU und FDP (17/2413) mit den Stimmen der Koalition angenommen. In der namentlichen Abstimmung votierten 314 Abgeordnete für, 269 gegen den Gesetzentwurf in der vom Gesundheitsausschuss geänderten Fassung (17/3698). Die Opposition bezeichnete das Gesetz als "Mogelpackung“. Den wortgleichen Gesetzentwurf der Bundesregierung (17/3116, 17/3211) erklärte der Bundestag für erledigt. Künftig können Pharmaunternehmen den Preis für neue Arzneimittel nur noch für ein Jahr selbst festlegen - vorausgesetzt, der Nachweis ist erbracht, dass das Medikament einen Zusatznutzen gegenüber bereits eingeführten Präparaten aufweist. Nur dann übernehmen die Krankenkassen bei Verschreibung des Medikaments durch den Arzt die Kosten.
Bereits heute führt das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte im Rahmen der Zulassung neuer Arzneimittel eine wissenschaftlich fundiert Nutzen-Risiko-Abwägung durch. Erst wenn am Ende umfangreicher Prüfungen feststeht, dass der Nutzen eines neuen Arzneimittels die möglichen Risiken deutlich übersteigt, erteilt das Bundesinstitut dem Medikament die Zulassung. So werden Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen zunächst unabhängig von sozialrechtlichen Fragestellungen allein anhand medizinisch-pharmakologischer Fragestellungen bewertet.
Um festzustellen, ob es einen Zusatznutzen gibt, müssen die Hersteller künftig dem Gemeinsamen Bundesausschuss ein Dossier vorlegen. Dieser erstellt - gegebenenfalls auf Grundlage weiterer Studien - eine Nutzenbewertung. Wird dabei ein Zusatznutzen festgestellt, müssen Unternehmen und Krankenkassen den Preis für das Medikament aushandeln. Kommt der Gemeinsame Bundesausschuss zum Schluss, dass das Arzneimittel keinen zusätzlichen Nutzen aufweist, erstatten die Krankenkassen nur den Preis vergleichbarer Medikamente.
Damit werde erstmals das bisherige Preismonopol der Pharmaunternehmen gebrochen, so Bundesgesundheitsminister Dr. Philipp Rösler (FDP). Man nehme die Pharmafirmen mit in die Verantwortung für die Konsolidierung der gesetzlichen Krankenversicherung und sichere den Zugang zur bestmöglichen Behandlung für alle Versicherten. Scheininnovationen, bei denen sich nur "Farbe und ein paar Moleküle“ verändern, würden so verhindert.
Für die Unionsfraktion sagte Johannes Singhammer (CDU/CSU), der bislang unaufhaltbar erschienene Anstieg der Arzneimittelkosten werde gestoppt; deshalb sei es ein "guter Tag für die 80 Millionen gesetzlich und privat Versicherten“. Die Ausgaben für Arzneimittel seien zwischen 1998 und 2009 von 18 auf über 32 Milliarden Euro gestiegen; dies habe so nicht weitergehen können. Die im Gesetz festgelegten Zwangsrabatte für Hersteller, Großhandel und Apotheken führten zu den dringend nötigen Einsparungen.
Auch sein Fraktionskollege Jens Spahn unterstrich, die Maßnahmen seien der "stärkste Eingriff in der Geschichte der Bundesrepublik in den Arzneimittelmarkt, den es je gegeben hat“. Die Koalition habe sich der schwierigen Aufgabe gestellt, sowohl Patienten schnell mit innovativen Medikamenten zu versorgen als auch sicherzustellen, dass die Unternehmen nicht einseitig die Preise bestimmen - die Opposition habe dies nicht getan.
Der gesundheitspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Prof. Dr. Karl Lauterbach, sagte, das Paket werde weder zu Kostenbegrenzungen noch zu qualitativen Verbesserungen führen, sondern mache "die Therapie unsicher“, weil nirgendwo verankert werde, dass die richtigen Arzneimittel eingesetzt würden. Bei aller Kritik räumte Lauterbach ein: Die Zwangsrabatte seien "brauchbar“.
Die Gesundheitsexpertin der Linksfraktion, Kathrin Vogler, sagte, es sei "schade“, dass von Röslers Plänen, die Pharmaindustrie "an die Kandare“ zu nehmen, "fast nichts übrig“ geblieben sei. Dass die Unternehmen die Preise für neue Medikamente im ersten Jahr selbst festlegen dürften, führe erst recht zu "Mondpreisen“.
Die von der Koalition eingeführte Regelung, nach der Medikamente gegen seltene Krankheiten - so genannte Orphan Drugs - von der Nutzenbewertung ausgeschlossen sind, wenn damit jährlich weniger als 50 Millionen Euro umgesetzt werden, sei falsch. Sie führe dazu, dass "potenziell nutzlose Mittel“ von den Krankenkassen bezahlt würden. Vogler beklagte, dass das wichtige Reformpaket von der Koalition "durchgepeitscht“ worden sei und es nicht ausreichend Zeit zur Beratung und Anhörung von Experten gegeben habe.
Auch die gesundheitspolitische Sprecherin der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Birgitt Bender, warf Rösler vor, seine ursprünglichen Pläne und das Gesetz fielen "weit auseinander“. Es sei falsch, wenn die Nutzenbewertung für neue Arzneimittel nur als "Preisfindungsinstrument“ genutzt werde. Bei Medikamenten, die sich bereits auf dem Markt befänden, werde die "Beweislast umgekehrt“. Der Gemeinsame Bundesausschuss müsse den Nachweis erbringen, dass Medikamente keinen Nutzen haben, um sie vom Markt nehmen zu können.
Nötig sei aber stattdessen eine Positivliste, in die Medikamente aufgenommen werden müssten, deren Nutzen belegt sei. Was Rösler vorgelegt habe, sei "alles keine Neuordnung, sondern Unordnung des Arzneimittelmarktes“.
Der Bundestag lehnte in zweiter Lesung einen Änderungsantrag der SPD (17/3702). Die Fraktion hatte fünf Streichungen im Gesetzentwurf verlangt. Unter anderem sollten Mehrkostenregelungen entfallen, weil sie die Kalkulationsgrundlage und Planungssicherheit von Kassen und Herstellern erschütterten und Rabattverträge unattraktiv machten.
Die Patienten seien kaum in der Lage, den Wahrheitsgehalt von Marketingaktivitäten der Pharmafirmen zu bewerten, so die SPD. Neben finanziellen Mehrkosten trügen die Patienten das Risiko, aus wirtschaftlichen Erwägungen weniger geeignete Arzneimittel zu erhalten.
In namentlicher Abstimmung lehnte der Bundestag einen Entschließungsantrag der SPD (17/3703) ab. 316 Abgeordnete lehnten ihn ab, 203 stimmten zu, 64 enthielten sich. Darin hatten die Sozialdemokraten festgestellt, dass der Gesetzentwurf das Wachstum der Arzneimittelausgaben in der gesetzlichen Krankenversicherung nicht bremsen und die Qualität der Versorgung verschlechtern werde. Die Regierung solle daher einen neuen Entwurf vorlegen.
Keine Mehrheit fand auch ein Entschließungsantrag von Bündnis 90/Die Grünen (17/3704), in dem unter anderem ein Früherkennungssystem verlangt wird, um sich frühzeitig auf medizinisch und ökonomisch relevante künftige Medikamente einstellen zu können.
Abgelehnt wurden ferner bei Enthaltung der Grünen ein Antrag der SPD (17/1201) für eine effektivere Arzneimittelversorgung; bei Enthaltung der Linksfraktion ein weiterer SPD-Antrag (17/1768), den öffentlichen Zugang zu Informationen über klinische Studien umfassend sicherzustellen; bei Enthaltung der SPD ein Antrag der Linksfraktion (17/893), eine Verpflichtung zur Registrierung aller klinischen Studien und zur Veröffentlichung aller Studienergebnisse einzuführen; bei Enthaltung der SPD ein weiterer Antrag der Linken (17/2322), die unabhängige Patientenberatung in ein Regelangebot zu überführen; bei Enthaltung der SPD ein dritter Antrag der Linken (17/2324) für ein modernes Preisbildungssystem bei Arzneimitteln; bei Enthaltung der SPD ein Antrag von Bündnis 90/Die Grünen (17/1418), die Qualität und Sicherheit der Arzneimittelversorgung zu verbessern, eine "Positivliste" einzuführen und die Arzneimittelpreise zu begrenzen; und bei Enthaltung von SPD und Linksfraktion ein weiterer Antrag der Grünen (17/1985), die unabhängige Patientenberatung auszubauen und in die Regelvesorgung zu überführen. (suk)