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Zuhören, nachfragen, ein Gefühl für die Dinge bekommen: Wahlkreisarbeit bedeutet für den Bundestagsabgeordneten Stefan Schwartze (SPD) in erster Linie, im Kontakt mit den Menschen vor Ort zu sein. Was sie denken, welche Probleme sie bewegen oder wie die Berliner Politik bei ihnen ankommt, will er aus erster Hand erfahren. Deswegen sucht Schwartze das Gespräch. So oft wie möglich ist er in seinem ostwestfälischen Wahlkreis Herford - Minden-Lübbecke II unterwegs. Bundestag.de hat ihn einen Tag lang begleitet.
"Morg'n!" Es ist kurz vor 9 Uhr, als plötzlich Stefan Schwartze im Büro steht: Groß, ein wenig stämmig, in Jeans und Jackett. Die Augen wirken noch müde, als er sich bückt und seine dunkle Aktentasche auf den Boden neben den Besprechungstisch stellt. Viel Platz ist nicht in seinem Herforder Wahlkreisbüro.
Der Raum im Erdgeschoss der grauen Jahrhundertwende-Villa, das die SPD als Geschäftsstelle nutzt, ist mit einem Schreibtisch, Computer, Drucker, Kopierer und Aktenregalen fast komplett gefüllt. "Tja, mein Schreibtisch passte nicht mehr rein", scherzt Schwartze.
Doch da er - wenn er nicht während der Sitzungswochen des Bundestages in Berlin ist - sowieso die meiste Zeit im Wahlkreis auf Achse ist, zwischen seinen Büros in Herford und Bünde sowie etlichen Terminen hin und her pendelt, braucht er auch keinen. Wenn er Unterlagen durcharbeiten muss, setzt er sich eben "zuhause im Keller" an den Schreibtisch.
Zuhause ist der 36-Jährige in Vlotho, einer Kleinstadt an der Weser mit 20 000 Einwohnern, etwa 18 Kilometer von Herford entfernt. Hier ist er zur Schule gegangen, hier hat er seine Ausbildung zum Industriemechaniker gemacht und elf Jahre bei dem Wäschereitechnik-Unternehmen "Kannegiesser" gearbeitet.
Und hier trat er auch, damals 20 Jahre alt, in die SPD ein: Er gründete die Juso-AG, engagierte sich im Orts- und Stadtverband und begleitete als sachverständiger Bürger die Gemeinderatssitzungen. 1999 kandidierte Schwartze schließlich selbst - für den Kreistag in Herford, dem er daraufhin zehn Jahre angehörte. Seit Herbst 2009 ist er nun Abgeordneter des Bundestages und Mitglied im Familien- sowie im Petitionsausschuss.
Die Anliegen der Bürger stehen für den jungen Politiker nicht nur hier im Mittelpunkt. Auch im Wahlkreis sucht er das Gespräch. Einerseits, um die "Rückkopplung zur Basis" zu haben, wie er sagt, andererseits, um ihre Meinung mit in den Bundestag zu nehmen: "Es ist wichtig, dass die Argumente der Basis in Berlin gehört werden."
"Gibt’s noch Kaffee?" Schwartze zieht einen Stuhl heran und setzt sich an den Tisch. Bernd Gottschling - graue Haare, grauer Vollbart - holt eine Thermoskanne und Tassen. Seit zwei Jahren ist er Schwartzes Mann vor Ort, selbstverständlich Genosse und ebenfalls in der Kommunalpolitik aktiv.
Acht Jahre hat er bereits das Büro für Schwartzes Vorgänger Wolfgang Spanier, geleitet. Seit Schwartze den Wahlkreis 2009 direkt gewonnen hat, kümmert sich Gottschling um dessen Büro, beantwortet Bürgerbriefe und verwaltet den Terminkalender. Auf den Nachwuchspolitiker hält er große Stücke: "Der kennt die Arbeitswelt und die Probleme." Schwartze könne außerdem "gut zuhören". Dieser trinkt gerade einen Schluck Kaffee, als Gottschling mahnt: "Stefan, du musst los, dein nächster Termin im Haus Herrmannstraße beginnt um halb zehn."
Anders als in Berlin, wo die Abgeordneten den Fahrdienst des Bundestages nutzen können, ist Schwartze im Wahlkreis stets mit dem eigenen Auto unterwegs. Und das sehr viel. Der Wahlkreis ist groß und ländlich geprägt: "20 000 Kilometer pro Jahr kommen da schnell zusammen", sagt Schwartze und eilt, großen Pfützen ausweichend, zu seinem dunkelblauen Wagen, der auf dem Parkplatz hinter der SPD-Geschäftsstelle parkt. Die wichtigsten Gegenstände darin: Ein Navigationsgerät - und eine Sammlung von Krimi-Hörbüchern: "Hilft zu entspannen zwischen den Terminen."
9.35 Uhr. Schwartzes Wagen rollt auf den Hof des Hauses in der Herrmannstraße. Vier Sozialeinrichtungen haben im vergangenen Jahr hier ihre neuen Räume bezogen: die städtische Wohnungslosenhilfe, die Sozialberatungsstelle der Diakoniestiftung, die "Medizinische Hilfe für Bedürftige" und der "Herforder Mittagstisch". Haupt- und Ehrenamtliche arbeiten hier unter einem Dach. Das sei einmalig in Nordrhein-Westfalen, erklärt Schwartze und klingelt an der Tür.
Wenig später geben ihm die Leiter der vier Einrichtungen einen Überblick über ihre tägliche Arbeit, berichten von den Problemen, mit denen sie zu kämpfen haben. So sei es zwar gelungen, die Zahl der Wohnungslosen zu verringern, Obdachlosenunterkünfte zu schließen und Bedürftige stattdessen in normalen Wohnungen zu betreuen, erklärt Ingrid Ambratis, Mitarbeiterin der Wohnungslosenhilfe.
Doch weil inzwischen auch ganze Familien obdachlos werden, stoßen die Helfer immer öfter an ihre Grenzen: "Eine Wohnung für eine einzelne Person können wir leicht finden, aber für eine sechs- oder achtköpfige Familie...?" Ambratis guckt den Bundestagsabgeordneten an. Der nickt nachdenklich. Einige Male zückt Schwartze den Stift und notiert sich etwas.
Dass immer mehr junge Menschen obdachlos würden, lässt den Politiker aufhorchen - als Mitglied des Familienausschusses ist diese Information wertvoll. "Ein Drittel aller Wohnungslosen sind in Herford unter 30 Jahre", klagt ein Mitarbeiter der Sozialberatung. "Zwei bis sechs Prozent sind sogar unter 20." Schwartze will diese Zahlen mit nach Berlin nehmen. "Ich werde dazu sicher auch ein Gespräch mit der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnunslosenhilfe führen - mal sehen, ob die Situation bundesweit ähnlich ist", sagt er später.
Um 12.30 Uhr heißt es dann Ärmel hoch und Schürze umbinden: Der Herforder Mittagstisch, der sich größtenteils über Spenden finanziert und im Erdgeschoss des Hauses eine Kantine für Bedürftige betreibt, öffnet - und Schwarze will mithelfen, das Essen zu verteilen.
Vorsichtig balanciert er in jeder Hand einen Teller Gemüsesuppe durch die Tischreihen: "Wer möchte?" Schwartze stellt sich hier und da vor, sagt, dass er Bundestagsabgeordneter ist und heute die ehrenamtlichen Helfer unterstützen will. Das kommt gut an.
"Gratuliere, dass du hier arbeitest", ruft plötzlich ein älterer Mann und klopft dem Politiker anerkennend auf den Rücken. "Helmut Malachewitz*, das ist ein echtes Original", erzählt Schwartze. Ein paar Zähne fehlen, aber trotz Arbeitslosigkeit lässt er sich nicht hängen. "Immer mit Anzug und Krawatte", sagt Schwartze lächelnd, "und SPD-Mitglied."
13.20 Uhr. Inzwischen ist Schwartze wieder im Auto unterwegs. Quer geht es jetzt im strömenden Regen durch die Stadt. Er schaltet die Scheibenwischer ein und gibt Gas. Um 13.30 Uhr ist Schwartze mit Ralf Hoffmann, dem Kreisgeschäftsführer des Deutschen Roten Kreuzes, zum Essen verabredet.
Bei Schweinemedaillons und Bratkartoffeln lässt sich Schwartze über die Fortschritte beim Bau des Mehrgenerationenhauses auf den neuen Stand bringen, welches das DRK gerade in Herford fertigstellt. Kindertagesstätte, Stadtteilcafé und Wohnungen sowohl für Familien als auch für Ältere und Behinderte sollen unter dem Dach einer früheren Schule in einem sozial schwachen Viertel entstehen.
Doch im vergangenen Jahr drohte plötzlich die Förderung durch das "Aktionsprogramm Mehrgenerationenhäuser" des Bundesfamilienministeriums auszulaufen. Viele geplante Angebote wie Computerkurs oder Krabbelgruppe standen auf der Kippe. Hoffmann und seine Mitarbeiter waren so empört, dass sie "ihrem" Abgeordneten in Berlin ein Positionspapier gegen die Kürzungen überreichten. Das machte Schwartze dann zum Thema im Ausschuss. Offenbar mit Erfolg. Die Kürzungen sind jedenfalls vom Tisch.
15.15 Uhr. Mit glänzenden Augen steht Hoffmann im Nieselregen vor dem früheren Schulgebäude und zeigt Schwartze, wie der Hof umgestaltet werden soll. "Hier im Viertel gibt es doch nichts, wo man sich treffen und etwas zusammen machen könnte", sagt Hoffmann. Mit dem Mehrgenerationenhaus solle nun das ganze Quartier wieder belebt werden.
Bei der alten Dame, deren Zweizimmerwohnung im ersten Stock Schwartze jetzt besichtigt, hat es schon funktioniert: Ihre frühere Wohnung hatte sie seit fast zwei Jahre nicht mehr verlassen, weil sie mit dem Rollator nicht die Treppe bewältigen konnte. Ihr neues Heim hat nun einen Fahrstuhl - und ein barrierefreies Bad, das sie dem Abgeordneten zum Abschluss seiner Tour durch das Haus glücklich zeigt.
16 Uhr. Schwartze verabschiedet sich. Er muss dringend nach Hause an den Schreibtisch. Am Abend moderiert er die Podiumsdiskussion "Energiewende jetzt!", zu der er gemeinsam mit dem SPD-Abgeordneten Dirk Becker aus dem angrenzenden Wahlkreis Lippe I ins Herforder Kreishaus eingeladen hat.
Ein bisschen sorgt er sich, dass am Abend vor Fronleichnam viele Plätze leer bleiben könnten. "Na ja, sagen wir mal, der Termin ist gewagt", konstatiert Schwartze in seiner westfälisch-trockenen Art und steigt ins Auto.
19 Uhr. Zu Schwartzes Überraschung füllen sich die Sitzreihen in Sitzungssaal 300 des Kreishauses. Nach drei Referaten kommt gegen 20 Uhr die Diskussion richtig in Fahrt. Dass der Ausbau der erneuerbaren Energien, wie von Schwartze und Becker gefordert, zügig vorangetrieben werden muss, darin sind sich die meisten der Frauen und Männer einig.
Doch manche sind skeptisch: "Wir werden erhebliche Probleme mit der öffentlichen Meinung kriegen, wenn die Überlandleitungen gebaut werden", befürchtet ein SPD-Genosse. "Wir müssen die Menschen aufklären", fordert ein anderer. Einem Berufsschullehrer fehlt dafür das Unterrichtsmaterial. Und einer Gewerkschafterin bereitet das Tempo des Atomausstiegs Kopfzerbrechen: "Was fangen wir an mit den Altlasten der Atomkraftwerke?" Schwartze guckt zufrieden. Die Menschen diskutieren, was will er mehr? "Und es waren nicht nur Leute aus den eigenen Reihen", sagt er froh.
21.15 Uhr. Die Diskussion ist vorbei. Schwartze kehrt zum Wagen und seinem Krimi-Hörbuch zurück. Doch viel Zeit zum Entspannen hat er nicht. Gegen 8 Uhr am nächsten Morgen geht es schon wieder los: Die "Rödinghauser Umweltkids" brechen dann zu einer Elektrorad-Tour in die Niederlande auf, um für erneuerbare Energien zu werben.
Schwartze will die Zwölf- bis Fünfzehnjährigen ein Stück begleiten: 25 Kilometer von Rödinghausen bis ins niedersächsische Melle - auf dem Elektrorad. Schwartze lacht: "Ich probiere das zum ersten Mal. Man muss aber durchaus auch selbst treten." (sas)
* Name geändert