Navigationspfad: Startseite > Dokumente > Archive > 2010 > Hans - Dietrich Genscher im Interview
Hans-Dietrich Genscher (FDP), Bundesaußenminister von 1974 bis 1992, sieht in der Entspannungspolitik und im 1975 begonnenen Prozess der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) die Grundlagen für den Weg zur deutschen Einheit. Die frühere Zurückhaltung der Bonner Außenpolitik gegenüber Auslandseinsätzen der Bundeswehr ist für ihn eine Lehre aus der deutschen Geschichte, sagte der 83-Jährige der Wochenzeitung "Das Parlament" (Ausgabe vom 6. September 2010). Das Interview im Wortlaut:
Herr Genscher, Sie haben als gebürtiger Hallenser und DDR-Flüchtling stets gesamtdeutsch gedacht. Schmerzt es Sie, wenn man nach 20 Jahren Einheit immer noch von Ossis und Wessis spricht?
Ich fürchte, es wird so bleiben. Aber darauf kommt es weniger an als darauf, dass die innere Einheit sehr viel weiter fortgeschritten ist, als viele es wahrhaben wollen. Bei vielen Begegnungen mit jungen Menschen stelle ich fest: Sie wissen, dass ihre Eltern eine getrennte Vergangenheit hatten, sie selbst aber eine gemeinsame Zukunft haben.
Wo lagen im Prozess zur Einheit die größeren Schwierigkeiten - bei den deutsch-deutschen Verhandlungen oder der außenpolitischen Absicherung?
Natürlich waren die innerdeutschen Verhandlungen kompliziert. Aber sie wurden von beiden Seiten mit dem Ziel geführt, zusammenzukommen. Komplizierter waren die außenpolitischen Fragen, weil Moskau jahrzehntelang die These von der Endgültigkeit der deutschen Teilung vertreten hatte. Dort musste eine Kehrtwendung im wahrsten Sinne des Wortes stattfinden.
Wann haben Sie erkannt, welche Chancen sich mit der Reformpolitik von KP-Chef Michail Gorbatschow eröffneten?
Die Wiedervereinigung kam nicht von selbst. Die Entspannungspolitik und die Politik im Rahmen der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit waren Voraussetzungen dafür, dass es zu friedlichen Freiheitsdemonstrationen kommen konnte, die dann zur Überwindung der Teilung Europas führten. Moskau hatte eine gesamteuropäische Sicherheitskonferenz vorgeschlagen, um sich den Besitzstand in Europa vertraglich sichern zu lassen. Daraus wurde die Konferenz zur Öffnung des Tors zur Einheit Deutschlands. Nach meiner ersten Begegnung mit Gorbatschow 1986 im Kreml habe ich zu einem meiner Mitarbeiter gesagt: Wenn der alles macht, was er uns gesagt hat, haben wir erstmals eine realistische Chance, in absehbarer Zeit die Einheit Deutschlands zu erreichen.
Moskau hatte bereits im Februar 1990 in diese Einheit eingewilligt, aber eine NATO-Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands zunächst strikt abgelehnt. Wie ist es gelungen, den Kreml davon abzubringen?
In der Schlussakte von Helsinki war verankert, dass sich jeder Staat einem Verteidigungsbündnis anschließen darf. Entscheidend war, dass uns die US-Regierung nachdrücklich unterstützt hat. So kam es, dass Gorbatschow im Frühsommer 1990 in den USA überraschend erklärte, diese Frage müssten die Deutschen selbst entscheiden. Damit war das Tor offen. Es ging deshalb bei unserem Besuch im Juli in Moskau und im Kaukasus vorrangig nur noch darum, wie stark die Streitkräfte eines vereinten Deutschlands sein würden, wann die sowjetischen Truppen aus der DDR abziehen und welche Zahlungen wir für ihre Rückführung und Unterbringung leisten.
Welche Rolle spielte dabei Ihr Verhältnis zu Gorbatschow und seinem Außenminister Eduard Schewardnadse?
Ich habe in einer Rede 1987 in Davos gesagt, der Westen solle Gorbatschow ernst nehmen und eine historische Chance nicht versäumen. Zu der Zeit begegnete man Gorbatschow im Westen noch mit Kleingläubigkeit. Ich wurde wegen meiner Äußerung in Washington und auch Bonn kritisiert. Das hat bei Gorbatschow einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Hinzu kam das sehr gute Verhältnis zu Schewardnadse.
Haben Sie bei den Zwei-plus-Vier-Gesprächen einmal ein Scheitern befürchtet?
Nicht aus den Gesprächen heraus. Aber Helmut Kohl und ich hatten immer die Sorge: Halten die das in Moskau durch? Der Putsch gegen Gorbatschow 1991 hätte ja auch früher kommen können.
Am 15. Juli 1990 saßen Sie nach den erfolgreichen Verhandlungen im Kaukasus mit Kohl und Gorbatschow um einen Holztisch. Hat Sie dieser Augenblick ähnlich berührt wie Ihr Auftritt auf dem Balkon der bundesdeutschen Botschaft in Prag, als Sie die Ausreiseerlaubnis für die DDR-Flüchtlinge verkündeten?
Vielleicht nicht so emotional. Mir ging etwas anderes durch den Kopf. Ich sah Gorbatschow an und musste daran denken, was man einst Martin Luther zugerufen hatte: Mönchlein, Mönchlein, du gehst einen schweren Gang.
Ein weiterer Knackpunkt war die Westgrenze Polens. Warschau verlangte, die Unantastbarkeit der Oder-Neiße-Grenze noch vor der Vereinigung rechtsgültig zu besiegeln. Kohl wollte damit bis zur Bildung einer gesamtdeutschen Regierung warten. Was haben Sie ihm geraten?
Ich fand, es bestand kein Anlass zu zögern. Ich hatte bereits in meiner Rede vor der UNO im September 1989 dem Außenminister des neuen Polen versichert, wir Deutsche würden die Oder-Neiße-Grenze nie in Frage stellen. Dieser Satz wurde im Oktober 1989 Teil einer Entschließung des Bundestages und stand auch 1990 in Resolutionen der freien Volkskammer und des Bundestages. Damit ist dem Wunsch Polens Rechnung getragen worden.
Als Minister bemühten Sie sich, Forderungen nach einem deutschen Militär-Engagement außerhalb des NATO-Gebietes abzuwehren. Mittlerweile ist die Bundeswehr an vielen Brennpunkten der Welt. Haben Sie damals befürchtet, dass ein souveränes Deutschland sich dieser Verantwortung nicht würde entziehen können?
Man musste damit rechnen, dass an ein vereinigtes Deutschland neue Erwartungen gestellt werden. Ich fand, die Politik der Zurückhaltung der Bundesrepublik war kein Verzicht auf Souveränität, sondern eine kluge Lehre aus der deutschen Geschichte. Die Probleme heute sind in Wahrheit Probleme der NATO. Sie hat in der Zeit von US-Präsident George W. Bush versäumt, eine politische Strategie für die Zeit nach dem Kalten Krieg zu entwickeln. Das erklärt auch die Probleme, die der Westen sich beigebracht hat - siehe Irak und Afghanistan.
War diese Entwicklung von der Balkankrise bis hin zum Bundeswehreinsatz am Hindukusch nicht zwangsläufig?
Sie war es eben nicht. Natürlich gab es bis zu höchsten Stellen der Republik törichte Reden, wir müssten nach der Vereinigung endlich Verantwortung übernehmen. Dabei hatten wir im Kalten Krieg von allen europäischen Partnern den größten Beitrag zur westlichen Sicherheit geleistet: Wir hatten nicht den geringsten Nachholbedarf.
Würden Sie heute Entscheidungen wie die frühe Anerkennung von Slowenien und Kroatien anders treffen?
Sie kam zu spät. Diese Entscheidung hat den Krieg, den Serbien nach Kroatien und Slowenien trug, sofort beendet. Wäre dies früher geschehen, hätte dies vieles erspart.
Was sagen Sie Leuten, die meinen, die innere Einheit sei noch nicht erreicht?
Ich würde ihnen raten, sich mal vertieft mit den neuen Ländern zu befassen. Ich höre das mehr in West- als in Ostdeutschland.
(pra)