Navigationspfad: Startseite > Dokumente > Archive > 2011 > Standort Deutschland
Einen heftigen Schlagabtausch über die Bewertung der Volksabstimmung zu Stuttgart 21 (S 21), die eine klare Mehrheit für den milliardenschweren unterirdischen Bahnhofsneubau erbrachte, haben sich am Mittwoch, 30. November 2011, Koalition und Opposition bei einer von Union und FDP beantragten Aktuellen Stunde geliefert. Thomas Strobl (CDU/CSU) lobte dieses Votum als „gutes Signal“ für den Standort Deutschland: Auch künftig könnten große Infrastrukturprojekte realisiert werden. Christian Lange (SPD) sah in dem Plebiszit eine „Ermutigung“ für den Ausbau der direkten Demokratie und für die Verankerung von Volksentscheiden im Grundgesetz.
Strobl interpretierte das Referendum zu S 21 als „Bestätigung für die parlamentarische Demokratie“. Das Volk habe gebilligt, was in diesem Fall bei einem jahrelangen parlamentarischen Prozess abgesegnet worden sei. Der CDU-Abgeordnete appellierte an die grün-rote Regierung in Baden-Württemberg, nun dazu beitragen, dass der neue Bahnhof schnell verwirklicht werden kann. „Querschüsse“ aus den Reihen der Grünen und der Landesregierung müssten beendet werden. Strobl rief Ministerpräsident Wilfried Kretschmann und Verkehrsminister Winfried Hermann auf, den Projektgegnern die neue Situation zu erklären: Die Grünen hätten die Leute „auf die Bäume gebracht und müssen sie nun wieder runterholen“.
Aus Sicht von Ulrich Lange (CDU/CSU) beginnt für die baden-württembergische Regierung bei der Umsetzung des Votums vom Sonntag der „echte Stresstest“. Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU) plädierte dafür, bei Infrastrukturvorhaben die Bürgerbeteiligung neu zu gestalten, da deren jetzige Form die Bevölkerung offenbar nicht erreiche. Dabei müsse auch eine Beschleunigung der Planungsverfahren angestrebt werden.
Der Ausgang des Plebiszits habe offenbart, dass der Stuttgarter Gemeinderat, der baden-württembergische Landtag und der Bundestag bei ihren Entscheidungen für S 21 den „richtigen Riecher hatten“, so Patrick Döring (FDP). Entgegen einem oft erweckten Eindruck stehe die Bevölkerung Neuem aufgeschlossen gegenüber.
Bei der Realisierung von S 21 sei nun „schnelles Verwaltungshandeln“ nötig, sagte der Liberale. Besonders Hermanns Verkehrsressort sei gefordert, die Umsetzung des Vorhabens zu beschleunigen. Zur „Projektförderung“ durch die Landesregierung reiche eine „konstruktiv-kritische Begleitung“ von S 21 nicht aus.
An die Adresse der Koalition gerichtet erklärte der SPD-Abgeordnete Christian Lange, wer nach der Volksabstimmung das Votum der „schweigenden Mehrheit“ lobe, müsse sich nun auch für mehr Volksentscheide einsetzen. Seine SPD-Kollegin Ute Kumpf warf Union und FDP vor, bei S 21 anfangs gegen ein Plebiszit zu dem Bahnhofsneubau gewesen zu sein, was auch für die Grünen gelte. Erst das Referendum habe eine Entscheidung für S 21 gebracht. Es habe sich gezeigt, so Kumpf, dass direkte Demokratie „nicht zwangläufig in einer Dagegen-Bewegung“ münden müsse.
Kumpfs Fraktionskollege Christian Lange sah nicht zuletzt in der hohen Wahlbeteiligung am Sonntag einen Grund, Plebiszite künftig in höherem Maße zu ermöglichen. Der SPD-Abgeordnete begrüßte die Absicht von Grün-Rot, im Südwesten die Quoren bei Volksabstimmungen senken zu wollen. Für Lange ist die Landesregierung verpflichtet, die Verwirklichung von S 21 zu unterstützen. Besonders der Verkehrsminister müsse sich daran messen lassen, Hermann stehe nun "unter unserer verschärften Beobachtung“. Der SPD-Parlamentarier hofft, dass das Ergebnis des Volksentscheids zur Befriedung des Konflikts um S 21 beiträgt.
Sabine Leidig von der Linksfraktion führte das Resultat des Plebiszits auch darauf zurück, dass die Grünen in Baden-Württemberg zu sehr auf den Koalitionsfrieden mit der SPD gesetzt hätten. Leidig gab sich überzeugt, dass das Bahnhofsprojekt zum „Scheitern verurteilt ist“. So sei die Kostenfrage immer noch ungelöst. Bereits jetzt sei der Kostendeckel von 4,5 Milliarden Euro gesprengt, so die Linkspolitikerin, letztlich würden es wohl über sieben Milliarden.
Leidig warnte, dass wegen der steigenden Kosten in Stuttgart „gigantische Bauruinen“ entstehen könnten. Sie betonte, entgegen dem Stresstest, dessen Ergebnisse falsch seien, werde die Leistungsfähigkeit von S 21 geringer sein als jene des heutigen Kopfbahnhofs. In Stuttgart werde für die Bahn ein „Nadelöhr“ geschaffen.
Die grün-rote Regierung habe dem Land mit dem Volksentscheid einen „großen Gefallen“ getan, erklärte Fritz Kuhn von Bündnis 90/Die Grünen. Jetzt sei der Konflikt um S 21 demokratisch entschieden. Die Grünen würden dieses Vorhaben nun umsetzen. Dazu gehöre aber auch, dass der Kostenrahmen von 4,5 Milliarden Euro gewahrt werde. Das Land Baden-Württemberg werde jedenfalls nicht mehr als höchstens 930 Millionen für dieses Projekt zuschießen.
Kuhn äußerte indes Zweifel, ob die Realisierung von S 21 gut für den Standort Deutschland sei. Schließlich könne sich erweisen, dass die in Stuttgart investierten Milliarden bei anderen Bahnvorhaben fehlen. (kos)