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Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) wird weiterhin eine zentrale Rolle bei der Definition und Messung von Wohlstand spielen, jedoch werden auch andere Faktoren wie etwa die ökologische Nachhaltigkeit des Wirtschaftens oder die Chancen zur Verwirklichung individueller Fähigkeiten in die Diskussion einbezogen werden müssen - diese These vertrat am Montag, 12. Dezember 2011, der Sachverständige Prof. Dr. Christoph Schmidt in der Sitzung der Enquete-Kommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität" unter Vorsitz von Daniela Kolbe (SPD) in einer öffentlichen Sitzung der Enquete-Kommission. Der Präsident des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI) wies darauf hin, dass die Neuausrichtung des Wohlstandsbegriffs über die Wirtschaftsleistung hinaus große Probleme bei der Entwicklung und Berechnung entsprechender Indikatoren aufwerfe.
Der Sachverständige Prof. Dr. Gert Wagner kritisierte, dass die Notwendigkeiten der Nachhaltigkeit bei der Ermittlung des ökonomischen Wachstums bislang nur unzureichend gewichtet würden. Der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) forderte, besonders den Ressourcenverbrauch in die Messung der Wirtschaftsleistung "einzupreisen", wodurch das Wachstum als Kriterium für Wohlstand aussagekräftiger werde.
Kernaufgabe der Enquete-Kommission ist es, das rein ökonomisch und quantitativ ausgerichtete BIP als Messgröße für gesellschaftliches Wohlergehen weiterzuentwickeln und etwa um ökologische, soziale und kulturelle Kriterien zu ergänzen. Letztlich soll die Arbeit des Gremiums in die Definition dessen münden, was als qualitatives Wachstum gelten kann und wozu beispielsweise die Entkoppelung des Ressourcenverbrauchs von der Steigerung der Wirtschaftsleistung zählt.
Schmidt appellierte an die Kommission, bei ihrer Suche nach einem alternativen Wohlstandsbegriff die entsprechenden Bemühungen diverser Länder wie etwa der USA, Kanada, Großbritannien oder Australien wie auch die auf internationaler Ebene von Wissenschaftlern entworfenen Konzepte zu berücksichtiten. Im Sinne einer Verbesserung des gesellschaftlichen Wohlergehens plädierte der RWI-Präsident unter anderem für eine "sinnvolle Umverteilung" des ökonomischen Reichtums, wobei der Spielraum indes begrenzt sei.
Als "in der Grundlogik überzeugend, aber konkret schwer zu messen" bezeichnete der Wirtschaftsprofessor das von Nobelpreisträger Amartya Sen entworfene Modell des "capability approach", was mit "Fähigkeitenansatz" übersetzt werden kann. Danach bemisst sich das Ausmaß des Wohlstands in einer Gesellschaft vor allem daran, wie es um die Möglichkeiten der Bürger bestellt ist, ihre persönlichen Potenziale und Fähigkeiten zu realisieren.
Bei Sens Konzept hängt dies, wie Schmidt erläuterte, von mehreren Bedingungen ab – etwa von politischen Freiheiten, vom ökonomischen Standard, von sozialen Chancen, von einer guten Regierungsführung möglichst ohne Bürokratie und Korruption, von einem sozialen und ökologischen Schutz der Bürger oder von einem breiten Zugang zu Bildung und Gesundheitsdienstleistungen.
Andere von Schmidt vorgestellte Modelle der Wohlstandsberechnung zielen in die gleiche Richtung, nennen aber auch Kriterien wie den Zustand der Umwelt oder das Maß an wirtschaftlicher Unsicherheit in der Gesellschaft. Wie aber lässt sich all dies messen? International diskutiert werden laut dem RWI-Präsidenten beispielsweise Kriterien wie die Belastung der Stadtbevölkerung durch Luftverschmutzung oder die Größe jenes Bevölkerungsteils, der ohne Armutsrisiko leben kann.
Gert Wagner trat dafür ein, bei der Ermittlung von Lebensqualität und Wohlstand nicht nur die Nachhaltigkeit des Wirtschaftens, sondern auch das Maß an Chancengerechtigkeit in einer Gesellschaft stärker zu gewichten. Gerade das Kriterium der Chancengerechtigkeit müsse sehr differenziert betrachtet werden, mahnte der DIW-Chef. Der Wirtschaftsprofessor warnte davor, sich bei der Wohlstandsberechnung allein auf Selbstauskünfte der bei demoskopischen Erhebungen befragten Bürger zu verlassen.
Bei solchen Studien komme zwar einem guten Privatleben eine große Bedeutung zu, doch werde die ökologische Nachhaltigkeit nur gering gewichtet. Dies sei nicht verwunderlich, da Nachhaltigkeit erst in der Zukunft ein Rolle spiele und heutzutage von den Bürgern nicht "gespürt" werde, so Wagner. Bei der Erarbeitung von Indikatoren für einen fortentwickelten Wohlstandsbegriff müsse man sich bei der Nachhaltigkeit deshalb auf Erkenntnisse von Experten stützen. (kos)