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DER BEVÖLKERUNG im nördlichen Innenhof des Reichstagsgebäudes © VG Bild-Kunst, Bonn 2008
Bestandteil des Projektes ist eine eigene Website.
Hans Haackes Installation DER BEVÖLKERUNG wurde als letztes der Kunst-am-Bau-Projekte für das Reichstagsgebäude eingebracht. Auf Einladung des Kunstbeirates hatte der Künstler für den nördlichen Innenhof einen Entwurf entwickelt, der vorsah, in diesem Innenhof eine große, von Holzbohlen eingefaßte Fläche anzulegen. Die Abgeordneten sollten eingeladen werden, auf dieser Fläche Erde aus ihren Wahlkreisen auszustreuen. Der Künstler schlug vor, in der Mitte des gärtnerisch nicht betreuten, frei wuchernden Biotops die Inschrift DER BEVÖLKERUNG in Neonlichtbuchstaben leuchten zu lassen, diese geformt in derselben von Peter Behrens entworfenen Schrifttype wie die Buchstaben der zentralen Giebelinschrift DEM DEUTSCHEN VOLKE aus dem Jahre 1916.
Dieser Entwurf löste innerhalb und außerhalb des Parlamentes eine lebhafte Diskussion aus. Die Kontroverse entzündete sich an der Frage, ob mit der Neon-Inschrift eine Korrektur der zentralen Giebelinschrift DEM DEUTSCHEN VOLKE vorgenommen werde, mithin Verfassungsmaximen der Bundesrepublik Deutschland in Frage gestellt werden, oder ob die Schrift im Innenhof eine legitime Ausweitung des Sinnes der Giebelinschrift bedeute und einen Denkprozeß in Gang setzen solle. Mit knapper Mehrheit setzten sich im Bundestag die Befürworter der Installation Haackes durch, so daß diese im September 2000 dem Bundestag übergeben werden konnte. Seitdem bringen Abgeordnete Erde aus ihrem Wahlkreis oder treffen sich mit Bürgerinnen und Bürgern ihres Wahlkreises, die zu Besuch im Parlament sind, füllen gemeinsam die Erde ein und tauschen dabei Informationen über die Herkunft der Erde und ihre Rolle in der Geschichte und der Wirtschaft des Wahlkreises aus. Später können die Besucher unter der Internet-Adresse "www.derbevoelkerung.de" dank einer im Hofe installierten Webcam verfolgen, was auf diesem Erdreich wächst und gedeiht. So steht allen Interessierten über diese Internet-Seite gleichsam ein Fenster zum Innenhof des Reichstagsgebäudes offen.
Hans Haacke lebt seit den 60er Jahren in New York und lehrt dort an einer der bedeutendsten Kunsthochschulen der Vereinigten Staaten, der Cooper Union. Sein künstlerisches Schaffen ist seit Beginn der sechziger Jahre auf die Entwicklung spezifischer Formen einer ”Prozeßkunst” gerichtet. Sein Ziel ist es, modellhaft physikalische, biologische oder gesellschaftliche Prozesse vor Augen zu führen und so die ihnen zugrunde liegenden Strukturen anschaulich werden zu lassen. Haackes Installationen beziehen sich daher immer auf ihr konkretes politisches, soziales und kulturelles Umfeld und fordern den Dialog mit dem Betrachter heraus. Dieser Dialog ist mithin Teil seines Kunstwerkes, unabhängig davon, ob es sich um ablehnende oder zustimmende Stellungnahmen handelt. Entscheidend ist, daß der Betrachter Stellung bezieht, auf diese Weise partizipatorisch einbezogen ist und sich mit Haackes Projekten gedanklich auseinandersetzt.
In diesem Sinne wird zwischen der Innenhofinschrift und der Giebelinschrift des Westportals des Reichstagsgebäudes ein Spannungsverhältnis erzeugt, das zum Nachdenken und zu Diskussionen über Rolle und Selbstverständnis des Parlamentes anregt.
Darüber hinaus weist das Zusammentragen der Erde durch die Abgeordneten auf die Verantwortung des Menschen gegenüber der Umwelt hin. Erde erinnert an die Endlichkeit des Menschen und an die Gleichheit aller Menschen angesichts ihrer Endlichkeit. Zugleich mahnt der Umgang mit Erde und das aus ihr Erwachsende, nicht Vorhersehbare der Vegetation, die Grenzen des technisch und politisch Machbaren zu erkennen. So wird durch dieses Biotop eine frei wuchernde Vegetation im Innenhof des High-Tech-Gebäudes von Foster im lebendigen und reizvollen Gegensatz zum steinernen Innenhof geschaffen. Die Vermischung der Erde aus allen Wahlkreisen bekräftigt zudem die Zusammengehörigkeit aller Regionen und die Feststellung, daß die im Parlament verhandelten Fragen alle Bürger gleichermaßen betreffen.
Text: Andreas Kaernbach
Kurator der Kunstsammlung des Deutschen Bundestages