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III. Das kaiserliche Deutschland
4. Wechselnde Allianzen und persönliches Regiment
In den 1890er Jahren entwickelt sich das wilhelminische Deutschland zur stärksten Industrienation auf dem europäischen Kontinent. Die Politik allerdings prägt stärker noch als in der späten Bismarckzeit ein Kräfteparallelogramm einander widerstreitender Einzelinteressen, dem die Heterogenität jeder parlamentarischen Mehrheitsbildung entspricht. Industrielle und Großagrarier formieren sich in mächtigen Interessenverbänden, imperialistische Agitationsvereine gewinnen unmittelbaren politischen Einfluss, die Freien Gewerkschaften werden zum schlagkräftigen Arm der organisierten Arbeiterschaft. Am Hof, im Heer und in der Verwaltung bauen konservative Funktionseliten ihre Machtstellung aus.
An der latenten inneren Krise, die sich unter Wilhelm II. immer deutlicher abzeichnet, trägt der Reichstag zweifellos eine Mitschuld. Oft sind es allzu rasch feststehende "negative" Mehrheiten, allzu zweckbezogen operierende Interessenkartelle, die eine konstruktive Politik verhindern. Doch zeigt sich in derartigen Situationen auch das gestiegene Selbstbewusstsein eines Parlaments, über das sich die Reichsleitung - am Ende selbst in außenpolitischen Fragen - kaum mehr leichtfertig hinwegsetzen kann. Zudem ist jetzt, von Ausnahmefällen abgesehen, mit einer Parlamentsmehrheit gegen restriktive Sonderregelungen zu rechnen; sowohl die "Umsturzvorlage" von 1894 als auch die "Zuchthausvorlage" von 1899 werden im Reichstag abgelehnt.
Im Ganzen erweist sich die Aufgabe, das politische Kräftespiel auszutarieren, für Bismarcks Nachfolger als unlösbar. Caprivis gemäßigt sozialliberaler Kurs scheitert ebenso wie Hohenlohes erneuter Versuch einer "Regierung über den Parteien"; Bülows Bestreben, seine Politik durch einen konservativ-liberalen "Block" abzustützen, bleibt letztlich ebenso erfolglos wie Bethmann Hollwegs nach taktischen Kompromissen suchende "Politik der Diagonale". Dem allen steht das vom Kaiser angestrebte "persönliche Regiment" als realitätsfremder Versuch gegenüber, durch martialisches Auftreten und oftmals spontanes Eingreifen in die Tagespolitik letztinstanzliche Entscheidungsgewalt zu demonstrieren. Politisch erstarrt und unfähig zur produktiven Regeneration, treibt das Reich auf die europäische politische Krise von 1914 zu.