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Im Bundestag sitzt Dr. Bärbel Heising stets in der ersten Reihe: Nicht mehr als zehn Schritte sind es von ihrem Platz bis zur Regierungsbank, hinter ihr das Rednerpult und der Platz des Bundestagspräsidenten, vor ihr das Plenum. Von hier aus hat Heising die Abgeordneten genau im Blick. Das muss sie auch, denn die 48-Jährige ist Parlamentsstenografin und nichts, was im Plenarsaal des Bundestages passiert, darf ihren Augen und Ohren entgehen: Kein Klatschen, kein Zuruf, kein Schimpfen. "Als Stenografen geht es uns schließlich darum, nicht nur die Reden, sondern das ganze Geschehen im Parlament festzuhalten“, sagt Heising.
So gilt es, nicht nur das gesprochene Wort, sondern gerade auch die Emotionen, die es begleiten, einzufangen: Das Lachen, die Kritik und die kleinen ironischen Bemerkungen am Rande. Auch ob ein Parlamentarier plötzlich aufspringt, ein Plakat hochhält - oder, wie der CSU-Abgeordnete Ernst Hinsken im Jahr 2002, zur Regierungsbank schlendert, um dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) eine rote Laterne zu überreichen, wird von Heising und ihren 31 Kolleginnen und Kollegen vom Stenografischen Dienst des Deutschen Bundestages notiert - und ist später im Protokoll der Sitzung nachzulesen.
Und das schon einen Tag später: Am Morgen nach der jeweiligen Plenarsitzung ist der Stenografische Bericht bereits online abrufbar (unter http://www.bundestag.de/dokumente/protokolle/index.html), am Mittag liegt er dann auch gedruckt vor. "So schnell schafft das kaum ein anderes Parlament auf der Welt“, sagt Bärbel Heising nicht ohne Stolz. In vielen anderen Ländern werde erst ein vorläufiges Protokoll veröffentlicht, das dann Wochen, manchmal sogar Monate später durch das endgültige ersetzt werde. Warum der Bundestag so fix arbeitet? Heising lächelt: „Wir sind eben gut organisiert!“
Tatsächlich verläuft die Arbeit der Parlamentsstenografen nach einem exakt ausgetüftelten Plan: 16 sind an einem Sitzungstag im Einsatz, außerdem acht so genannte Revisoren, die als eine Art Kontrollinstanz fungieren. Immer zwei Stenografen verfolgen zur gleichen Zeit eine Sitzung vom Stenografentisch aus. Der eigentlich 'diensthabende Stenograf’ sitzt rechts außen - ungefähr auf Höhe der FDP-Fraktion -, der Revisor nimmt links gegenüber der Fraktion Die Linke Platz. Während er genau eine halbe Stunde das Geschehen protokolliert und dann abgelöst wird, arbeiten die Stenografen im Fünf-Minuten-Takt.
Um neun Uhr morgens beginnt der erste, abgelöst wird er um 9.05 Uhr. Das nächste Mal im Einsatz ist er um 10.20 Uhr, danach wieder um 11.40 Uhr und so weiter in diesem Rhythmus, bis der Sitzungstag beendet ist. "Das ist wie bei einem Staffellauf“, erklärt Heising. Wie auch im Sport sei hier die reibungslose Übergabe wichtig. Manche Stenografen klopften deshalb kurz an den Lautsprecher, um dem Vorgänger zu signalisieren, ab wann sie mitschrieben, andere sagten einfach "jetzt“. Dies diene der Kohärenz, denn schließlich solle man dem Protokoll nicht anmerken, dass 16 Stenografen daran beteiligt gewesen seien.
So ein rollierendes System erfordert eine bis ins kleinste Detail funktionierende Organisation, doch der Aufwand ist notwendig. Gerade der Fünf-Minuten-Takt, nach dem die Stenografen traditionell im Bundestag arbeiten, hat sich bewährt: Die Zeit zwischen den Einsätzen brauchen sie dringend, um in ihr nahegelegenes Büro zu eilen, das Stenogramm einem Mitarbeiter zu diktieren und die erste Protokollversion auf seine sprachliche und sachliche Richtigkeit zu überprüfen.
Gerade Zahlen, Daten und Namen müssen die Stenografen im Blick haben, denn hier können sich bereits in der Rede des Abgeordneten Versprecher eingeschlichen haben. Später lesen dann auch die Parlamentarier noch einmal Korrektur. Die Änderungen, die sie vornehmen, werden wiederum von einem Revisoren überprüft.
Trotz aller elektronischen Hilfsmittel, die die Arbeit der Stenografen heute erleichtern, von Datenbanken für die Recherche bis hin zu den Tonmitschnitten der Debatte: Sie selbst sind nicht ersetzbar. "Es gibt eben keine Software, die in der Lage ist, all das verlässlich aufzuzeichnen, was 622 Parlamentarier im Plenum gerade sagen oder tun“, so Heising. Vor allem, wenn sie durcheinander reden, und das tun sie oft: "Der Bundestag ist durch eine sehr lebendige Debattenkultur geprägt - da kann es wirklich Zurufe hageln“, sagt Heising.
Um dennoch keinen zu verpassen und jeden einzelnen Zwischenrufer zu identifizieren, braucht ein Stenograf absolute Konzentration - und vor allem eine schnelle Schreibe. Bärbel Heising ist schnell, sogar sehr schnell: Sie kann siebenmal rascher stenografieren als Menschen normalerweise schreiben.
Wenn Heising stenografiert, dann saust der Stift in ihrer Hand pfeilgeschwind über das extraglatte Stenopapier und hinterlässt dort eine Spur äußerst präzise geschwungener Zeichen: lang gestreckte Bögen, kleine Kringel, zackige Haken. Dabei ist die Stenografie, die die Parlamentsstenografen verwenden, die wohl reduzierteste und damit auch schwierigste Form der Kurzschrift. Braucht eine Sekretärin etwa zehn Zeichen, um einen Begriff wie "Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ zu stenografieren, zeichnet Heising schlicht einen waagerechten Halbkreis, an den sie rechts einen Haken anfügt.
Das ungläubige Staunen derer, auf die dies wie ein unentzifferbarer Code wirkt, ist die Stenografin gewohnt: Selbst die einfachste Form der Kurzschrift, die so genannte Verkehrsschrift, lernen heute immer weniger Menschen. Die Redeschrift aber, wie sie die Parlamentsstenografen benutzen - quasi die Kür der Stenografie -, beherrschen in Deutschland nur etwa 200 Eingeweihte.
Heising selbst begann bereits als 13-Jährige mit dem Stenografieren. Der Großvater beherrschte es, und die Enkelin war fasziniert von den unbekannten Zeichen: "In dem Alter ist man doch für alle Arten von Geheimschriften empfänglich“, sagt Heising und lächelt verschmitzt. Sie trat einem Stenografenverein in ihrer Heimatstadt Bochum bei, wurde 1979 Deutsche Jugendmeisterin im Stenografieren - und gleichzeitig auch vom damaligen Leiter des Stenografischen Dienstes im Bundestag entdeckt. Nach abgeschlossenem Germanistik- und Anglistikstudium sowie Promotion fing sie schließlich als Parlamentsstenografin an, damals noch in Bonn.
Heute, nach fast 25 Jahren im Bundestag, ist Heising Revisorin und betreut selbst den stenografischen Nachwuchs. Die Faszination für ihren Beruf ist ungebrochen: Besonders die Nähe zur Politik reizt sie noch immer. Kein Wunder - an ihrem Stenografentisch im Plenarsaal sind Heising und ihre Kollegen der Macht so nahe wie kaum jemand sonst. "Man ist mittendrin - und ist doch im Hintergrund.“ Mit dieser Position ist sie hochzufrieden, man merkt es ihr an.