Navigationspfad: Startseite > Dokumente > Web- und Textarchiv > 2011 > Stuttgart 21
Einen von Polemik nicht freien Schlagabtausch haben sich am Donnerstag, 30. Juni 2011, Union und FDP einerseits sowie Linksfraktion und Bündnis 90/Die Grünen auf der anderen Seite geliefert. Anlass war eine von CDU/CSU und FDP beantragte Aktuellen Stunde zum vier Milliarden Euro teueren Bahnhofsprojekt Stuttgart 21. Die Koalitionsfraktionen forderten die baden-württembergische Landesregierung dazu auf, das Ergebnis des Stresstests respektieren und keine Blockadepolitik zu betreiben.
Die CDU-Abgeordneten Stefan Kaufmann und Steffen Bilger sowie der FDP-Parlamentarier Hartfrid Wolff traten mit Nachdruck für die unterirdische Tieferlegung des Kopfbahnhofs und für dessen Umwandlung in eine Durchgangsstation ein, um Baden-Württemberg als Wirtschaftsstandort zu stärken und um das Land nicht vom europäischen Schienenverkehrsnetz abzukoppeln. Als entschiedene Gegner von Stuttgart 21 warben Michael Schlecht (Linke) und Dr. Anton Hofreiter (Bündnis 90/Die Grünen) dafür, das Projekt doch noch zu stoppen: Die Bahn agiere "nicht immer seriös“ (Hofreiter) und verfolge einen "Rambokurs“ (Schlecht).
Die Abgeordneten Uwe Beckmeyer und Ute Kumpf von der SPD, die für Stuttgart 21 ist, riefen dazu auf, vor einem Urteil über den Stresstest dessen öffentliche Erörterung unter Schlichter Heiner Geißler (CDU) abzuwarten. Vielleicht sei dann die von der grün-roten Landesregierung geplante Volksabstimmung über Stuttgart 21 nicht mehr nötig, so Kumpf.
Bei der Schlichtung zu Stuttgart 21 im Herbst 2010 hatte Geißler einen Stresstest angeordnet, um zu prüfen, ob der neue Tiefbahnhof gegenüber dem alten Kopfbahnhof in Stoßzeiten zu einer 30-prozentigen Leistungssteigerung fähig ist. Zudem soll unter anderem untersucht werden, ob zwei zusätzliche Gleise erforderlich sind und wie man den Bahnhof behindertengerecht gestalten kann. Die Ergebnisse des Tests, der von der Schweizer Gutachterfirma SMA zertifiziert werden muss, sollen am 14. Juli vorgestellt werden.
Kaufmann erklärte, der Stuttgarter Verkehrsminister Winfried Hermann und nicht die Bahn habe zuerst die Nachricht an die Öffentlichkeit lanciert, der Stresstest sei für Stuttgart 21 positiv verlaufen. Wenn der Grünen-Politiker jetzt die Bahn kritisiere, sie habe diese Meldung publik gemacht, und behaupte, er sei über den Verlauf des Stresstests nicht informiert gewesen, dann sage er die "Unwahrheit“ und werfe "Nebelkerzen“.
Kaufmann appellierte an die Regierung in Stuttgart, die zu diesem Vorhaben geschlossenen Verträge einzuhalten. Stuttgart 21 dürfe nicht "grüner Parteitaktik“ zum Opfer fallen. Bilger rechnet damit, dass SMA das Okay gibt und das Projekt damit den Test besteht.
Der CDU-Abgeordnete warf Hermann vor, nicht klar zu sagen, ob er das Ergebnis dieser Prüfung akzeptiert oder nicht. Aufgrund der zusätzlichen Maßnahmen, die sich als Konsequenz aus dem Stresstest ergäben, würden Mehrkosten von nur 40 Millionen Euro anfallen. Bilger sagte, er freue sich auf den Volksentscheid über Stuttgart 21 und dabei auf die "Zusammenarbeit mit der SPD“.
Den Umgang Hermanns mit der Bahn bezeichnete Wolff als "unverschämt“. Ministerpräsident Wilfried Kretschmann und die Grünen würden bei dem Konflikt um das Bahnhofsprojekt die "Geister, die sie riefen, nicht mehr los“.
Der FDP-Abgeordnete kritisierte die "von den Grünen geförderte Empörungskultur“. Der Liberale hielt der SPD vor, als Befürworter des Vorhabens "die Grünen gegen Stuttgart 21 kämpfen zu lassen, selbst aber zu schweigen“. In Baden-Württemberg sei die SPD zum "Bettvorleger“ eines Ministerpräsidenten von den Grünen geworden.
Beckmeyer rief dazu auf, mehr "Gelassenheit“ an den Tag zu legen und "Aufregungen“ zu vermeiden. Entgegen dem von Union und FDP erweckten Eindruck lägen die Ergebnisse des Stresstests noch nicht vor. Erst nach der Zertifizierung und nach der Präsentation am 14. Juli lasse sich sagen, ob diese Prüfung zu einem akzeptablen Resultat geführt habe. Es sei dann Sache der Bahn, so der SPD-Parlamentarier, zu entscheiden, ob sie Stuttgart 21 im Rahmen des Kostenlimits von 4,5 Milliarden Euro bauen könne.
Kumpf erklärte, es sei nicht ersichtlich, warum die Koalition die Aktuelle Stunde überhaupt auf die Tagesordnung gesetzt habe, wo die Ergebnisse des Stresstests doch gar nicht bekannt seien. Hofreiter warf sie vor, "Bahnbashing“ zu betreiben. Auch die Grünen müssten sich beim Streit um Stuttgart 21 der Verantwortung stellen. Die Stuttgarter wollten bei diesem Konflikt endlich Klarheit, so die SPD-Abgeordnete, und hätten die Belastungen durch Demonstrationen "dicke“. Die Stadt befinde sich in einem Zustand der "Erschöpfung“.
Für Schlecht ist der Stresstest eine "Farce“ und ein "Manipulationstest“, weil die Bahn "so lange gerechnet hat, bis das herauskommt, was ihr in den Kram passt“. Diese Prüfung verlaufe nicht transparent, auch würden die Gegner von Stuttgart 21 nicht einbezogen. Der Abgeordnete der Linken rügte, es werde nicht untersucht, ob auch der bisherige Kopfbahnhof so weiterentwickelt werden könne, dass eine 30-prozentige Leistungssteigerung möglich sei.
Aus Sicht Schlechts ist Stuttgart 21 "kein Eisenbahnprojekt, sondern im Kern ein Immobilienprojekt“. CDU, FDP und "leider auch die SPD“ hätten mehr Verständnis für Immobilienspekulanten als für die Bürger. Es gebe die Chance, so der Sprecher der Linksfraktion, Stuttgart 21 "nach wie vor zu Fall zu bringen“.
Für die Grünen verteidigte Hofreiter den Stuttgarter Verkehrsminister mit dem Hinweis auf eine Äußerung Geißlers, wonach Hermann ein "Überzeugungstäter“ sei, und die seien ihm lieber als "angepasste Polit-Yuppies“. Wenn die Koalition erkläre, die zu Stuttgart 21 geschlossenen Verträge seien nicht mehr zu ändern, so sei dies "amüsant“ und "lächerlich“ angesichts der "180-Grad-Wende“ der Koalition beim Atomausstieg.
Da die Bahn bei zentralen Konflikten "nicht immer seriös“ agiere, seien Zweifel an deren Zahlen verständlich. Nun solle man die Vorlage des Stresstests abwarten, so Hofreiter an die Adresse von Union und FDP: "Bleiben Sie gelassen und entspannen Sie sich.“ (kos)