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Wachstum bedeutet Wohlstand. Wohlstand bedeutet Lebensqualität. Diese Formel verliert für Prof. Dr. Meinhard Miegel allmählich ihre Gültigkeit. Der Sozialwissenschaftler warb am Montag, 4. Juli 2011, in einer Autorenlesung in der Bibliothek des Deutschen Bundestages für den Ausstieg aus der sogenannten Wachstumsfalle. In seinem Buch "Exit: Wohlstand ohne Wachstum" sieht der Wissenschaftler die Gefahr, dass sich die Menschen durch die heutige Art des Wirtschaftens ihrer Existenzgrundlagen berauben.
"Wie kann in Zukunft die Entkoppelung des Ressourcenverbrauchs vom Wirtschaftswachstum, der Schutz der Umwelt, die Sicherung der sozialen Systeme und des Zusammenhalts der Gesellschaften gelingen", fragte Daniela Kolbe (SPD), Vorsitzende der Enquete-Kommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität", in ihrer Einführung zur Lesung.
Ziel der Kommission sei es, den Stellenwert von Wachstum in Wirtschaft und Gesellschaft zu ermitteln und die Möglichkeiten der Entkoppelung von Wachstum, Ressourcenverbrauch und technischem Fortschritt auszuloten.
Meinhard Miegel, Sachverständiger in der 34-köpfigen Kommission aus Abgeordneten und Sachverständigen, gab eine mögliche Antwort: "In Zukunft beginnt Wohlstand an dem Punkt, wo Wachstum endet. "Das zu erkennen, wird die Aufgabe der Menschheit diese Jahrhunderts sein, oder sie wird daran scheitern." Der Professor stellte fest, dass jedem heute erwirtschafteten Gewinn auch ein spürbarer Verlust entgegenstehe.
Der Raubbau an den natürlichen Ressourcen, die Verschlechterung der Umweltbedingungen, das Entstehen instabiler Gesellschaften, das Zerbrechen sozialer Beziehungen und die immer weiter steigende Verschuldung der Staaten würden zur schweren Hypothek für die Zukunft.
"Der Versuch, die Kosten eines dieser Glieder ausgleichen zu wollen, würde den Wohlstand unserer Gesellschaften einbrechen lassen", sagte Miegel. Der erwirtschaftete Wohlstand werde in Zukunft durch die entstehenden Reparaturkosten immer weiter geschmälert. Der Einzelne werde trotz Wirtschaftswachstums am Ende weniger Geld haben, aber mehr arbeiten müssen: "Er wird jedoch nicht mehr Wert schöpfen."
Für Miegel muss das Ziel des Wirtschaftens der frühindustrialisierten Länder sein, "möglichst wenig materielle Güter zu brauchen". Dieses würde eine Veränderung der Erwerbsarbeit mit sich ziehen - die Grenzen zwischen Beruf und Privatem schleifen - und "zivilere" Formen sozialer Fürsorge erfordern.
"Der Lebensstandard würde wahrscheinlich nach unseren heutigen Maßstäben sinken", sagte Miegel. Ein Wohlstandsverlust muss nach Ansicht des Wissenschaftlers damit nicht verbunden sein. Der gesellschaftliche Gewinn wäre, dass die Menschen mehr Zeit hätten und bewusster Leben könnten.
Doch den Verzicht wollte er auf Nachfrage eines Zuhörers nicht predigen. "Das ist wohl aussichtslos", sagte Meinhard Miegel. Hingegen glaubt er, dass der materielle Wohlstand schon jetzt durch die steigenden Umwelt- und Gesellschaftskosten schleichend sinkt und die Gesellschaft sich unweigerlich der Debatte stellen werden muss.
"Deshalb müssen wir uns klaren Wein eingießen", appellierte Miegel die Vorstellungen von Wachstum und Wohlstand zu überdenken. (eis)