Lammert: Ein herausragendes Jubiläum

Prof. Dr. Norbert Lammert

Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert spricht sich anlässlich der Feiern zum bevorstehenden 50. Jahrestag des Élysée-Vertrages für eine stärkere inhaltliche Neuausrichtung der Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich aus. Gleichzeitig warnt Lammert in einem am 31. Dezember 2012 veröffentlichten Interview mit der Wochenzeitung "Das Parlament" davor, die Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern zu stark zu formalisieren. Das Interview im Wortlaut:


Herr Präsident, Deutschland und Frankreich feiern mit dem 50. Jahrestag der Verabschiedung des Élysée-Vertrages im nächsten Jahr "Goldene Hochzeit". Deutschland und Frankreich, ist das eher eine Liebesbeziehung oder eine Zweckehe?

Beides. Jedenfalls liegen dieser ganz besonderen Beziehung auf beiden Seiten handfeste Interessen zugrunde. Gleichzeitig hat sich die Beziehung zwischen den Ländern und ihren Menschen aber auch mental und emotional so weiterentwickelt, dass sie über konkrete Interessen deutlich hinausgeht.

In drei Wochen, am 22. Januar, haben Sie die 577 Abgeordneten der Assemblée nationale hier nach Berlin eingeladen. Warum ist es so wichtig, dass die Abgeordneten hierher kommen?

Es ist ein herausragendes Jubiläum. Wer ein Gespür für die Bedeutung von 50 Jahren in der jüngeren europäischen Geschichte hat, der wird das nicht nur für eine runde Zahl halten können. Dieses halbe Jahrhundert markiert eine grundlegende und gleichzeitig stabile Veränderung zwischen unseren Ländern. Das verdient eine besondere öffentliche Würdigung.

Was Frankreich bereits vor zehn Jahren getan hat...

Die Franzosen haben den Bundestag schon zum 40-jährigen Jubiläum in ähnlicher Weise nach Versailles eingeladen. Da lag es nahe, jetzt zum 50. Jahrestag durch eine Gegeneinladung diese Wertschätzung zu bestätigen, die es auf französischer Seite offensichtlich gibt.

Wie wird diese Feier parlamentarisch ablaufen?

Die Veranstaltung wird im Reichstagsgebäude unter ähnlichen räumlichen Bedingungen wie eine Bundesversammlung stattfinden. Das heißt, wir müssen, um alle Mitglieder beider Parlamente im Plenarsaal unterbringen zu können, die Bestuhlung umbauen. Wir haben uns mit den beiden Parlamentspräsidien darüber verständigt, dass wir diesmal nicht nur Reden der beiden Regierungschefs, also des französischen Staatspräsidenten und der Bundeskanzlerin hören, sondern auch eine einstündige parlamentarische Debatte unter Beteiligung von Kolleginnen und Kollegen aus dem Bundestag wie der Assemblée nationale ermöglichen wollen.

Die Abgeordneten werden eine gemeinsame Erklärung verabschieden. Was sind die wesentlichen Punkte, um das deutsch-französische Verhältnis weiter zu beleben?

Wir müssen das deutsch-französische Verhältnis nicht neu erfinden. Es muss auch nicht vitalisiert werden, weil es eine stabile und verlässliche Konstruktion ist, die auch mit dem Élysée-Vertrag eine hinreichende vertragliche Grundlage hat. Aber wie bei allen Beziehungen von Institutionen und Organisationen gilt, dass man regelmäßig den gemeinsam vereinbarten Zweck hinterfragen muss. Und zwar, ob unter veränderten Bedingungen und neuen Herausforderungen nicht entweder neue Mittel zur Verfolgung der gleichen Ziele oder neue Maßnahmen und neue Initiativen möglich und nötig sind.

Wie haben sich aus Ihrer Sicht die parlamentarischen Beziehungen entwickelt?

Die haben sich gerade in den letzten zehn Jahren, also seit der 40-Jahr-Feier, sehr stark weiterentwickelt. So gibt es etwa regelmäßige Treffen von Kollegen der jeweiligen Fachausschüsse, um für wichtige europäische Angelegenheiten möglichst auch auf der parlamentarischen Ebene eine gemeinsame deutsch-französische Position zu finden.

Für die jüngere Generation spielt der Versöhnungsgedanke nachvollziehbar eine viel geringere Rolle. Wie erklären Sie jungen Menschen, warum das deutsch-französische Verhältnis kein Relikt der Vergangenheit ist, sondern ein Garant für die Zukunft?

Wir haben in Europa besondere Verhältnisse zwischen Nachbarstaaten, die im Laufe der jüngeren europäischen Geschichte mehrfach ihre politischen Zugehörigkeiten verändert haben – nicht freiwillig durch Verträge, sondern aufgrund von militärischen Aktionen. Für diesen jüngeren europäischen Prozess haben keine zwei Länder eine größere, einzelne Bedeutung gehabt als Deutschland und Frankreich. Diesen Teil der Vergangenheit haben wir in der Tat hinter uns gelassen und durch eine völlig neue Verbindung abgelöst. Die gelegentlich anzutreffende Vermutung, es handele sich hier doch um ein liebenswürdiges Relikt, verkennt den Umstand, dass nach wie vor Deutsche und Franzosen bei wichtigen Sachverhalten nicht regelmäßig identische, sondern regelmäßig unterschiedliche Interessen haben – von den erkennbar unterschiedliche Mentalitäten gar nicht zu reden.

Haben Sie dafür ein Beispiel?

Das Staatsverständnis und das Verständnis der Rolle des Staates in und gegenüber der Wirtschaft unterscheidet sich in Frankreich und Deutschland deutlich. Das wiederum erklärt, warum für jeden weiteren Entwicklungsprozess in Europa über die bilaterale Beziehung hinaus die Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich die Voraussetzung für die europäische Einigung ist.

Die verstärkte Zusammenarbeit zwischen dem deutschen und französischen Parlament wurde vor zehn Jahren beim 40. Jahrestag des Élysée-Vertrages beschlossen. Wie ist Ihre Bilanz der vergangenen zehn Jahre?

Ich kann ein deutlich gestiegenes und weiter zunehmendes Maß an ganz selbstverständlicher, gar nicht im Einzelnen vereinbarungsbedürftiger Kooperation feststellen. Auf der politischen und persönlichen Ebene hat es in den vergangenen Jahren etwa mit den jeweiligen Parlamentspräsidenten in Frankreich ein Klima der Zusammenarbeit, auch ein Maß an persönlicher Vertrautheit gegeben, von dem manche vermuten werden, dass so etwas in der Politik gar nicht vorkommen könne.

Sie haben mit dem früheren französischen Parlamentspräsidenten Bernard Accoyer eine Arbeitsgruppe zur deutsch-französischen Wirtschaftspolitik installiert. Hat sich dieses Modell bewährt?

Ja, ich kann mir das nicht nur vorstellen, ich bin ziemlich sicher, dass es dafür weitere Beispiele geben wird. Ich empfehle aber dringend, das nicht unnötig zu formalisieren. Ich halte wenig von der Schaffung zusätzlicher Institutionen, sowohl auf bilateraler Ebene wie auf europäischer Ebene. Gremien gibt es genug. Wir sollten deswegen solche Fragen jeweils projekt- und themenbezogen in Angriff nehmen, aber nicht dauerhafte institutionelle Rahmen schaffen, die sich dann gewissermaßen ihre Themen suchen müssen.

Sie haben die zahlreichen Kontakte zwischen deutschen und französischen Parlamentariern schon erwähnt. Wo sehen Sie die größten Unterschiede im politischen Geschäft zwischen beiden?

Allein aus den unterschiedlichen politischen Verfassungen, einer Präsidialdemokratie auf der einen Seite und einer parlamentarischen Demokratie auf der anderen Seite, ergeben sich beachtliche Unterschiede in der Organisation politischer Entscheidungsprozesse. Verbunden mit der sehr unterschiedlichen historischen Entwicklung hat dies in unseren beiden Ländern zu Strukturen und auch zu Verhaltensmustern geführt, die keineswegs identisch sind. Aber die veränderten Erwartungen an die Beteiligung von Parlamenten, die sich gerade in den letzten Jahren im Zusammenhang mit der Abarbeitung europäischer Herausforderungen ergeben haben, haben in beiden Ländern zur Akzentuierung der Rolle des Parlamentes auch gegenüber der Regierung geführt.

Verfolgen beide Länder Ihrer Meinung nach in Fragen der Europäischen Integration noch das gleiche Ziel?

Die Frage ist nicht einfach mit Ja oder Nein zu beantworten, weil wir in beiden Ländern demokratische Verhältnisse haben, konkurrierende Parteien und politische Gruppierungen, die zu wichtigen Themen nicht identische Auffassungen haben. Natürlich führt in Frankreich wie in Deutschland ein Regierungswechsel, der dort gerade stattgefunden hat, zu einer Neuakzentuierung der Politik, auch etwa bei europäischen Fragen. Dass sich daraus ein erkennbares Auseinanderentwickeln deutscher und französischer Zukunftsvorstellungen ergäbe oder gar ergeben müsste, ist nicht mein Eindruck und schon gar nicht meine Erwartung.

Gibt es umgekehrt so etwas wie eine deutsch-französische Leitkultur in Europa?

Nein. Die würde auch mit dem Selbstbewusstsein der anderen europäischen Staaten und oder gar der Mitgliedstaaten in der Europäischen Gemeinschaft kollidieren. Für viele Mitgliedsländer der Europäischen Gemeinschaft ist die faktische Schlüsselrolle von Deutschland und Frankreich ohnehin eine ziemliche Zumutung, weil sie sich immer wieder hingehalten fühlen, solange es keine deutsch-französische Verständigung gibt und präjudiziert fühlen, sobald sie zustande gekommen ist.

Für die Zusammenarbeit ist die Sprache ein entscheidender Faktor. In beiden Ländern nimmt die Bereitschaft, die Sprache des anderen zu lernen, statistisch gesehen ab. Welche Anreize kann man setzen, und kann die Politik da überhaupt etwas tun?

Der Zustand der Sprachinteressen und der Sprachkenntnisse in diesen beiden Nachbarländern ist sicher deutlich bescheidener als man sich das wünschen möchte. Sie bleibt sicher auch hinter den Erwartungen zurück, die vor 50 Jahren im Zusammenhang etwa mit dem Élysée-Vertrag und der neuen Etappe dieser deutsch-französischen Beziehung entstanden sind. Auf der anderen Seite muss man sehen, dass überall in Europa und weit darüber hinaus sich so etwas wie ein großer, beinahe unwiderstehlicher Trend herausgebildet hat, neben der eigenen Muttersprache Englisch als Verständigungsmittel in internationalen und globalen Zusammenhängen zu vermitteln.

Ist das überall so?

Man macht im deutsch-französischen Verhältnis die Erfahrung, dass es in den Grenzregionen auf beiden Seiten nach wie vor ein ausgeprägtes Interesse an der jeweils anderen Sprache gibt. Je weiter man sich aus den Grenzregionen entfernt, desto mehr dominiert dann wieder das Interesse an dem allgemeinen sprachlichen Verständigungsmittel. Das ist eine Erfahrung, die man nicht nur in Westeuropa, sondern auch in Osteuropa machen kann.

Bei der Sprachförderung spielt das Deutsch-Französische Jugendwerk eine wichtige Rolle. Auch das DFJW ist in den letzten zehn Jahren reformiert worden...

Es gibt wichtige Weiterentwicklungen beim Deutsch-Französischen Jugendwerk, das eine unmittelbare Folgegründung des Élysée-Vertrages war und folgerichtig deswegen auch in diesem Jahr seinen 50. Geburtstag feiert. Das DFJW hat zu unserer großen Freude in den vergangenen Jahren durch die Einladung von Jugendlichen etwa aus Polen, den baltischen Staaten oder anderen Ländern immer häufiger seinen Aktionsradius über die beiden Länder hinaus auf andere europäische Länder erweitert. Aber für das Deutsch-Französische Jugendwerk gilt das, was für den Élysée-Vertrag und für die deutsch-französische Beziehung im Allgemeinen gilt: Je reibungsloser es funktioniert, desto routinehafter wirkt es auch notwendigerweise. Öffentliche Aufmerksamkeit finden Pannen, Pleiten und Skandale, aber und nicht Erfolgsgeschichten.

EU-Ratspräsident Herman van Rompuy plädiert in seinem Strategiepapier für die Zukunft Europas für eine neue Rolle der nationalen Parlamente. Reichen die Rechte der nationalen Parlamente nach dem Vertrag von Lissabon aus oder sollten sie in Zukunft ausgeweitet werden?

Wir haben in Europa nach wie vor keine gemeinsame Verfassung, sondern jeweils nationale Verfassungen in den Mitgliedstaaten, die sich deutlich voneinander unterscheiden. Was Deutschland angeht, sehe ich überhaupt keinen Bedarf für Klarstellungen, was die Rolle des Parlamentes im Gesetzgebungsverfahren oder in Haushaltsfragen angeht, auch nicht, was das Verhältnis von Parlament und Regierung betrifft. Über das, was die Verfassung ohnehin unmissverständlich formuliert, haben wir in den letzten Jahren die Zusammenarbeit mit der Regierung in europäischen Angelegenheiten durch ein eigenes Gesetz geregelt. Da besteht, jedenfalls für uns, weder Korrektur- noch Ergänzungsbedarf.

Aber wie können die Parlamente in Zukunft besser zusammenarbeiten?

Die Frage nach der Zusammenarbeit der nationalen Parlamente in EU-Angelegenheiten ist nicht abschließend geregelt, soweit es sich um den jeweiligen gesetzlichen Entscheidungsbedarf handelt – und insbesondere die Einbeziehung des Europäischen Parlamentes. Das ist nach den Vertragstexten aber ausdrücklich den Parlamenten zur Regelung überlassen. Das heißt, darüber kann kein Europäischer Rat befinden. Wir selber führen dazu Gespräche mit den Parlamentspräsidenten der Mitgliedstaaten.

Wie könnte diese Zusammenarbeit konkret aussehen?

Ich habe gerade gemeinsam mit meinem luxemburgischen Kollegen die Initiative ergriffen, dass wir Anfang Januar im Kreis der Gründungsstaaten der Europäischen Gemeinschaft darüber nachdenken, ob wir vielleicht einen gemeinsamen Vorschlag entwickeln können, wie wir uns, gerade was die Umsetzung der vertraglichen Verpflichtungen des Fiskalpaktes für die Haushaltsdisziplin der Mitgliedstaaten betrifft, die Einbeziehung des Europäischen Parlamentes vorstellen können.

Es kursieren auch andere Szenarien wie eine Art gemeinsame Kammer zwischen den nationalen Parlamenten und dem Europaparlament?

Auch für diesen Vorschlag gilt: Europa leidet nicht unter fehlenden Gremien. Deswegen sehe ich den Bedarf für weitere Institutionen weder auf der Ebene der Exekutive noch auf der Ebene der Legislative. Zumal gelegentlich übersehen oder verdrängt wird, dass es Entscheidungskompetenzen nur auf zwei Ebenen gibt – nämlich auf der Ebene der Mitgliedstaaten und auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft, aber nicht dazwischen. Daher sollte das, was vielleicht an Koordinationsinteresse und Informationsaustausch für wünschenswert gehalten wird, eher durch informelle Begegnungen ermöglicht werden. Neue Gremien und Organe sind dafür schon deswegen nicht erforderlich, weil sie offenkundig nichts zu entscheiden hätten.

Dahinter steht die Hoffnung, durch die Einbeziehung der nationalen Parlamente eine größere Akzeptanz für die Union in den Mitgliedstaaten zu finden...

Wir haben doch die bemerkenswerte Situation, dass nirgendwo die Sorge um eine mögliche Marginalisierung der Parlamente ausgeprägter ist als in Deutschland, also genau in dem Land, in dem der Einfluss des Parlaments größer ist als in jedem anderen europäischen Land.

(jbi/as/28.12.2012)