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Anfangs ging es nur darum, etwas anderes zu machen als die meisten. Daher entschied sich Abderrahim Essaadi dafür, Deutsch zu lernen. Doch später hat er gemerkt, dass die "nicht sehr leichte Sprache" ihm den Weg zur deutschen Philosophie ebnet. Und diese ist aus Sicht des 28-jährigen Marokkaners der "Schlüssel" zur abendländischen Philosophie. "Kant und Nietzsche sind wichtig", sagt er. Besonders Friedrich Nietzsche hat es ihm angetan. "Er war ein Genie", urteilt Abderrahim Essaadi. Nicht zuletzt aufgrund seiner Deutschkenntnisse hat es den diplomierten Germanisten für vier Wochen nach Deutschland verschlagen. Abderrahim Essaadi war Teilnehmer am erstmals speziell für Interessenten aus den arabischen Staaten aufgelegten Internationalen Parlaments-Stipendium (IPS).
Sein "Patenabgeordneter" war Kai Gehring von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. In Berlin interessierte sich Abderrahim Essaadi unter anderem dafür, wie sich die revolutionäre Protestbewegung in seinem Heimatland besser organisieren lässt.
"Wir haben einen großen Willen und starkes Engagement", sagt der 28-jährige Aktivist der Bewegung des 20. Februar. Gerade für ihn als "Leader" sei es wichtig zu lernen, dass die Mobilisierung der Menschen Schritt für Schritt erfolgen müsse. "Für mich ist es auch wichtig zu erleben, wie ein Parteivorsitzender spricht", sagt er und verweist darauf, dass gerade in seinem Heimatland die Rhetorik eine hohe Bedeutung habe.
Blickt man zurück auf den Frühling 2011, so denkt man eigentlich vor allem an die Umwälzungen in Tunesien und Ägypten. Marokko spielte in der öffentlichen Wahrnehmung eher eine kleine Rolle. Warum? Abderrahim Essaadi verweist in diesem Zusammenhang auf eine Besonderheit Marokkos im Vergleich mit den Nachbarstaaten: "Wir sind ein Königreich, und das gehört auch zu unserer kulturellen Identität", sagt er.
Daran wolle auch die Protestbewegung des 20. Februar nichts ändern, fügt er hinzu. Allerdings: "Wir sind gegen den König, aber für die Monarchie", so Abderrahim Essaadi. Ziel sei eine parlamentarische Monarchie nach dem Vorbild Englands oder Spaniens. König Mohammed VI. jedoch monopolisiere die Wirtschaft und verhinderte eine demokratische Entwicklung. "Das ist wie im Mittelalter", zeigt sich der 28-Jährige enttäuscht.
Gleichwohl scheint es dem König gelungen zu sein, durch kleine Reformversprechen die Proteste abzuwürgen. Bei den vorgezogenen Wahlen siegte schließlich die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung, "die einen großen Bonus beim Volk hat, weil sie lange in der Opposition war", sagt Abderrahim Essaadi. Inzwischen sei aber deutlich geworden: "Es ändert sich nichts." Marokko erfülle derzeit nicht die Normen eines demokratischen Landes.
"Wir haben keine wirkliche Gleichberechtigung für Frauen, dafür aber Korruption und Vetternwirtschaft." Außerdem habe das Parlament "keine Stelle im marokkanischen politischen Kontext". Hier müsse angesetzt werden, findet Abderrahim Essaadi, denn: "Ein moderner Staat braucht die Existenz eines starken Parlaments."
Doch wer steht hinter den Ideen der Bewegung des 20. Februar? Die meisten der jungen, gut ausgebildeten, aber auch der weniger gut ausgebildeten Menschen wollten verbesserte Lebensbedingungen und mehr Menschenrechte, sagt er. Viele Marokkaner würden beispielsweise nach Tunesien schauen, wo die Grundlagen der Demokratie schon gelegt worden seien. "Dann wird gefragt: Warum nicht bei uns?" Diese Frage sei "richtig und wichtig", betont Abderrahim Essaadi.
Der 28-Jährige, der nach seinem Germanistik-Studium noch ein Diplom im Studiengang "Verwaltungswesen bei Stiftungen" an der Universität Marrakesch gemacht hat, hat nach der Zeit in Berlin wieder seine Arbeit bei einer zivilgesellschaftlichen Organisation aufgenommen. "Wir versuchen dort, die Situation von Schülern zu verbessern", erläutert er. Und sagt: "Wenn wir ein demokratisches System wollen, lautet der erste, der zweite und der dritte Schritt Ausbildung."
Für diese Entwicklung in Richtung Demokratie benötige man die Hilfe europäischer Aktivisten, sagt Abderrahim Essaadi. Speziell Deutschland habe in Marokko einen sehr guten Ruf, fügt er hinzu. "Deutschland ist bei uns ein Synonym für Beethoven, Einstein, Max Weber, Volkswagen und Schumacher." Die Auflage eines IPS extra für Stipendiaten aus dem arabischen Raum zeige, "dass Deutschland uns verstehen will". Abderrahim Essaadi ist froh, dass er daran teilnehmen konnte, auch wenn das eng gestreckte Programm des vierwöchigen Aufenthalts kaum Pausen zum Verschnaufen gelassen habe. "Demokratie", so sein Fazit, "ist eben sehr anstrengend." (hau/15.10.2012)