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Der Präsident des Europäischen Parlaments, Jerzy Buzek, mahnt mehr Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union an. "Erst, wenn wir noch stärker gemeinsam handeln, haben wir wirklich gewonnen", sagt der frühere polnische Ministerpräsident, der der Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) angehört, in einem Gespräch mit der Wochenzeitung "Das Parlament" vom 2. November 2009.
Zugleich nennt er die Bewältigung der Wirtschafts- und Finanzkrise als vordringliche Aufgabe in der laufenden Legislaturperiode des Europaparlaments. Weitere wichtige Themen seien eine gemeinsame Energiepolitik und der Klimawandel sowie die Migrationspolitik. "Unser Ziel ist es, die Solidarität zwischen den Ländern zu vergrößern", betont der Parlamentspräsident. Das Interview im Wortlaut:
Herr Präsident, Sie werden zu den Feierlichkeiten am 9. November in Berlin sein. Welche Erinnerungen verbinden Sie ganz persönlich mit diesem Tag vor 20 Jahren?
Es war wirklich ein symbolischer Tag. Ich war damals sehr glücklich, weil ich gespürt habe, dass wir in Polen nicht mehr alleine sind. Ich hatte in diesem Moment das Gefühl, in einem freien Land zu leben. Nur wenige Monate zuvor war bei den ersten freien Wahlen am 4. Juni in Polen eine nicht-kommunistische Regierung gebildet worden. Und in dem Moment, in dem die Mauer in Berlin fiel, stürzten im übertragenen Sinne auch die anderen eisernen Regime des Ostblocks in sich zusammen.
Und wie haben die Polen diesen Tag erlebt? Welche Stimmung herrschte dort?
An diesem Tag war der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl zu Gast. Nachdem er vom Fall der Mauer gehört hatte, sagte er zu unserem damaligen Premierminister Tadeusz Mazowiecki, er möge ihn für einige Stunden entschuldigen, denn er müsste wegen des Falls der Mauer nach Deutschland zurück. Und so wie er es versprochen hatte, kam er wieder nach Warschau zurück, um dort seinen Besuch zu beenden. Das war wirklich fantastisch.
Was bedeutete das für die Menschen?
Für Polen war es ein wichtiges Signal, dass eine so bedeutende Person wie Helmut Kohl aus einem demokratischen Land zu uns kam, um uns zu unterstützen. Das gleiche gilt natürlich auch für den früheren US-Präsidenten George Bush, die ehemalige britische Premierministerin Margaret Thatcher oder den damaligen französischen Präsidenten François Mitterrand.
Sie sind der erste Präsident des Europäischen Parlaments aus einem osteuropäischen Land. Was können Sie Besonderes in dieses Amt einbringen?
Auf der einen Seite kenne ich die Länder Ost- und Mitteleuropas sehr gut. Und daher weiß ich vielleicht auch besser als jemand anderes, wie sich die Menschen dort fühlen. Auf der anderen Seite bin ich in meinem Amt aber auch für die ganze Europäische Union verantwortlich und nicht nur für einen Teil - das "alte Europa" gibt es nicht mehr.
Aber es gibt doch noch ein erhebliches Gefälle in der Europäischen Union?
Selbstverständlich gibt es noch vielerorts Unterschiede beim Lebensstandard und verschiedene Regionen entwickeln sich unterschiedlich. Aber wir haben in Osteuropa die Verantwortung, uns zu integrieren und zu kooperieren. Dabei muss man allerdings bedenken, dass Erweiterung und Integration nicht dasselbe sind. Ich denke, dass die neuen Beitrittsländer nach einer sehr großen Erweiterungsrunde auf einem guten Weg sind, sich äußerst erfolgreich zu integrieren.
Sind in dieser Europäischen Union die Werte, für die Sie in den 1980er Jahren als aktiver Teil der polnischen Gewerkschaftsbewegung eingetreten sind, verwirklicht worden?
Ja, das glaube ich. Wir treten in der Union für eine Politik ein, mit der wir schwächeren Regionen ermöglichen wollen, wettbewerbsfähiger zu werden. Um das zu erreichen, unterstützen wir Forschungsprojekte oder die Entwicklung neuer Technologien. Wir tun also eine Menge, um bestimmte Werte wie Solidarität oder Zusammenhalt in der EU zu verwirklichen. Dafür ist die Union ein hervorragender Ort, aber ich denke, wir können noch mehr tun.
Sie sind jetzt mehr als 100 Tage im Amt. Welches sind für Sie die wichtigsten Aufgaben in dieser Legislaturperiode?
An erster Stelle steht natürlich, dass wir die Wirtschafts- und Finanzkrise in den Griff bekommen. Ein weiteres wichtiges Thema ist eine gemeinsame Energiepolitik. Auch der Klimawandel und die Migration sind wichtige Themen in dieser Legislaturperiode. Unser Ziel ist, die Solidarität zwischen den Ländern zu vergrößern. Denn erst, wenn wir noch stärker gemeinsam handeln, haben wir wirklich gewonnen.
Sie haben sich kürzlich für eine Europäische Energieagentur ausgesprochen. Wie soll die konkret aussehen?
Ich denke, es ist dringend notwendig, auf eine gemeinsame Energiepolitik zu setzen - sowohl innerhalb als auch außerhalb der Gemeinschaft. Es geht aber auch um mehr Energiesicherheit, was zum Beispiel heißt, dass wir gemeinsam mit unseren Energieversorgern sprechen. Und natürlich wollen wir uns auch für freie Energiemärkte einsetzen, die, wie wir gesehen haben, zu niedrigeren Preisen führen.
Der Vertrag von Lissabon sieht vor, die Beziehungen zwischen dem Europäischen Parlament und den nationalen Parlamenten zu stärken. Gibt es dafür schon konkrete Pläne?
Wir brauchen dafür ein gutes Netzwerk zwischen unseren Ausschüssen und Berichterstattern. Es ist aber wichtig, nicht nur vor den Gesetzgebungsverfahren, sondern auch hinterher miteinander zu reden. Die Zusammenarbeit zwischen dem Europäischen Parlament und den nationalen Parlamenten ermöglicht es uns auch, über unsere Kollegen aus den nationalen Parlamenten einen besseren Kontakt zu unseren Bürgern zu bekommen, denn fünfzig Prozent der nationalen Gesetze werden in Brüssel gemacht. Der besser informierte nationale Abgeordnete, der auch mitgestalten kann, kann den Bürgern auch nützliche Informationen zu europäischen Projekten - und was diese für das jeweilige Land bedeuten - geben.
Ist mit dem Vertrag das oft beklagte Demokratiedefizit des Europäischen Parlament kleiner geworden?
Die verstärkte Zusammenarbeit zwischen unseren Parlamenten ist eine wichtige Verbesserung. Auch wird mit dem Vertrag von Lissabon das Mitentscheidungsverfahren zur Regel und es wird in Zukunft ein europaweites Bürgerbegehren geben.
Während Ihrer Zeit als polnischer Ministerpräsident begannen die Gespräche für den EU-Beitritt Polens. Wie sehen Sie heute die Erweiterungsperspektive der Union?
Ich glaube, es ist ein großer Erfolg, wenn Staaten - wie beispielsweise die Länder auf dem Balkan - darum konkurrieren, in die EU aufgenommen zu werden, anstatt wie früher gegeneinander zu kämpfen. Am 14. Oktober hat die EU-Kommission einen Erweiterungsbericht publiziert, in welchem der Stand der Verhandlungen mit den aktuellen Beitrittskandidaten Kroatien, Mazedonien, Island und Türkei dargelegt wird. Die Perspektive einer EU-Mitgliedschaft ist für die Beitrittskandidaten eine wichtige Motivation zur Reform derjenigen Politikfelder, die noch nicht auf EU-Standard sind. Es ist unbedingt notwendig, diesen Prozess weiterzuführen. Auch mein Land hat durch die Mitgliedschaft in der EU sehr wichtige Impulse sowie eine in die Zukunft gerichtete Perspektive erhalten.
Trotz vieler Erfolge der EU sind im Juni nur 43 Prozent der Europäer zur Europawahl gegangen. Was ist Ihr Rezept gegen diese Europamüdigkeit?
Im Sinne einer besseren Transparenz und leichteren Verständlichkeit unserer Arbeiten haben wir eine Reihe von Neuerungen wie die Fragestunde mit dem EU-Kommissionspräsidenten oder etwa Online-Übertragungen aus Ausschusssitzungen eingeführt und wir planen einen europäischen Parlamentskanal. Außerdem möchten wir die Informationsarbeit in den Ländern, zum Beispiel durch einen Ausbau der Europahäuser, verstärken. In fünf Jahren möchten wir eine Wahlbeteiligung von 50 Prozent erreichen. Bei allem Bedauern über die niedrige Wahlbeteiligung dürfen wir aber auch nicht vergessen, dass in den USA an den letzten Kongresswahlen nur 37 Prozent der Menschen teilgenommen haben. Und in Amerika sagt deswegen auch niemand, dass es ein Demokratiedefizit gibt.