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Der Gesetzgeber, also der Bundestag, beschließt ein Gesetz. Jemand klagt gegen dieses Gesetz, geht „bis nach Karlsruhe“, und das Bundesverfassungsgericht stellt fest, dass der Bundestag ein wenigstens teilweise verfassungswidriges Gesetz beschlossen hat. So was kommt vor, wenn auch nicht in der Häufigkeit, wie das in der Öffentlichkeit vielleicht wahrgenommen wird. Genau genommen ist es in der 60-jährigen Geschichte des Bundesverfassungsgerichts bislang 630 Mal vorgekommen, bei rund 6.500 jährlichen Entscheidungen sind das pro Jahr durchschnittlich zehn Fälle.
Für den Präsidenten des Gerichts, Prof. Dr. Andreas Voßkuhle, bedeutet dies, dass „Karlsruhe“ Gesetze nur „verhältnismäßig selten“ für verfassungswidrig und damit für nichtig erklärt. Voßkuhle und Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert sind am Donnerstag, 17. November 2011, dem Spannungsverhältnis zwischen beiden Verfassungsorganen auf den Grund gegangen. Anlass war eine Podiumsdiskussion der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages in der Reihe W-Forum im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus, moderiert vor einer beachtlichen Zuhörerkulisse vom Leiter „Wissenschaft und Außenbeziehungen“ der Bundestagsverwaltung, Prof. Dr. Ulrich Schöler.
Darüber, dass ein solches Spannungsverhältnis existiert, war Einigkeit schnell hergestellt. Voßkuhle sprach von einer „unausweichlichen Verfassungslage“, ja vom „genetischen Code des Verfassungsstaates“. Das Gericht müsse auftragsgemäß kontrollieren, ob der Gesetzgeber die von der Verfassung gesetzten Grenzen eingehalten hat. Lammert pflichtete bei: „Es gibt ein Spannungsverhältnis, das aufgrund der Konstruktion unserer Verfassung unvermeidlich ist.“
Beide Redner richteten den Blick auf die aktuelle europäische Entwicklung und auf bedeutende Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom Lissabon-Urteil über das Rettungsschirm-Urteil, die Eilentscheidung zum Neuner-Gremium des Haushaltsausschusses und das jüngste Urteil zur Verfassungswidrigkeit der Fünf-Prozent-Sperrklausel bei den Europawahlen 2009.
Lammert registriert nach eigenen Worten bei den europäischen Nachbarn ein zunehmendes Interesse bis hin zur Besorgnis mit Blick auf diese deutsche Verfassungskonstruktion und das daraus resultierende Spannungsverhältnis. Kein anderes einzelnes Gericht und Parlament könnte einen ähnlich hohen Einfluss auf den europäischen Prozess haben wie das Bundesverfassungsgericht und der Bundestag, sagte Lammert. Neu sei aber auch, dass der „unbestrittene Führungsanspruch“ der Bundesregierung zunehmend der Rechtfertigung gegenüber Verfassungsnormen unterliege und sich gegenüber Beteiligungsansprüchen des Parlaments behaupten müsse.
Lammert widersprach der These Voßkuhles, dass Entscheidungen aus Karlsruhe ausschließlich juristisch und nicht politisch begründet seien. Die Weisheit dieser Entscheidungen zeige sich auch darin, dass „Sie eben politische Implikationen im Bewusstsein“ haben. Das Lissabon-Urteil sei für ihn eine der „genialsten Rechtsfiguren“, weil das Gericht zum Ergebnis gekommen sei, dass der völkerrechtliche Vertrag selbst der Prüfung standgehalten habe, nicht aber die Parlamentsbeteiligung bei der Übertragung von Souveränitätsrechten auf europäische Institutionen.
Kritischer äußerte sich Lammert zum Fünf-Prozent-Urteil, weil man bei der Abwägung zwischen dem Gleichheitsanspruch der Parteien und den Anforderungen an die Funktionsfähigkeit eines Parlaments auch zum Ergebnis hätte kommen können, dass die gewachsene Bedeutung des Europaparlaments zu einer wachsenden Sensibilisierung für die Funktionsbedingungen führt. „Die Weisheit in der Balance zwischen politischen und juristischen Abwägungen habe ich vermisst.“
Voßkuhle entgegnete, das Gericht habe versucht, das Europaparlament in seiner Eigenart zu begreifen und darin nicht einen „Bundestag auf EU-Ebene“ zu sehen. Das Gericht sei verwundert darüber, dass die Presse dies als Abwertung des Europaparlaments gesehen habe. Die Kernfrage bei der Urteilsfindung habe gelautet, ob die Beschneidung der Gleichheit der Wahl mit der Begründung, die Funktionsfähigkeit des Parlaments müsse gewahrt bleiben, gerechtfertigt gewesen sei.
Die Diskussion kulminierte in der zukunftsgerichteten Frage, wie sich diese deutsche Verfassungskonstruktion mit ihrem Spannungsverhältnis der Entwicklung hin zu einem europäischen Bundesstaat stellt. „Ein europäischer Bundesstat ist mit der bisherigen Verfassung nicht machbar“, sagte der Gerichtspräsident.
Der Weg dahin sei aber über Artikel 146 des Grundgesetzes und einer Mitwirkung des deutschen Volkes vorgezeichnet. Man brauche eine „hohe Legitimation“, um sagen zu können: „Wir haben es gewollt.“ Dies sei im Lissabon-Urteil sehr deutlich gesagt worden.
Lammert räumte ein, diesem Urteil habe er beim „zweiten Lesen“ mehr abgewinnen können als bei der ersten Lektüre. Das Gericht sage, es gebe einen „politisch vorstellbaren“ Punkt, wo eine wachsende Integration der EU in eine „neue Qualität“ umschlägt und sich die Frage stelle, ob das „im Kontext unserer Verfassung“ möglich wäre. Davon sei man aber „politisch noch gehörig weit entfernt“, meinte der Bundestagspräsident. Die Absicht, den qualitativen Sprung zum Bundesstaat vorzunehmen, lasse sich nirgendwo erkennen, wenn man angesichts der aktuellen Krise auch „im Trend“ zu weiteren Integrationsschritten bereit sei.
Für Voßkuhle ist ein europäischer Bundesstaat nicht in einer „visionären Ferne“. Die Abneigung dagegen habe viel damit zu tun, dass man sich ein Institutionengefüge nicht vorstellen könne, wie man das gewöhnt sei. „Wie könnte ein europäischer Bundesstaat gebaut sein, in dem sich ein solches Vertrauen entwickeln kann? Wir sollten nicht so weitermachen wie bisher, nicht so tun , als hätten wir viel Spielraum für weitere Integrationsschritte“, sagte er. Und: „Wir haben schon viel abgeschnitten von der nationalen Kompetenz.“
Lammert sieht derzeit kein Parlament in Europa, das bereit sein könnte, mit der Zeit der Nationalstaaten förmlich abzuschließen und die Überführung in einen Bundesstaat zu wagen. Und es gebe außer dem Bundesverfassungsgericht kein anderes Gericht in Europa, das, wenn die dortige Regierung einer solchen Transformation zustimmen würde, dies aufhalten könnte. Die Bereitschaft, den Nationalstaat aufzugeben, sei im übrigen Europa um Längen geringer ausgeprägt als in Deutschland.
Voßkuhle sprach dagegen von einer „schleichenden Transformation in einen europäischen Bundesstaat“. In der politischen Agenda werde behauptet, man sei noch weit davon entfernt, faktisch werde er aber vollzogen. „Es kann sein, dass wir von einem europäischen Bundesstaat in der Ferne reden und nicht erkennen, dass wir in einem europäischen Bundesstaat leben.“ Man müsse aufpassen, nicht einen schleichenden, unerkannten Prozess in Gang zu setzen, „den wir nicht kontrollieren können“, sagte der Gerichtspräsident. (vom)