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Ex-Verfassungsgerichtspräsident Hans-Jürgen Papier, Joachim Hörster, Vorsitzender der Deutschen Vereinigung für Parlamentsfragen, Bundestagspräsident Norbert Lammert, Universitätspräsident Walter Schweitzer, Akademiedirektor Heinrich Oberreuter © DBT/Haas
"Was ist bloß mit uns los?", griff der Präsident des Deutschen Bundestages, Prof. Dr. Norbert Lammert, beim zehnten Passauer Symposium zum Parlamentarismus, diesmal zum Thema "Macht und Ohnmacht der Parlamente", in seinem Vortrag ein Wort des "Zeit"-Journalisten Bernd Ulrich auf. Ulrich hatte mit diesem Ausruf für einen kritischen Blick auf den Zustand des deutschen Parlamentarismus geworben - unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Medien. Erörtert wurde bei dieser zweitägigen Veranstaltung am 31. März und 1. April 2011 das Spannungsverhältnis von Demokratie und Medien; dabei wurde zugleich der langjährige Direktor der Akademie für Politische Bildung in Tutzing (Oberbayern), Prof. Dr. Dr. Heiner Oberreuter, in den Ruhestand verabschiedet. In seiner Ehrung zitierte Lammert Oberreuter mit dem Satz: "Die Massendemokratie bedarf der Massenmedien. Öffentlichkeit ist nicht mehr direkt herzustellen, sondern hängt von der Vermittlung der Medien ab."
Ihnen, den Medien, warf Lammert in seinem Beitrag "Parlament und Partizipation in der Mediendemokratie" eine grundsätzliche Fehlentwicklung vor: So habe Schnelligkeit "gnadenlos Vorrang vor Gründlichkeit, Bilder vor Texten, Schlagzeilen vor Analysen, Kürze vor Länge."
Geradezu notariell beglaubigt habe das vor einigen Jahren die Frankfurter Allgemeine Zeitung, als sie ihr Layout durch ein dreispaltiges Farbfoto auf der Titelseite "zulasten der Texte" veränderte.
Es sei inzwischen keine Zeit mehr vorhanden, "einen behaupteten Sachverhalt auf seine Richtigkeit zu überprüfen". Irgendjemand habe zu Guttenbergs "zahllose Vornamen" um eine Variante erweitert, und alle hätten abgeschrieben.
Dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen warf Lammert vor, es sei aus der Politikberichterstattung faktisch ausgetreten. Die Tagesschau sei noch Spitzenreiter, was den Anteil der politischen Nachrichten betreffe; der liege aber auch nur noch bei 48 Prozent. Dass der Nachrichtensender Phoenix auch nur deswegen gegründet worden sei, um in den öffentlich-rechtlichen Kanälen Zeit für Seifenopern oder königliche Hochzeiten zu gewinnen, habe man ihm deutlich zu verstehen gegeben.
Als er, Lammert, vorgeschlagen habe, stattdessen die konstituierende Sitzung des Parlaments zu übertragen, habe man ihm geantwortet, da sei "nichts Überraschendes zu erwarten".
Seine Frage, was denn "Überraschendes" von einer Hochzeit oder der 127. Folge einer Seifenoper zu erwarten sei, habe man dies als "Frechheit" gewertet. Lammert: "Genau so war es gemeint. Das war die Mindestreaktion eines Parlaments, das sich ernst nimmt."
Besonders wenig Gnade beim Parlamentspräsidenten finden Talkshows . Sie simulierten Politik. "Die Anwendung des Prinzips der Unterhaltung auf dem Sektor der Politik" - das ist es, was Lammert stört, und daher geißelte er die eigenen Kollegen, die sich regelmäßig in Talkshows als Unterhalter versuchten und "dabei kläglich scheitern".
Mit seiner Meinung, Politik sei nur der Pausenfüller für Werbeblöcke, stemmte sich Lammert gegen das sogenannte Politainment. Darin sieht er sich nicht allein, denn er outete die amerikanische Außenministerin Hillary Clinton als Al-Dschasira-Fan: "Bei dem arabischen Nachrichtensender habe man das Gefühl," zitiert Lammert Clinton, "echte Nachrichten rund um die Uhr statt einen Werbeblock nach dem anderen zu sehen."
Zur Bedeutung der relevanten Zielgruppe der elektronischen Medien (14 bis 49 Jahre) zitierte Lammert mit Vergnügen Thomas Gottschalk (60), der sich darüber ausgelalssen habe, dass ein desinteressierter 33-Jähriger zur relevanten Gruppe des Fernsehens gehöre, ein an der Politik interessierter 52-Jähriger dagegen nicht mehr.
Lammerts Fazit zum öffentlich-rechtlichen Fernsehen: "Wenn es uns nicht gelingt, das Fernsehen, das von steuerähnlichen Gebühren finanziert wird, davon zu überzeugen, seinem öffentlich-rechtlichen Auftrag besser nachzukommen, dann ist uns nicht zu helfen."
"Es ist eigentlich gar nicht zum Lachen" - so reagierte der Bundestagspräsident auf die Lacher, die auf seine mit beißender Schärfe vorgetragene Kritik folgten. Unterstützung fand Lammer beim Kommunikationswissenschaftler Siegfried Weischenberg: "Politik und Journalismus sind Teile eines selbstreferenziellen Systems geworden, das vor allem sich selbst in Gang hält."
Gerne griff der Parlamentspräsident auch auf Martin Walser zurück: "Die Medien dürfen alles und müssen nichts. Keine Macht ist so illegitim wie die der Medien."
Zuvor hatte Lammert sich mit den Thesen des scheidenden Direktors der Tutzinger Akademie, Professor Heinrich Oberreuter (68), auseinandergesetzt. Oberreuter hatte zum Thema der Mediendemokratie unter anderem ausgeführt: "Was … nicht in den Medien ist, wird nicht Teil der Alltagswirklichkeit des Publikums. Insofern ist auch über die Repräsentationsfunktion des modernen Parlamentarismus nachzudenken."
An anderer Stelle heißt es: "War ehedem die Öffentlichkeit der Parlamentsverhandlungen Sensation genug, muss heute Sensationelles im Parlament geschehen, damit es öffentlich wird. Die Politik selbst hat es mittlerweile gelernt, sich den Inszenierungsregeln speziell der elektronischen Medien anzupassen und sich ihrer zu bedienen. Aber gerade, wo es um Gesetzgebung und Legitimation geht, lässt sich Entscheidungspolitik nicht gänzlich durch Darstellungspolitik überwölben."
"Was ist bloß mit uns los?", fragte Lammert, damit die Ansichten Oberreuters unterstreichend. Und Oberreuter fügte ergänzend hinzu: "Was lassen wir eigentlich mit uns machen?" Die 110 Teilnehmer des Symposiums in der Passauer Universität dankten mit lebhaftem Beifall. (kt)