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Der erste parlamentarische Geschäftsführer von Bündnis 90/Die Grünen, Volker Beck, wirft der Regierungskoalition vor, sich über geltende Gesetze und die Verfassung hinweggesetzt zu haben. So habe die Koalition die Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke 2010 "unter Brechung von Geschäftsordnung und Verfassung durchgeprügelt” und dann nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima das Atommoratorium "ohne Rechtsgrundlage auf den Weg gebracht”, sagt Beck in einem am Montag, 11. April 2011, erschienenen Interview mit der Wochenzeitung "Das Parlament". Das Interview im Wortlaut:
Herr Beck, zum ersten Mal wird ein Grünen-Politiker Ministerpräsident. Für wen ist das eigentlich der größere Einschnitt - für das Land oder Ihre Partei?
Es ist erst einmal gut für das Land, dass die ökologische Erneuerung an erster Stelle steht. Natürlich ist es auch eine Zäsur in der Geschichte unserer Partei, weil wir damit zeigen können, dass wir auch in Bundesländern mit Erfolg um Platz eins kämpfen können.
Das Ausmaß ihrer jüngsten Wahlerfolge haben die Grünen als Anti-AKW-Partei auch der Katastrophe in Japan zu verdanken. Das daraufhin von der Bundesregierung verkündete Atommoratorium, die ältesten deutschen Atommeiler erst einmal vom Netz zu nehmen, müsste doch eigentlich Ihre Zustimmung finden.
Unser Wahlerfolg ist nicht einfach auf die Katastrophe von Fukushima zurückzuführen. Wir hatten schon vorher ähnlich gute Meinungsumfragen. Das Atomthema war allerdings schon vorher natürlich wichtig. Die Laufzeitverlängerung für die Atommeiler, die die Koalition im Herbst unter Brechung von Geschäftsordnung und Verfassung durchgeprügelt hat, hat keine Akzeptanz in der Bevölkerung. Deshalb ist auch dieses Moratorium, das ohne Rechtsgrundlage auf den Weg gebracht worden ist, von den Menschen nicht als glaubwürdige Wende verstanden worden. Wir fordern konkrete gesetzgeberische Schritte, mit denen die Laufzeitverlängerung zurückgenommen wird und man die acht Schrottmeiler sofort und dauerhaft vom Netz nimmt. Danach können wir darüber reden, wie wir zu einem Ausstieg bis zum Jahr 2017 kommen und was wir dabei in den nächsten Jahren energiepolitisch auf den Weg bringen müssen.
Sie sagen, das Moratorium sei ohne Rechtsgrundlage erfolgt. Die Regierung beruft sich auf Paragraf 19 Absatz 3 des Atomgesetzes, wonach die staatliche Atomaufsicht anordnen kann, Gefahren für Leben und Gesundheit zu beseitigen, die sich "durch die Wirkung ionisierender Strahlen" ergeben können.
Dazu muss es aber eine konkrete neue Gefahrenerkenntnis geben. Dass bei der Nutzung der Atomenergie das Restrisiko besteht, war zu allen Zeiten klar. Dass sich dieses Risiko auch realisieren kann und das dann eine Katastrophe ist, wissen wir seit Tschernobyl - das war 1986 und nicht 2011. Wir werden ja jetzt bei der Klage von Energieversorgungsunternehmen gegen die vorübergehende Stilllegung sehen, ob der Paragraf 19 Absatz 3 als Rechtsgrundlage hält.
Der Stromkonzern RWE beruft sich bei seiner Klage gegen die Abschaltung des Atomkraftwerkes Biblis A darauf, dass die Rechtsgrundlage fehle. Was ist, wenn die Klage Erfolg hat?
Dann muss der Bund Schadenersatz zahlen. Das hätte man vermeiden können, indem man unmittelbar gesetzgeberisch reagiert hätte - wie wir das auch vorgeschlagen haben und die Regierungskoalition es abgelehnt hat. Das Problem ist ja insgesamt, dass in der Koalition Sitten eingerissen sind, per Ukas zu regieren und nicht mehr die aktuellen Gesetze anzuwenden, weil man schlampig arbeitet. Dabei mag uns das Anliegen manchmal durchaus gefallen, aber wir würden diese Anliegen gerne sauber und rechtlich abgesichert verfolgen und nicht mit dieser freihändigen Politik. Das ist ja nicht nur beim Thema Atomausstieg und der vorübergehenden Stilllegung so, sondern beispielsweise auch bei den Internetsperren gegen Kinderpornografie.
Bei den Internetsperren hat die Koalition jetzt beschlossen, das Gesetz aufzuheben. Der Vorsitzende des Rechtsausschusses, der CDU-Abgeordnete Siegfried Kauder, hat indes schon im Januar kritisiert, dass der Ministeriumserlass, mit dem das Gesetz gegen Kinderpornos im Internet teilweise ausgesetzt wurde, verfassungswidrig sei.
Es ist zumindest nicht korrekt, erlassene Gesetze nicht wieder aufzuheben, wenn man sie nicht mehr anwenden will. Wir haben ja mehrmals die gesetzliche Aufhebung verlangt und auch einen entsprechenden Gesetzentwurf eingebracht, doch der wurde leider von der Regierungskoalition nicht beschlossen.
Kauder argumentierte mit Artikel 20 des Grundgesetzes, wonach die vollziehende Gewalt "an Gesetz und Recht gebunden ist". Wieso gibt es dann eigentlich keine entsprechende Klage gegen die Bundesregierung vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe?
Weil wir das Bundesverfassungsgericht nicht mit Klagen überschütten wollen. Wir haben Klage erhoben gegen die Verletzung unserer Parlamentsrechte bei der Befragung der Bundesregierung, weil sie uns Fragen nicht beantwortet zum Thema Finanzaufsicht bei den Banken, zum Umgang mit dem Bundesvermögen bei der Deutschen Bahn. Auch haben wir der Bundesregierung gedroht, gegebenenfalls Klage auf Einhaltung der Rechte des Parlaments zu erheben, wenn sie im Bundestag keinen Antrag zum Pegasus-Einsatz zur Rettung deutscher Staatsbürger in Libyen nach dem Parlamentsbeteiligungsgesetz einbringt. Man darf aber das Bundesverfassungsgericht nicht mit beliebig vielen Fragen belästigen. Leider häufen sich die Anlässe bei dieser Regierung ja auch.
Ebenfalls Kritik an der Regierung gab es, weil entgegen den damals geltenden gesetzlichen Grundlagen Anfang März keine Wehrpflichtigen mehr zur Bundeswehr eingezogen wurden, obwohl der Bundestag das Gesetz zur Aussetzung der Wehrpflicht noch gar nicht beschlossen hatte.
Bei der Aussetzung der Wehrpflicht hat die Koalition die geltende Rechtslage nicht angewandt, weil sie das Gesetz zu spät auf den Weg gebracht hat. Der Vorgang und das Prinzip wiederholt sich leider immer wieder, dass die Regierungskoalition nicht in der Lage ist, ihre Entscheidungen rechtzeitig zu treffen und dem Parlament rechtzeitig Gesetzgebungsvorschläge vorzulegen, damit die Entscheidungen auf einer ausreichenden Rechtsgrundlage getroffen werden. Das ist eigentlich kein akzeptables Verfahren in einem Rechtsstaat mit Gewaltenteilung, sondern eine Verlotterung der gesetzgeberischen und rechtsstaatlichen Sitten, die ich noch bei keiner anderen Koalition so erlebt habe.
Streit zwischen Parlament und Regierung gibt es auch über die Information der Volksvertretung durch die Exekutive in EU-Fragen. Jüngst beschwerte sich Bundestagspräsident Norbert Lammert schriftlich bei Bundeskanzlerin Angela Merkel, dass die Regierung das Parlament vor dem EU-Sondergipfel zum Euro-Wettbewerbspakt am 11. März nicht ausreichend informiert habe. Hatte er Recht?
Er hatte Recht, und er hat auf unsere Beschwerde im Ältestenrat hin gehandelt. Wir hatten gesagt, es gehe nicht, dass wir als Parlament keine Möglichkeiten haben, auf die Willensbildung in der Europäischen Union Einfluss zu nehmen, obwohl maßgebliche Punkte von der Regierung vorgeschlagen und beraten wurden, wir aber die entsprechenden Unterlagen nicht bekommen haben.
Nun hat ja schon zu früheren Zeiten, auch unter Rot-Grün, vor allem die Opposition gerne über die "Arroganz der Macht" geklagt, mit der die Regierung dem Parlament begegne. Folgt die jetzige Kritik also nur den üblichen Rollenspielen zwischen Regierung und Opposition, oder sehen Sie da eine andere Qualität?
Rot-Grün hat niemals die Rechte des Parlamentes gebrochen. Damals hatte man sich darüber beschwert, das der Respekt, den sich die Opposition für ihre Positionen wünschte, nicht immer angemessen zum Ausdruck gekommen sei. Dagegen geht es jetzt wirklich darum, dass man sich über Geschäftsordnung, über Verfassung und über einfache Gesetze hinwegsetzt und einfach handelt, wie es einem gefällt. Das ist eine völlig neue Qualität. Das ist nicht mehr entschuldbar mit einem Fehler eines Fachministers in einer Sache, sondern dieser Fehler hat System.
(sto)