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Der Westen hat nach Ansicht von Tom Koenigs (Bündnis 90/Die Grünen) jetzt die Chance, seine Beziehung zu arabischen Ländern auf menschenrechtlicher Basis auszubauen. "Deswegen vermisse ich jetzt entsprechende Beherztheit", sagt der Vorsitzende des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe im Interview. "Alle haben zuerst einmal Angst, statt sich über die Demokratiebewegung zu freuen", stellt Koenigs fest und betont: "Wir müssen klare Prioritäten setzen. Erst einmal kommen die Menschenrechte und dann vielleicht unsere Angst vor Flüchtlingen oder Islamisten oder irgendwas". Das Interview im Wortlaut:
Nach einem Aufstand in Tunesien Ende Januar bricht eine despotische Herrschaft nach der anderen in unmittelbarer europäischer Nachbarschaft zusammen und alle sind überrascht. Warum?
Was jetzt in Nordafrika und anderen arabischen Ländern passiert, hat niemand so voraussagen können. Wahrscheinlich haben die Demonstranten selbst nicht geahnt, was sie mit ihrer Empörung in Bewegung setzen. Wir wissen nicht, wie es weitergeht. Auch die EU wirkt bedauerlicherweise ratlos und reagiert nur zögerlich angesichts der Toten in Libyen und Ägypten.
Viele Oppositionelle sind aus der Deckung getreten ohne zu wissen, was passieren wird. Was können deutsche Abgeordnete tun, um ihre Kollegen zu schützen?
Es ist wichtig, in die jeweiligen Länder zu reisen und Kontakte zu knüpfen. Wichtig ist auch, dass die Botschaften die Kontakte ausschöpfen und sich neu orientieren. Wer gut mit der Zivilgesellschaft zusammenarbeitet, kann mehr erreichen als diejenigen, die sich nur auf die Regierungskontakte konzentrieren.
Mit dem interfraktionellen Antrag (15/2078) "Schutz von bedrohten Menschenrechtsverteidigern" ist im Jahr 2003 die Aktion "Parlamentarier schützen Parlamentarier" ins Leben gerufen worden. Was ist bisher erreicht worden?
Diese Institution des Menschenrechtsausschusses stellt Kontakte zu Parlamentariern her, die verfolgt oder bedroht werden. Wir wollen den jeweiligen Machthabern damit signalisieren: Wir bekommen mit, was in euren Ländern vor sich geht. Wir unterstützen diejenigen, die ihr unterdrückt. Das hilft manchmal schon. Wir wollen aber auch hören, was die bedrohten Parlamentarier - oft sind es Oppositionelle - zu sagen haben. Auch in den Ländern, die jetzt in den Schlagzeilen sind, unterstützen wir Politiker. Wichtig ist, sie durch Aufmerksamkeit aus der Anonymität zu holen. Diejenigen, die aus der Haft entlassen werden, bestätigen uns immer wieder, wie wichtig es ist, dass sie nicht vergessen werden. Vielleicht ist der Erfolg bescheiden, aber wenn nur einem geholfen wird, ist viel erreicht.
Müsste diese Aktion jetzt gestärkt werden?
Ja, insbesondere jene, die im Gefängnis waren und jetzt freikommen, brauchen unsere Unterstützung, damit sie sich wiederum in ihrem Land einsetzen können. Auch wenn jetzt vieles im Umbruch ist, wird es auch künftig Oppositionelle geben. Und dass Gewalt und Rechtlosigkeit überall im Maghreb sofort aufhören, ist kaum zu erwarten.
Wie viele Parlamentarier unterstützen die Aktion?
Acht Bundestagabgeordnete pflegen eine ständige bilaterale Patenschaft. Es gibt jedoch mehr Abgeordnete, die sich immer mal wieder einbringen. Ich würde mich aber freuen, wenn mehr Parlamentarier mitmachen. Wir haben derzeit rund 700 bedrohte Parlamentarier und Aktivisten in der Datenbank. Der Erfolg des Programms hängt vom individuellen Engagement der Abgeordneten ab. Der Ausschuss kann nur eine Servicestelle sein.
Wird sich der Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe gesondert mit den Umwälzungen in Nordafrika befassen?
Der Ausschuss befasst sich auch mit der aktuellen Situation. Die Bewegung in Nordafrika zeigt, wovon wir Menschrechtaktivisten seit langem überzeugt sind: Menschenrechte und der Wunsch nach Freiheit sind universell. Den Regimen, in denen die Menschenrechte mit Füßen getreten werden, wird jetzt klar, dass es eine Kraft gibt, die aus den Menschenrechten kommt. Das ist ein Aufstand, der sagt: Wir wollen Freiheit, Demokratie und Menschenrechte. Diejenigen sind widerlegt, die immer gesagt haben, dass die arabische Welt mit Menschenrechten nichts anfangen kann. Jeder kann sehen, dass dort Frauen und Männer zusammen für ihre Rechte demonstrieren.
Die einen bezeichnen die Umwälzungen als Demokratiebewegung, andere als Revolution. Sie sehen eine Menschenrechtsbewegung?
Das ist eine Bewegung für Demokratie, Freiheit und Menschenrechte. Die Gründe für die Proteste sind vielschichtig. Da gibt es Demonstranten, die sagen, die Lebensmittelpreise sind zu hoch. Die Menschen sind wütend, weil die Armut gerade angesichts des Reichtums einzelner Länder an Bodenschätzen und des Reichtums der Regierenden absurd groß ist und die Würde der Demonstranten angreift. Die Forderung nach Würde spielt bei vielen Demonstranten eine große Rolle. Und die Würde des Menschen zu schützen, ist der Kern der Menschenrechte. Der Westen hat jetzt die Chance, seine Beziehung zu den jeweiligen Ländern auf menschenrechtlicher Basis auszubauen. Deswegen vermisse ich jetzt entsprechende Beherztheit. Alle haben zuerst einmal Angst, statt sich über die Demokratiebewegung zu freuen. Wir müssen klare Prioritäten setzen. Erst einmal kommen die Menschenrechte und dann vielleicht unsere Angst vor Flüchtlingen oder Islamisten oder irgendwas.
Ist für die Zukunft zu erwarten, dass Menschen in anderen Regionen dem Vorbild Nordafrikas folgen? Wie kann dann reagiert werden? Ist ein Technisches Hilfswerk für Oppositionsbewegungen nötig?
Wenn wir deutlich machen, dass uns Menschenrechte wichtiger sind als geostrategische Interessen und wir uns auf die Seite derer stellen, die für Demokratie und Menschrechte streiten, dann stärken wir Menschenrechtsaktivisten mehr als durch technische Ausstattungshilfe ihrer Büros. Wir haben Botschaften und Auslandbüros der Parteienstiftungen in vielen dieser Länder, die wir als Anlaufpunkt für solche Bewegungen begreifen sollten. So sind zum Beispiel die Umwälzungen damals gegen die portugiesische Diktatur auch durch das Goethe-Institut gefördert worden. Die Menschenrechtsverteidiger sollen wissen, dass die deutschen Einrichtungen auch ihnen offenstehen und ihnen einen Raum für zivilgesellschaftliche Aktivitäten geben. Wir sollten uns in unserer diplomatischen Zusammenarbeit auch mehr auf Bildungsinstitutionen konzentrieren - vor allem Universitäten. Wenn es eine Demokratisierung im Iran geben sollte, wird sie von der universitären Jugend ausgehen. Da liegen die Chancen. Jedoch zu glauben, Stabilität bedeute, auf die autoritären Staatsführungen zu setzen, ist ein Fehler.
Freiheit bedeutet, sein Glück in die Hand nehmen zu können. Viele Nordafrikaner werden aus der Aussichtslosigkeit nach Europa flüchten wollen. Steuert die EU auf eine Krise zu?
Das ist eine nachrangige Angelegenheit. Wir sollten nicht Europa zu einer Festung aufrüsten, sondern müssen mit dieser humanitären Situation umgehen. Die Flüchtlinge müssen aufgenommen werden, ein Dach über den Kopf bekommen und eine vernünftige, rechtsstaatliche Behandlung. Es ist selbstverständlich, dass wir nicht alle einreisen lassen können. Aber jedem, der aus welchen Gründen auch immer in einem Schlauchboot über das Mittelmeer fährt, muss Schutz gewährt werden. Es gibt sehr viele, die auch jetzt noch gute Gründe haben zu fliehen. Denen sollten wir mindestens Asyl anbieten. In Zukunft muss das Thema auf mehreren Eben diskutiert werden. Gegenwärtig hat die Politik ein negatives Verhältnis zum Thema Immigration. Aber irgendwann müssen legale Möglichkeiten der Einreise nach Europa gefunden werden, die auch die demografischen Probleme ausgleichen können. Es ist ja keineswegs so, dass die, die nach Deutschland einwandern wollen, nur diejenigen wären, die hier nicht gebraucht würden. Unkontrollierte Einwanderungsströme sind auch immer ein Ergebnis des Fehlens einer legalen Organisierung von Einwanderung. Wir sind ein Einwanderungsland und werden auch lange eines bleiben, haben aber nicht die dafür notwendigen Gesetze und Institutionen. Doch es darf auch nicht vergessen werden, dass Länder wie Tunesien, Ägypten und Libyen positive Entwicklungschancen haben. Wir müssen diese Länder jetzt darin unterstützen, dass sie diese Chancen wahrnehmen. So beugen wir einer Armutsmigration viel besser vor als durch eine Abschottung der EU-Außengrenzen.
Werden wir in zehn Jahren Festtags- und Jubiläumsreden auf das Jahr 2011 halten?
Voraussagen kann ich es nicht. Ich hoffe aber, dass wir einen demokratisch organisierten Mittelmeerraum haben werden und wir Beziehungen zwischen Europa, dem Nahen Osten und Nordafrika pflegen, die von wirtschaftlicher Kooperation und produktivem und respektvollem Miteinander geprägt sind. Wir sollten die Chance jetzt nutzen, das Mittelmeer wieder zu dem zu machen, was es lange Zeit war: ein gemeinsamer Raum des lebendigen Austausches.
(eis)