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Der SPD-Abgeordnete und Innenexperte Dieter Wiefelspütz hält die Vorschläge der Koalition zur Wahlrechtsreform für verfassungswidrig. Es würden weiterhin "Überhangmandate in einem Maß ermöglicht, dass die Wahlergebnisse verzerrt werden“, sagt Wiefelspütz in einem am Montag, 16. Mai 2011, veröffentlichten Interview mit der Wochenzeitung "Das Parlament". Wahlsieger könnten so bei den Mandaten zum Wahlverlierer werden. Die Fraktionschefs von Union und FDP hatten sich kürzlich darauf verständigt, dass es bei Bundestagswahlen keine Stimmverteilung mehr zwischen den Bundesländern geben solle, um so das Problem des "negativen Stimmgewichts“ zu lösen. Bisher können Wähler wegen des komplizierten bundesdeutschen Wahlsystems mit Erst- und Zweitstimmen samt Überhangmandaten unter Umständen ihrer Partei mit der Stimme sogar schaden. Das Bundesverfassungsgericht hatte im Juli 2008 in einem Urteil dem Bundestag eine Reform bis 30. Juni 2011 auferlegt. Das Interview im Wortlaut:
Herr Wiefelspütz, die Koalition plant, keine Stimmverteilung mehr zwischen den Bundesländern zu erlauben beziehungsweise die Verknüpfung der Landeslisten aufzuheben. Was sagen Sie dazu?
Das wäre für den Bundestag ein widersprüchliches Wahlrecht. Wir haben ja eine verbundene Wahl in den Bundesländern. Sind die Landeslisten nicht mehr miteinander verbunden, wäre das unitarische Prinzip einer Bundestagswahl verletzt.
Die SPD wendet sich gegen Überhangsmandate. Wenn man sie durch Ausgleichsmandate für andere Parteien kompensiert, wird so nicht die Besonderheit des direkten Mandatgewinns relativiert?
Nein. Durch Überhangmandate kann es aber möglich werden, Mehrheiten im Bundestag zu bekommen, ohne bei den Zweitstimmen in der Mehrheit zu sein. Das kann zu großen Legitimationsproblemen führen. Diesen Fall hatten wir zum Glück noch nie. Die Wahl könnte dann bei einem knappen Ergebnis durch Überhangmandate auf den Kopf gestellt werden. Überhangmandate sind deshalb im Prinzip etwas sehr Problematisches. Darum sollten sie durch Ausgleichsmandate egalisiert werden.
Aber wird das Parlament durch die vielen Ausgleichsmandate nicht zu sehr aufgebläht?
Das ist bedenkenswert. Im Regelfall haben wir 598 Abgeordnete im Bundestag, durch Überhangmandate sind es jetzt 621. Wenn es 30 oder 40 Mandate mehr durch Ausgleichsmandate gibt, wäre dies nicht das große Problem. Sinnvoll wäre es, die Wahlkreise zu vergrößern und so weniger Direkt-Wahlkreise zu haben, also etwa statt derzeit 299 rund 270. So würde eine Aufblähung der Mandatszahl vermieden.
Durch den Wegfall der Überhangmandate wird das Problem des negativen Stimmgewichts wohl nicht komplett gelöst. Laut Experten könnte ein Wähler seinem Bundesland mit seiner Zweitstimme zu einem zusätzlichen Sitz verhelfen, aber nicht unbedingt seiner Partei.
Wir haben kein perfektes Wahlsystem und müssen die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts umsetzen. Im Rahmen des bewährten bundesdeutschen Wahlsystems sollte jetzt ein möglichst optimaler Modus geschaffen werden, der wetterfest ist und nicht bestimmten politischen Lagern Vor- oder Nachteile verschafft. Er sollte gegenüber jeder Richtung fair sein, großen wie kleinen Parteien gegenüber. Überhangmandate bringen Vorteile nur für größere Parteien. Durch Ausgleichsmandate würde der Nachteil für die kleineren Parteien wettgemacht. Auch bei diesem System gäbe es Schwächen, aber es wäre deutlich besser als das bisherige. Wir haben ja jetzt ganz bizarre Folgen des Wahlsystems: Eine Partei kann Zweitstimmen verlieren, bekommt aber dennoch mehr Mandate. Ein Wahlsystem muss für den Bürger verständlich und nachvollziehbar sein. Das ist beim jetzigen Modus nicht der Fall. Um den Fall des negativen Stimmgewichts durch die Reststimmenverwertung bei den Landeslisten der Parteien zu verstehen, muss man schon komplexe mathematische Kenntnisse haben. Das sollte nicht sein.
Das Ganze ist ja Folge des besonderen bundesdeutschen Systems mit der Kombination von Direktkandidatenwahl mit Parteilistenwahl. Bei einem reinen Direktwahlsystems beziehungsweise reinen Verhältniswahlrecht könnten kuriose Fälle wie die des negativen Stimmrechts doch gar nicht auftreten …
Das stimmt. Allerdings hat sich unser Wahlsystem bewährt. Noch sind wir nicht in wirklich schweres Wasser geraten. Bisher hatten Überhangmandate Mehrheiten bei den Zweitstimmen nicht auf den Kopf gestellt. Das ist in Zukunft aber möglich, weil wir mit jetzt fünf Parteien ein verändertes Parteiensystem und auch veränderte Kommunikationsgewohnheiten haben. Durch Splitten von Stimmen etwa infolge von Internetaufrufen können die Probleme zunehmen. Unser Wahlsystem ist nicht wirklich manipulationsfest. Seine Grundstrukturen sollten erhalten bleiben, aber es müssen Schwächen und Widersinnigkeiten vermieden werden. Wir müssen die Möglichkeit des negativen Stimmgewichts abschaffen. Der Koalitionsvorschlag ist nicht wetterfest, ich halte ihn für verfassungswidrig.
Warum?
Weil Überhangmandate in einem Maß ermöglicht werden, dass die Wahlergebnisse verzerrt werden. Ein Wahlsieger könnte so bei den Mandaten zum Wahlverlierer werden. Das darf nicht sein.
Wie bewerten Sie den Umstand, dass die Politik den Karlsruher Rahmen für eine Reform offenkundig bis zum letzten Moment ausschöpft, also bis Mitte 2011? Man hätte sich doch viel eher einigen können, das Verfassungsgerichtsurteil war ja schon im Juli 2008 ...
Man hätte sich sogar viel eher einigen müssen. Das halte ich für ein schweres Versäumnis der schwarz-gelben Koalition. Die SPD steht seit Monaten zu Verhandlungen bereit, es kam aber bisher zu keiner Verhandlungssituation. Wir wollten zu Beginn der Wahlperiode die Einrichtung eines Sonderausschusses im Bundestag, der ein neues Wahlrecht nach dem Karlsruher Urteil erarbeiten sollte. Dort hätte der Sachverstand von Verfassungsrechtlern, Politikwissenschaftlern und anderen Experten einbezogen werden können. Das wollte die Koalition nicht.
Nun hatte es aber auch die SPD nach dem Karlsruher Urteil zunächst nicht eilig. Der damalige Parteichef Müntefering bremste 2009 eine Reform noch vor der Bundestagswahl im September 2009. Es gab damals einen Reformvorstoß der Grünen …
Wir waren damals in einer Großen Koalition und mussten auf CDU und CSU Rücksicht nehmen, die das Thema nicht forcieren wollten. Aber der neue Bundestag ist schon eineinhalb Jahre im Amt, und es ist noch nichts passiert. Das ist ein großer Mangel. Wenn Karlsruhe womöglich in dieser Sache erneut angerufen werden muss, wäre dies keine gute Lösung. Die SPD wird sich aber kein Wahlrecht aufdrücken lassen, das wichtige Probleme nicht löst.
Ist denn ein Wahlrecht überhaupt ohne irgendwelche Auffälligkeiten oder Ungerechtigkeiten denkbar?
Unser Wahlsystem hat sich insgesamt bewährt. Es hat in den vergangenen Jahrzehnten dazu beigetragen, dass sich hierzulande eine lebendige stabile Demokratie entwickelt hat, die Streit gut aushält und zu Lösungen kommt. Durch das veränderte Parteiensystem in Deutschland werden aber die immer schon vorhandenen, bisher eher theoretischen Probleme unseres Wahlrechts nun wirksam. Wir müssen die Probleme lösen. Bei unserem bewährten Wahlsystem müssen jetzt einige kleine Probleme bewältigt werden. Das weit größere Problem bleiben aber die Überhangmandate. Es könnten Bundesregierungen gebildet werden, die nicht die Mehrheit der Zweitstimmen haben. Das müssen wir in den Griff kriegen.
Die vielen Überhangmandate, in dieser Wahlperiode 24, entstehen auch dadurch, dass der Zweitstimmenanteil der Volksparteien gesunken ist, die SPD aber besonders abgefallen ist und derzeit zu wenig Direktmandate gewinnt. Muss sich Ihre Partei da nicht zuerst selbst an die Nase fassen?
Es geht nicht um einzelne Parteien. Die zweite Regierung Schröder hatte auch mehr Überhangmandate als CDU und CSU. Dadurch wurde eine knappe Mehrheit nach Zweitstimmen zu einer komfortablen Mehrheit nach Mandaten. Wir brauchen ein Wahlsystem, das sich nicht an den Interessen einer einzelnen Partei orientiert. Es muss gerecht und transparent für alle sein. Das jetzige System bevorteilt einige wenige, mit besonderen Problemen dann, wenn es bei Zweitstimmen andere Mehrheiten gibt. Wir brauchen ein Wahlsystem, das für alle Parteien gleichermaßen fair ist.
(kru)