Navigationspfad: Startseite > Der Bundestag > Präsidium > Reden des Präsidenten > 2011 > Einleitende Worte zur 15. Bundesversammlung am 18. März 2012
Meine Damen und Herren! Verehrte Gäste! Herzlich willkommen allen Mitgliedern der Bundesversammlung, ganz besonders den Frauen und Männern, die heute zum ersten Mal an der Wahl unseres Staatsoberhauptes teilnehmen.
Ich begrüße die Repräsentanten unserer Verfassungsorgane: die Mitglieder des Bundestages, der Bundesregierung, des Bundesrates, des Bundesverfassungsgerichts, die von den Landtagen gewählten Wahlmänner und Wahlfrauen. Für alle stellvertretend nenne ich namentlich den Präsidenten des Bundesrates, Horst Seehofer, der in den vergangenen vier Wochen die Befugnisse des Bundespräsidenten wahrgenommen hat und dem ich dafür Dank und Respekt ausspreche.
Ich heiße auch die Botschafter und Repräsentanten vieler Länder willkommen, die mit ihrer Anwesenheit zeigen, dass die heutige Wahl auch im Ausland, bei unseren Freunden und Partnern weit über die Europäische Union hinaus, großes Interesse findet.
Schließlich begrüße ich alle, die diese Bundesversammlung im Rundfunk, im Fernsehen oder im Internetangebot des Deutschen Bundestages verfolgen.
All denen, die an diesem denkwürdigen Wochenende hier in Berlin ihren Geburtstag feiern, möchte ich persönlich und sicher auch im Namen aller Mitglieder der Bundesversammlung herzlich gratulieren.
Meine Damen und Herren, nach dem Grundgesetz wird der Bundespräsident für fünf Jahre gewählt.
– Ich entnehme der spontanen Beifallsbekundung, dass Änderungen der Verfassung insofern nicht beabsichtigt sind.
Dass die Abstände in jüngerer Zeit immer kürzer wurden, wird niemand für eine Errungenschaft halten.
Wir sollten uns alle bemühen, die politische Realität auch in dieser Hinsicht wieder näher an die Verfassungsnorm zu bringen. Der vorzeitige Wechsel im höchsten politischen Amt der Republik ist weder eine Staatskrise noch eine Routineangelegenheit.
Diese heutige Versammlung findet nur 20 Monate nach der letzten Bundesversammlung statt, die am 30. Juni 2010 Christian Wulff zum zehnten Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland gewählt hat. Die Geschichte dieser kurzen Präsidentschaft wird zu einem späteren Zeitpunkt geschrieben werden.
Die Umstände des Rücktritts und die Gründe, die dazu geführt haben, werden erst mit angemessenem Abstand zu den Ereignissen fair zu bewerten sein. Dabei geht es auch um das Verhältnis von Amt und Person, um Erwartungen an Amtsträger, aber auch um die Rolle der Öffentlichkeit, der öffentlichen wie der veröffentlichten Meinung. Dies gilt für Beteiligte und Betroffene wie für Beobachter. Es gibt durchaus Anlass für selbstkritische Betrachtungen, nicht nur an eine Adresse.
Manches war bitter, aber unvermeidlich. Manches war weder notwendig noch angemessen, sondern würdelos, von der zunehmenden Enthemmung im Internet, im Schutze einer tapfer verteidigten Anonymität, gar nicht zu reden.
Unsere Verfassung schreibt vor, dass spätestens 30 Tage nach dem Rücktritt des Bundespräsidenten eine neue Bundesversammlung einzuberufen ist. Ich habe Sie, meine Damen und Herren, innerhalb dieser Frist zum 18. März eingeladen. Dieser Tag, der 18. März, gehört zu den Daten, an denen ähnlich wie am 9. November immer wieder deutsche Geschichte geschrieben wurde. Dieser Tag steht wie nur wenige andere in einer bemerkenswerten Traditionslinie der deutschen Geschichte.
Am 18. März 1793 wurde die Mainzer Republik proklamiert. Sie war unter dem Eindruck und unter dem Einfluss der Französischen Revolution der erste radikaldemokratische Versuch deutscher Jakobiner, eine Republik zu gründen.
– Es müssen sich jetzt nicht bei jedem Datum die tatsächlichen oder vermeintlichen Erben der jeweiligen Ereignisse zu Wort melden.
55 Jahre später, am 18. März 1848, begann die erste deutscheRevolution.
– Eigentlich hätten es jetzt ein paar mehr sein müssen. –
Die Demonstranten forderten damals auch hier, unweit vom heutigen Platz der Republik, Freiheit und Demokratie und die deutsche Einheit, einen deutschen Nationalstaat. Schon im Februar 1848 formierte sich in der Berliner Bevölkerung politischer Protest. Forderungen nach Reformen, nach Bürger- und Menschenrechten wurden immer lauter.
Der Barrikadenkampf, der am 18. März 1848 in Berlin begann, war ein gewaltiger, auch gewalttätiger Schritt auf dem Weg zur Demokratie in Deutschland. Bereits seit Anfang des Monats hatten sich in Berlin Menschen vor dem Schloss versammelt, um Presse- und Versammlungsfreiheit und eine Volksvertretung zu fordern. Am 18. März 1848 waren es Schüsse von Soldaten in die versammelte Menge vor dem Berliner Schloss, die zur Katastrophe führten. Das war der berühmte Funken, der das Pulverfass zum Explodieren brachte, in der Konfrontation des Militärs mit Handwerkern, Schriftstellern, Arbeitern, Dienstboten und Studenten. Am Ende des Barrikadenkampfes blieben mindestens 270 Tote auf den Straßen liegen, darunter viele Frauen, Jugendliche und Kinder.
Die Revolution führte damals nicht zum Erfolg, aber wenige Monate später zur ersten gesamtdeutschen Na-tionalversammlung frei gewählter Abgeordneter, die eine Verfassung für ganz Deutschland berieten und beschlossen, die freilich nie in Kraft getreten ist. Der „Friedhof der Märzgefallenen“ ist heute als bedeutender Schauplatz der Revolution ein authentischer Ort der Demokratie. Seit dem vergangenen Jahr endlich wird dieses viele Jahre vernachlässigte Gelände im Berliner Friedrichshain mit einer Dauerausstellung aufgewertet. Doch es hat lange gebraucht, bis die Bedeutung dieser Revolution von 1848/49 allgemein erkannt und anerkannt wurde.
Die Erinnerung an die Freiheitskämpfe blieb auch im Kalten Krieg gespalten. Die Märzereignisse und die Paulskirche wurden im geteilten Deutschland jeweils ideologisch vereinnahmt. Die DDR ehrte die Aufständischen des 18. März; die Bundesrepublik hingegen hob mit der Würdigung der Verfassunggebenden Nationalversammlung die deutsche Parlamentstradition hervor. 1848 aber war beides – der proletarisch dominierte Aufstand gegen die gewalttätige Obrigkeit und die vom Bürgertum getragene parlamentarische Auflösung des Konflikts zwischen Krone und Volk.
Meine Damen und Herren, am 18. März 1990 schließlich erfüllte sich mit den ersten freien Wahlen zur Volkskammer der DDR eine der zentralen Forderungen nach Freiheit, für die zuvor in Ostdeutschland Hunderttausende auf die Straßen gegangen waren.
Die herausragende Wahlbeteiligung bei diesen Volkskammerwahlen – mehr als 93 Prozent – war ein bemerkenswerter Beleg für das neu gewonnene demokratische Selbstbewusstsein der Bürger in der DDR. Damit markiert dieser 18. März vor 22 Jahren auch die letzte Etappe eines langen und schwierigen Wegs zur deutschen Einheit in Frieden und Freiheit.
Der 18. März ist also ein nicht wegzudenkender Baustein unserer Verfassungstradition; denn zur Vorgeschichte dieses Datums im Jahre 1848 gehörten die sogenannten Märzforderungen, die ein Jahr später in der Paulskirchen-Verfassung ihren deutlichen Niederschlag fanden. Insbesondere mit Blick auf die Grundrechte sollte diese erste demokratisch beschlossene Verfassung für ganz Deutschland alle weiteren Verfassungen unseres Landes prägen. Und schon damals wurde zu diesen Grundrechten auch und nachdrücklich die Pressefreiheit gezählt.
Heute erfüllt die freie Presse eine wichtige und unverzichtbare Kontrollfunktion in unserer Demokratie. Es gibt keine Demokratie ohne Transparenz und ohne Kontrolle. Aber Demokratie ist mehr als der Anspruch auf organisierte Transparenz. Demokratie braucht auch Vertrauen.
Sie gründet auch und vor allem auf dem Vertrauen in ihre Repräsentanten.
Ein auf Dauer gesetztes Misstrauen zerstört nicht nur jede persönliche Beziehung, sondern macht auch die Wahrnehmung öffentlicher Ämter unmöglich.
Mit keinem Amt verbinden sich mehr Erwartungen auf Vertrauen und Autorität als mit dem Amt, das wir heute durch diese Bundesversammlung neu zu besetzen haben. Die Erwartungen und Hoffnungen an den Bundespräsidenten sind riesig, wobei die Nüchternheit des Verfassungstextes wie die darin niedergelegten Aufgaben und Kompetenzen in einem bescheidenen Verhältnis zu den hohen Erwartungen an den jeweiligen Amtsinhaber stehen.
Wie er oder sie das Amt ausfüllt, bleibt ihnen jeweils überlassen. Das war bei zehn Bundespräsidenten in mehr als 60 Jahren so, und das wird gewiss auch künftig so sein – und es ist auch gut so. Amt und Person sind in der Lebenswirklichkeit nicht voneinander zu trennen. Aber sie sind nicht dasselbe. Weder geht das Amt in der Person auf, noch die Person im Amt. Darauf sollten im Übrigen nicht nur die Gewählten Wert legen, sondern auch die Wählerinnen und Wähler.
Meine Damen und Herren, es war über 30 Jahre lang gute Übung, Bundesversammlungen am 23. Mai, am Tag der Verkündung unseres Grundgesetzes, abzuhalten. Dies war uns schon wegen der besonderen Umstände der letzten Bundesversammlung nicht möglich, und das gilt ebenso für diese 15. Bundesversammlung.
Es ist eine durchaus glückliche Fügung, dass wir uns heute an einem 18. März versammelt haben. Mir gefällt – den in der Verfassung vorgesehenen Normalfall vorausgesetzt, dass wir wieder in den üblichen Fünfjahresrhythmus zurückkehren –, dass künftig jeder Bundespräsident an einem 18. März gewählt oder vereidigt werden könnte.
Wenn damit die historischen Zusammenhänge, die Kontinuitäten und Brüche unserer Geschichte mehr in unser Bewusstsein rücken, wäre dies ein willkommener Beitrag zu unserem demokratischen Selbstverständnis.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und komme nun zu den formellen Hinweisen, die ich zur Konstituierung der Bundesversammlung vorzutragen habe.