Navigationspfad: Startseite > Dokumente > Web- und Textarchiv > Textarchiv > Gedenkstunde
Ein prägendes Ereignis seines Lebens hat Marcel Reich-Ranicki in der Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus geschildert: die Anordnung der „Umsiedlung“ der Bewohner des Warschauer Gettos durch die SS am Mittwoch, 22. Juli 1942. Der 91-jährige Literaturkritiker und Überlebende des Warschauer Gettos schilderte als Gastredner im Plenarsaal des Deutschen Bundestages, was sich damals im Hauptgebäude des „Judenrates“ des Gettos zutrug. Reich-Ranicki, der im Gebäude als Übersetzer für den Judenrat arbeitete, wurde in das Zimmer des Obmanns Adam Czerniaków gerufen. Er fürchtete, von den gerade vorgefahrenen SS-Männern in Czerniakóws Büro als Geisel verhaftet zu werden.
Doch der SS-Sturmbannführer Hermann Höfle, Leiter der allgemein „Ausrottungskommando“ genannten Hauptabteilung Reinhard beim SS- und Polizeiführer, suchte einen Protokollanten.
„Höfle wollte wissen, ob ich stenografieren könne. Da ich verneinte, fragte er mich, ob ich imstande sei, schnell genug zu schreiben, um die Sitzung, die gleich stattfinden werde, zu protokollieren. Ich bejahte knapp“, erzählte Reich-Ranicki.
Nachdem Reich-Ranicki als Protokollant der Sitzung erfahren hatte, dass die SS die sofortige „Umsiedlung“ der Warschauer Juden „nach Osten“ anordnete, schien es ihm, als wüssten die Angestellten des „Judenrates“, was sich eben ereignet hatte – dass „über die größte jüdische Stadt Europas das Urteil gefällt worden war – das Todesurteil“.
Als er vernahm, dass unter anderem die Ehefrauen und Kinder der beim „Judenrat“ beschäftigten Personen von der „Umsiedlung“ ausgenommen sind, ließ er sofort seine Freundin Teofila, genannt Tosia, herbeirufen. Er fand einen Rabbiner, der sie noch am gleichen Tag traute. Reich-Ranickis Ehefrau Teofila war 2011 nach 69 gemeinsamen Ehejahren verstorben.
Ebenfalls am 22. Juli sah er den Obmann Adam Czerniaków zum letzten Mal. Am Tag darauf habe die SS von ihm verlangt, dass die Zahl der zum „Umschlagplatz" zu bringenden Juden für den nächsten Tag von 6.000 auf 10.000 und danach auf täglich 7.000 zu erhöhen sei – keine willkürlichen Ziffern, sondern „allem Anschein nach von der Anzahl der jeweils zur Verfügung stehenden Viehwaggons“ abhängig. Kurz darauf habe sich Czerniaków mit Zyankali in seinem Amtszimmer das Leben genommen. In einem Abschiedsbrief stand: „Sie verlangen von mir, mit eigenen Händen die Kinder meines Volkes umzubringen. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als zu sterben.“
Reich-Ranicki schloss mit den Worten: „Die in den Vormittagsstunden des 22. Juli 1942 begonnene Deportation der Juden aus Warschau nach Treblinka dauerte bis Mitte September. Was die ‚Umsiedlung‘ der Juden genannt wurde, war bloß eine Aussiedlung – die Aussiedlung aus Warschau. Sie hatte nur ein Ziel, sie hatte nur einen Zweck: den Tod.“
Eröffnet wurde die Gedenkstunde im Beisein von Bundespräsident Christian Wulff, Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel, Bunderatspräsident Horst Seehofer und Bundesverfassungsgerichtspräsident Prof. Dr. Andreas Voßkuhle mit Frédéric Chopin: Prof. Dr. Jascha Nemtsov am Klavier spielte das Nocturne in cis-Moll. Der polnische Pianist und Komponist Władysław Szpilman hatte dieses Stück im polnischen Rundfunk gespielt, als dieser seine Sendung wegen des Angriffs deutscher Truppen auf Warschau unterbrach.
Darauf machte Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert zu Beginn der Gedenkstunde aufmerksam. Mit demselben Stück – abermals gespielt von Szpilman – nahm der polnische Rundfunk seine Sendungen nach dem Zweiten Weltkrieg wieder auf.
Stellvertretend für viele Gäste, insbesondere Überlebende und Vertreter von Opfergruppen begrüßte Lammert Detlev Hosenfeld, dessen Vater, der Wehrmachtshauptmann Wilhelm Hosenfeld, seit 1940 in Polen NS-Opfer versteckte, darunter den Pianisten Szpilman.
Lammert erinnerte daran, dass Reich-Ranicki im Januar 1943 mit seiner Frau ebenfalls deportiert werden sollte, sich jedoch „in letzter Sekunde“ retten konnte und sich anderthalb Jahre versteckte. Sein Schicksal stehe stellvertretend für das von Millionen Menschen.
„All jener, die während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft ausgegrenzt, gedemütigt, beraubt, vertrieben, verfolgt, gefoltert und ermordet wurden, gedenken wir heute, am Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz“, sage der Bundestagspräsident.
„Wir gedenken der Juden, der Sinti und Roma, der Homosexuellen, der Menschen mit Behinderungen, der Kranken, der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, der Künstler und Wissenschaftler, die aus rassistischen, politischen oder religiösen Motiven Verfolgten. Wir erinnern auch an diejenigen, die schikaniert, inhaftiert, gefoltert und ermordet wurden, weil sie Widerstand leisteten oder verfolgten Menschen Schutz und Hilfe gewährten.“
In seinen einleitenden Worten sprach er auch die sogenannte Wannsee-Konferenz an, bei der der Holocaust an sechs Millionen Menschen beschlossen und der „systematische Ablauf und die perfiden Details für den industriell-perfektionierten Völkermord“ besprochen worden seien. Die Konferenz jährte sich am 20. Januar zum 70. Mal.
Heute sei das Haus der Wannsee-Konferenz einer der vielen Orte der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, „die uns mahnen, uns dafür einzusetzen, dass in Deutschland alle Menschen frei und gleich und ohne Angst leben können. Das ist unser Ziel“, unterstrich Lammert. Die vergangenen Wochen und Monate mit der Aufdeckung einer beispiellosen Mordserie hätten allerdings vor Augen geführt, dass „wir dieses Ziel noch nicht erreicht haben“.
„Da sind Einzelne, Vereine, ganz Dörfer, da sind Menschen, die den Rechtsextremen, die durch ihre Städte marschieren wollen, immer wieder entgegentreten und zeigen: Wir dulden eure Diffamierungen, eure Gewalt, euren Hass nicht, schon gar nicht eure Gewalt. Es sind Menschen, die Zivilcourage beweisen, die nicht wegsehen, Diskriminierungen nicht unwidersprochen stehen lassen. Es sind Menschen, die ein Beispiel geben, die Mut machen“, sagte der Bundestagspräsident. Lammert verwies auf den jüngsten Expertenbericht zum Antisemitismus in Deutschland, wonach es hierzulande einen latenten Antisemitismus von 20 Prozent der Bevölkerung gebe. „Das ist für Deutschland genau 20 Prozent zu viel“, sagte er unter Beifall.
Den Gastredner würdigte Lammert mit den Worten: „Ihnen und all jenen, die ihre erschütternden Erfahrungen aufgeschrieben haben und mit uns teilen, verdanken wir nicht nur Texte; ihre Bücher sind Erinnerungen, die bleiben, auch und gerade für nachfolgende Generationen. Und es sind Erinnerungen, aus denen wir als immerwährenden Auftrag gelernt haben.“ Die Gedenkstunde schloss mit dem Andantino aus der Sonate für Violine und Klavier Nr. 3, opus 37, des polnisch-jüdischen Komponisten Mieczysław Weinberg, vorgetragen von Jascha Nemtsov und Kolja Blacher. (vom)