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Im Streit um eine Neuregelung des Wahlrechts rufen mehrere Sachverständige die Bundestagsfraktionen auf, sich bei der Reform auf einen Konsens zu verständigen. „Versuchen Sie sich zu einigen", mahnte Prof. Dr. Ute Sacksofsky von der Goethe-Universität Frankfurt am Main am Montag, 5. September 2011, in einer Experten-Anhörung des Innenausschusses unter Vorsitz von Wolfgang Bosbach (CDU/CSU).
Sie warb dafür, eine „überfraktionelle und nicht nur zwei Fraktionen umfassende Regelung des Wahlrechts" zu finden. Ähnlich äußerte sich Prof. Dr. Friedrich Pukelsheim von der Universität Augsburg: „Egal was, aber machen Sie es gemeinsam", sagte er. Ein mangelnder Konsens bei Wahlsystemfragen entziehe „dem demokratischen Gemeinwesen die Gewissheit seiner Legitimation".
Kontrovers beurteilten die Sachverständigen die Gesetzentwürfe der CDU/CSU- und der FDP-Fraktion (17/6290) sowie der SPD-Fraktion (17/5895), der Fraktion Die Linke (17/5896) und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen (17/4694). Mit den Vorlagen reagieren die Abgeordneten auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 3. Juli 2008, in dem der Gesetzgeber verpflichtet wurde, das Wahlrecht „spätestens bis zum 30. Juni 2011" zu reformieren.
Wie die Richter in ihrer Entscheidung (Az: 2 BvC 1/07, 2 BvC 7/07) urteilten, verstößt das Bundeswahlgesetz punktuell gegen die Verfassung, weil „ein Zuwachs an Zweitstimmen zu einem Verlust an Sitzen der Landeslisten oder ein Verlust an Zweitstimmen zu einem Zuwachs an Sitzen der Landeslisten führen kann". Dieser paradoxe Effekt des sogenannten negativen Stimmgewichts tritt im Zusammenhang mit Überhangmandaten auf, die Parteien erhalten, wenn sie in einem Land mehr Direktmandate erringen, als ihnen laut Zweitstimmenergebnis zusteht.
Die Koalitionsfraktionen schlagen nun vor, die bisher mögliche Verbindung von Landeslisten einer Partei abzuschaffen. Damit könnten die in einem Bundesland errungenen Zweitstimmen einer Partei nicht mehr mit den in einem anderen Land erzielten Zweitstimmen verrechnet werden. Durch den Verzicht auf Listenverbindungen werde die Häufigkeit des Auftretens des negativen Stimmgewichts „erheblich reduziert".
Ergänzt werden soll die Neuregelung laut Koalitionsvorlage „um eine Sitzverteilung auf der Grundlage von Sitzkontingenten der Länder, die sich nach der Anzahl der Wähler in den Ländern bestimmen". Ist die Zahl der Zweitstimmen einer Partei, die in den 16 Ländern nicht zu einem Sitz geführt haben, größer als die im Bundesdurchschnitt für ein Mandat erforderliche Stimmenzahl, sollen dem Entwurf zufolge zum Ausgleich weitere Mandate vergeben werden.
Die SPD-Fraktion sieht vor, die Zahl der Abgeordneten gegebenenfalls „so weit anzupassen, dass Überhangmandate im Verhältnis der Parteien zueinander vollständig ausgeglichen werden". Mit einer solchen Gesetzesänderung entfalle das negative Stimmgewicht „bis auf seltene und unvermeidliche Ausnahmefälle", schreibt die Fraktion.
Nach den Gesetzentwürfen der Links- und der Grünen-Fraktion soll die Anrechnung von Direktmandaten auf das Zweitstimmenergebnis künftig bereits auf der Bundesebene und nicht mehr auf Länderebene erfolgen. Sofern dann in Fällen wie bei der nur in Bayern vertretenen CSU, bei der die Anrechnung auf Bundesebene nicht möglich ist, dennoch Überhangmandate entstehen, sollen diese nach dem Willen der Linksfraktion mit Ausgleichsmandaten kompensiert werden.
Die Grünen-Fraktion sieht dagegen vor, dass in solchen Fällen entstandene Überhangmandate nicht mehr zuerkannt werden. Unbesetzt bleiben sollen dabei „diejenigen überschüssigen Sitze, die den geringsten prozentualen Stimmanteil aufweisen".
Tim Weber vom Verein Mehr Demokratie kritisierte, das Problem des negativen Stimmgewichts werde von der Koalitionsvorlage nicht gelöst. Der Gesetzgeber müsse künftig ein Anwachsen der Überhangmandate verhindern, was der Koalitionsentwurf nicht leiste. Sacksofsky nannte es „eindeutig", dass man das Problem der Überhangmandate angehen müsse.
Prof. Dr. Hans Meyer von der Berliner Humboldt-Universität monierte, der Koalitionsentwurf sei „nach seinen eigenen Aussagen verfassungswidrig". Überhangmandate produzierten „eine Fülle von doppelten Stimmgewichten". Es sei aber verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen, dass es Wähler gebe, „die doppelt so viel Stimmen haben wie die anderen".
Dagegen betonte Prof. Dr. Gerd Strohmeier von der Technischen Universität Chemnitz, eine Beseitigung oder ein Ausgleich von Überhangmandaten zähle nicht zum Regelungsauftrag des Bundesverfassungsgerichts. Die Koalitionsvorlage behebe das negative Stimmgewicht mit Ausnahme der „Vergabe von Zusatzsitzen". Hier müsse nachgebessert werden, doch sei der Koalitionsentwurf „der schlechteste mit Ausnahme aller anderen".
Prof. Dr. Bernd Grzeszick von der Universität Heidelberg bescheinigte dem Koalitionsentwurf, den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts gerecht zu werden. Allerdings wäre vielleicht noch eine „sprachliche Überarbeitung" geboten.
Auch Prof. Dr. Heinrich Lang von der Universität Greifswald sagte, alles in allem sei der von der Koalition angestrebten Lösung der Vorzug zu geben. (sto)