Navigationspfad: Startseite > Dokumente > Archive > 2010 > W-Forum: Lateinamerika
Deutschland verpasst den wirtschaftlichen Aufstieg Südamerikas. In der Reihe "W-Forum" der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages am Donnerstag, 23. September 2010, stellte Lateinamerika-Experte Prof. Dr. Günther Maihold fest, dass die deutsche Politik und die Medien Lateinamerika jedes Mal wieder neu entdecken. In der öffentlichen Wahrnehmung falle der südamerikanische Kontinent über die "Kante".
Mit Günther Maihold als Vertreter der Stiftung Wissenschaft und Politik diskutierten die Professoren Dr. Elmar Altvater, emeritierter Politikwissenschaftler der Freien Universität Berlin, und Dr. Manfred Nitsch, emeritierter Ökonom vom Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin, über "Simón Bolívar und die Globalisierung - Politik und Wirtschaft in Lateinamerika".
"Die Außenpolitik ist krisengetrieben", sagte Maihold. "Eigentlich ist ja nichts los", spitzte er die relative Friedlichkeit und politische Stabilität der großen, demokratisch geprägten Region zu. Beleg ist dem Lateinamerikakenner die unstete wirtschaftliche und technologische Zusammenarbeit und die minimale "Ressourcenbeziehung" der Bundesrepublik zu den südamerikanischen Ländern.
Doch die Runde war nicht nur zusammengetreten, um Versäumnisse aufzuzeigen. Lateinamerika sei im Aufbruch. Die gute Bewältigung der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise werfe die Frage danach auf, wie auf die Herausforderung der Globalisierung in Lateinamerika reagiert wurde.
Elmar Altvater machte nach Stagnation und Wirtschaftskrisen in den achtziger und neunziger Jahren eine "Erfolgsstory des letzten Jahrzehnts" aus. Die mehrheitlich "linksgerichteten" Staaten hätten eine stärkere Rolle in der Entwicklung der Wirtschaft übernommen und die regionale Kooperation gefördert.
Pragmatisch seien die Marktdynamik der Globalisierung genutzt, aber die "neoliberale Form" abgewehrt worden. Politisch seien Spielräume entstanden, weil sich nach dem 11. September 2001 die außenpolitische Orientierung der USA verlagert habe.
Große Infrastrukturprojekte und Investitionen in die Kommunikation würden integrative Entwicklungen befördern. Doch das einseitig starke Wachstum im Rohstoffsektor und in der Landwirtschaft berge Abhängigkeiten und Gefahren für die Zukunft.
Kritisch fragte Günther Maihold, ob Lateinamerika "Gestalter oder Globalisierungsnehmer" sei. Plakativ münzte er das als gesteuert bezeichnete Wirtschaftswachstum in den Begriff "Globalisierungsverweigerung" um. Der Professor bezweifelte, dass darin eine Chance zu sehen sei. Im Vergleich mit anderen Weltregionen "ist Südamerika systematisch zurückgefallen".
Zu wenig werde in Bildung und Forschung investiert, und der Anteil am Welthandel wachse nicht dynamisch. Zu lange seien auch große Bevölkerungsgruppen politisch ausgeschlossen gewesen, und die Länder müssten jetzt als Folge der willkürlichen Staatenbildung vor 200 Jahren Debatten über Identität führen, die Debatten des 19. Jahrhunderts gewesen wären.
Manfred Nitsch sah im Umgang Brasiliens mit der eignen Heterogenität ein Zukunftsmodell. Brasilien sei nicht "Nehmer", sondern mache vor, wie der Gedanke der "Egalisierung in der Bevölkerung zunimmt". Aufgrund der hohen unterschiedlichen Sozialstrukturen werde in dem bevölkerungsstärksten Land versucht, die "universellen UN-Werte" vorbildlich zu verankern und eine "zukunftsweisende säkulare Gesellschaft aufzubauen".
Niemand solle ausgeschlossen sein. Auch die Vorstellung die "Rechte von Mutter Erde", wie in Bolivien geschehen, in die Verfassung aufzunehmen, seien bemerkenswert. Die Forderung "Gut leben ist besser als immer besser leben zu wollen" sei ernst zu nehmen, meinte Nitsch.
Einstimmig warnten die Experten davor, die Integration der südamerikanischen Staaten nach europäischen Maßstäben zu messen. Maihold machte ein "anderes Integrationsverständnis" aus. Statt Souveränität übertragen zu wollen, würde der Gewinn an Souveränität erstes Ziel sein. Integration verlaufe nach ausgewählten Kriterien: "Lateinamerika bietet Integration à la carte an." Jeder spreche für sich, und das mache aus europäischer Sicht vieles schwieriger. Ein Phänomen, dass in Europa aber nicht unbekannt sei, bemerkte Altvater. Mit diesem pragmatischen Weg seien die Länder bislang erfolgreich gewesen, so der Professor.
Manfred Nitsch bemängelte, dass "einzelne Länder mehr in Europa integriert sind als mit ihren Nachbarn". Fehlende Einigkeit in Lateinamerika sei auch das Ergebnis fehlender Förderung durch die EU und ihrer Einzelinteressen.
Einzigartig sei hingegen das Verständnis vom Gegensatz zwischen Ökologie und Ökonomie, der in Südamerika Ausdruck findet. "Sozioterritoriale Bewegungen" würden eine immer wichtigere Bedeutung spielen. Elmar Altvater führte den politischen Kampf um die privatisierte Wasserversorgung an, die zum Kampf um Besitz und Rechte wurde, und erklärte den Erfolg von Evo Morales in Bolivien auch dadurch, dass er das "Vertrauen der Bevölkerung" genieße.
Günther Maihold bestätigte: "Eine Partei ist nur erfolgreich, wenn sie eine Bewegungspartei ist." Wichtig seien eine breite Basis und Inhalte. Parlamente würden hingegen nicht als der Ort gesehen, wo Entscheidungen gefällt werden. Wer in Lateinamerika wahrgenommen werden wolle, der müsse die Fenster öffnen und sich auf die Debatten einlassen, die vor Ort geführt werden. (eis)