Navigationspfad: Startseite > Dokumente > Archive > 2011 > Überfall Sowjetunion
Es war eine der sehr seltenen, sehr einmütigen Stunden im Hohen Hause. Bei der vereinbarten Debatte am Donnerstag, 30. Juni 2011, zum Gedenken an den 70. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 waren sich die Redner aller Fraktionen einig: Die Erinnerung an den Überfall darf nicht in Vergessenheit geraten, Ähnliches muss zu allen Zeiten verhindert werden. Gleichzeitig würdigten die Abgeordneten die positiven Entwicklungen in den Beziehungen von Russland und Deutschland.
Der Auslöser für den ganzen Schrecken sei das Naziregime gewesen, stellte Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP) zu Beginn seiner Rede klar. Es habe schon vor dem Überfall auf die Sowjetunion begonnen, mit dem Angriff auf Polen und dem "zu späten Erkennen des totalitären Potenzials“. Die deutsche Verantwortung könne nie ungeschehen gemacht werden, betonte Gerhardt.
Es sei wichtig, in Erinnerung an die Katastrophe von vor 70 Jahren in Partnerschaft mit den europäischen Nachbarn zu leben. Und das, betonte Gerhardt, dürfe sich nicht nur auf die Regierungen konzentrieren. Die Ländern müssten in einem menschlichen Miteinander leben.
Der Jahrestag sei auch Gelegenheit, sich glücklich zu schätzen, dass die Gefahr eines Krieges zwischen den Staaten Europas gebannt sei. "Wir müssen uns jeden Tag vergewissern, was zu tun ist, damit sich dieser nicht wiederholt“, schloss Gerhardt.
Der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Fraktion, Dr. Gernot Erler, nutzte die Debatte zunächst zur nüchternen Aufzählung von Zahlen: 27 Millionen Opfer habe Russland zu beklagen gehabt - das entspräche "einem Trauerfall in nahezu jeder Familie“. Fast 5,7 Millionen sowjetische Kriegsgefangene habe es gegeben, von denen 60 Prozent den Krieg nicht überlebt hätten.
Erler erinnerte auch an den schwierigen Weg von Russland und Deutschland hin zu den derzeitigen Beziehungen. Der Kalte Krieg habe alte Feindbilder konserviert und von den eigenen Fehlern abgelenkt. Heute betrachteten sich beide Staaten als strategische Partner, die Wirtschaftsbeziehungen entwickelten sich gut und der Großteil der Russen habe ein positives Deutschlandbild.
Dennoch gebe es nach wie vor "Schattenseiten“. Besonders eindringlich ging Erler auf das Schicksal russischer Kriegsgefangener ein, die aus der Gefangenschaft kommend in ihrer Heimat diskriminiert worden seien.
Auch Michael Glos (CDU/CSU) nannte es erfreulich, dass beide Länder den "langen Weg der Versöhnung“ zurückgelegt hätten. Als Angehöriger der nachfolgenden Generation könne er sich die Schrecken dieses grausamen Vernichtungskrieges nicht vorstellen.
Wie schon seine Vorredner betonte er die guten Beziehungen beider Länder: "Deutschland und Russland begegnen sich offen und in aufrichtiger Freundschaft“, sagte er. Russland sei der wichtigste Energielieferant Deutschland. Es sei notwendig, dass Deutschland mit Russland und Europa noch stärker zusammenwachse. "Ich kann mir vorstellen, dass Russland irgendwann Mitglied der Europäischen Union wird“, meinte Glos.
Der außenpolitischer Sprecher der Linksfraktion, Wolfgang Gehrcke, brachte seine Freude darüber zum Ausdruck, dass sich alle Fraktionen auf diese Debatte hätten einigen können, und würdigte seinerseits Bundespräsident Richard von Weizsäckers Rede vom 8. Mai 1985, in der dieser den 40. Jahrestag des Kriegsendes als "Tag der Befreiung vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“ bezeichnet hatte.
Der 70-jährige Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion müsse zum Nachdenken anregen, wie man das System des Friedens weiter ausbauen könne. So müsse etwa über eine Abschaffung der Visa-Pflicht im Verhältnis zu Russland nachgedacht werden.
Bündnis 90/Die Grünen regten weitere Schritte zu einem "noch würdigeren Gedenken“ an, wie Volker Beck es formulierte. So gebe es in Berlin zwar ein zentrales Ehrenmal für die Befreier, jedoch keinen Ort oder Zeitpunkt, an dem aller Opfer gedacht wird.
Anschließend kam Beck - wie schon zuvor der SPD-Abgeordnete Erler - auf die russischen Kriegsgefangenen zu sprechen, von denen noch etwa 7.000 bis 8.000 am Leben seien. Sie seien durch alle "Entschädigungen gefallen". Es sei nötig, ihnen etwa mit Initiativen konkret zu helfen. (tyh)