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Bei einem Zeugen von dieser Statur ist ein gewaltiger Medienandrang zu erwarten: In seiner Zeit als Chef des Thüringer Landesamts für Verfassungsschutz (LfV) ist Dr. Helmut Roewer nach Schilderungen früherer Mitarbeiter schon mal mit dem Rad durch Büroflure gekreuzt, er legte bei Gesprächen nackte Füße auf den Schreibtisch, einmal überraschte er durch einen Auftritt in einer Uniform nach dem Muster des Weltkrieg-I-Generals Erich Ludendorff – ein solch illustre Figur taucht nicht alle Tage im Bundestag auf.
Der Untersuchungsausschuss, der Pannen und Fehlgriffe bei den Ermittlungen zu der dem "Nationalsozialistischen Untergrund" (NSU) angelasteten Mordserie durchleuchten soll, dürfte indes weniger an den schillernden Seiten Roewers und mehr an Fragen nach dessen Verantwortung für das Desaster der Thüringer Sicherheitsbehörden bei der Suche nach dem Anfang 1998 abgetauchten Jenaer "Bombenbastler"-Trio interessiert sein.
Im Ausschuss steht eine brisante Frage stets im Raum: Hätte man in Thüringen Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe noch vor ihrer Wandlung zum NSU entdecken können? Mutmaßlich wäre es dann zu der Erschießung von neun Türken, einem Griechen und einer deutschen Polizistin zwischen 2000 und 2007 gar nicht gekommen.
Im Rahmen seiner Aufklärungsarbeit befasst sich das Gremium derzeit mit Details der gravierenden Fehler von Geheimdienst, Polizei und Staatsanwaltschaft in Thüringen bei der Fahndung nach dem untergetauchten Trio. Für den Donnerstag, 21. Februar, und Freitag, 22. Februar 2013, sind sieben Zeugen geladen, vier Vertreter des LfV sollen am Donnerstag, drei Mitarbeiter des Landeskriminalamts (LKA) am Freitag aussagen.
Die Sitzungen unter Leitung von Sebastian Edathy (SPD) finden jeweils im Europasaal 4.900 des Paul-Löbe-Hauses in Berlin statt und beginnen am 21. Februar um 10 Uhr und am 22. Februar um 9 Uhr.
Besonders viel Spannung versprechen die Anhörungen Roewers, der von 1994 bis 2000 an der Spitze des Geheimdiensts stand, sowie von Peter Jörg Nocken, im LfV von 1994 an zuständig für die Informationsbeschaffung und von 1997 bis 2001 Vizepräsident des Amts.
Über die Tätigkeit der Thüringer Behörden auf dem Feld des Rechtsextremismus und speziell bei der Fahndung nach Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe hat die sogenannte Schäfer-Kommission um den früheren Bundesrichter Gerhard Schäfer ein vernichtendes Urteil gefällt: Das sei alles "ungeordnet, rastlos, chaotisch, übereifrig" abgelaufen.
Diese Kritik richtet sich auch an das LKA und die Staatsanwaltschaft in Gera, aber vor allem an den Geheimdienst: Der habe zwar über "erstklassige Erkenntnisse" zum Jenaer Trio und sogar über Hinweise zu dessen Aufenthaltsort nach dem Abtauchen verfügt, doch diese Informationen seien im LfV nicht adäquat ausgewertet und zudem meist nicht an LKA wie Staatsanwaltschaft übermittelt worden.
Die Recherchen des Ausschusses haben eine Fülle von Erkenntnissen gebracht, welche die Abgeordneten öfters ungläubig staunen ließen und die jede Menge Stoff für Fragen an Roewer, Nocken und die anderen Zeugen liefern. Bei einem ersten Auftritt vor dem Gremium hatte Nocken erklärt, das LfV habe LKA und Staatsanwaltschaft umfassend über das eigene Wissen zur Jenaer Zelle unterrichtet.
Das Gegenteil sagten hingegen Staatsanwälte, Zielfahnder Sven Wunderlich und Egon Luthardt, von 1997 bis 2002 LKA-Chef. Richtig zornig war Wunderlich, als er erfahren hatte, dass der Geheimdienst von der Waffenbeschaffung der drei Abgetauchten wusste, dies den Fahndern aber nicht mitgeteilt habe: "Das hätte für uns tödlich sein können." Nocken contra LKA: "Einer hat gelogen", konstatiert Edathy. Was sagt Roewer dazu?
Bei Staatsanwälten und LKA keimte damals sogar der Verdacht, die Suche nach dem Trio bleibe deshalb erfolglos, weil das LfV vielleicht seine schützende Hand über die Gruppe halte. Belege für diese These existieren bislang nicht. Freilich hat man im LfV 1997 offenbar erwogen, Zschäpe als Spitzel in der rechtsextremen Szene anzuwerben, dann aber auf diesen Schritt verzichtet.
Wunderlich fand im Übrigen die Angaben des Vaters von Mundlos nach dem Verschwinden der Zelle "sehr glaubwürdig", Zschäpe sei eine "Quelle" des Geheimdiensts, wobei der Fahnder dieser Sache aber nicht näher nachging. Viel Stoff für ein Nachhaken der Abgeordneten.
Umstritten ist die V-Leute-Praxis des LfV. Warum, fragt man sich im Ausschuss, wurde mit Tino Brandt als Informant ausgerechnet die Führungsfigur des "Thüringer Heimatschutzes" (THS) eingesetzt, in dessen Reihen auch das Jenaer Trio vor seinem Abtauchen aktiv war? Beim Geheimdienst galt Brandt damals als vorzügliche Quelle, er soll über die Jahre insgesamt 200.000 Mark als Belohnung erhalten haben.
Aber waren die Mitteilungen dieses Spitzels tatsächlich so ergiebig? Kurz vor seinem Ausscheiden als LfV-Präsident schaltete Roewer diese "Quelle" ab, nach seinem Abgang wurde Brandt jedoch wieder aktiviert. Immer wieder für Gesprächsstoff sorgt die Frage, ob der THS-Boss seine dicke Entlohnung vielleicht auch zur Finanzierung seines Netzwerks genutzt haben könnte.
Nach Roewers Erläuterungen vor dem Thüringer Untersuchungsausschuss existierten beim Geheimdienst keine speziellen Dienstvorschriften für die Führung von V-Leuten, es sei jeweils "anlassbezogen" entschieden worden. Ein Zeuge erzählte vor dem Erfurter Gremium, im LfV sei schon mal beim Kaffee auf dem Flur offen über V-Leute geredet worden, einen Quellenschutz in der Behörde habe es nicht gegeben.
Vielleicht kommt bei Roewers Vernehmung in Berlin auch ein gewisses Detail zur Sprache: Es soll ein Spitzel namens "Günther" existiert haben, den der Ex-Chef des Geheimdiensts persönlich geführt habe – und dessen Klarnamen nur Roewer kenne. Zumindest in diesem Fall hätte der Quellenschutz bis heute funktioniert. (kos/14.02.2013)
Zeit: Donnerstag, 21. Februar 2013, 10 Uhr
Ort: Berlin, Paul-Löbe-Haus, Europasaal 4.900
Zeit: Freitag, 22. Februar 2013, 9 Uhr
Ort: Berlin, Paul-Löbe-Haus, Europasaal 4.900
Interessierte Besucher können sich im Sekretariat des Unterausschusses unter Angabe des Vor- und Zunamens sowie des Geburtstags und des Datums der öffentlichen Sitzung anmelden (E-Mail: 2.untersuchungsausschuss@bundestag.de, Fax: 030/227-30084). Zur Sitzung muss ein Personaldokument mitgebracht werden.
Bild- und Tonberichterstatter können sich beim Pressereferat (Telefon: 030/227-32929 oder 32924) anmelden.
Donnerstag, 21. Februar
Dr. Helmut Roewer, Präsident des Thüringer Landesamts für Verfassungsschutz a.D.
Peter Jörg Nocken, Vizepräsident des Thüringer Landesamts für Verfassungsschutz a.D.
Friedrich Karl Schrader
Mike Baumbach
Freitag, 22. Februar
Jürgen Dressler, Erster Kriminalhauptkommissar
Michael Brümmendorf, Kriminalhauptkommissar
Christiane Beischer-Sacher, Kriminalhauptkommissarin
kos