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Wer glaubt, Abgeordnete hätten in ihrem politischen Elfenbeinturm den Bezug zur Realität, zu den Alltagsproblemen der Bürger verloren, der wurde während der Debatte über die sozialen Bürgerrechte eines besseren belehrt. Am Donnerstag, 19. Januar 2012, debattierte der Bundestag über einen Antrag von Bündnis 90/Die Grünen (17/7032), mit dem die Fraktion mehr Rechte für Nutzer von Sozialleistungen durchsetzen will.
Und gleich der erste Redner, Markus Kurth von Bündnis 90/Die Grünen, hatte mehrere Beispiele aus dem Alltag parat, um zu illustrieren, wie diese Rechte oft missachtet werden. Den Einbeinigen zum Beispiel, dem die Sozialbehörden die Finanzierung einer Prothese verweigerten, woraufhin es zu einem 15-monatigen Rechtsstreit kam.
Auch Anette Kramme von der SPD wusste von einer 85-Jährigen ohne Krankenversicherung zu berichten, die wegen der Bezahlung einer Beckenoperation monatelang zwischen gesetzlicher und privater Krankenkasse und den Behörden hin- und her verwiesen wurde. Sozialleistungsträger befänden sich zunehmend auf einem gefährlichen Weg in die Rechtlosigkeit, beklagte Markus Kurth deshalb: „Die systematische Verweigerung von Leistungen gehört zum System“.
Hier habe es in den vergangenen Jahren eine „dramatische Zunahme“ gegeben. Auf diese Weise würden Bürger zu Bittstellern, die Leistungsfähigkeit der Sozialsysteme geschwächt und hohe Folgekosten versursacht.
Die Grünen fordern in ihrem Antrag deshalb einen Gesetzentwurf, der die Verfahrens-, Leistungs- und Partizipationsrechte der Nutzer sozialer Leistungen stärkt und damit die Effizienz des sozialen Rechtsstaates steigert. Ferner soll – sozialgesetzbuchübergreifend – der Beratungsanspruch gegenüber Leistungsträgern gestärkt und vorhandene Beratungsstrukturen zu einer neutralen, trägerunabhängigen Beratungsinstanz weiterentwickelt werden.
Der Zugang zu Sozialleistungen soll durch barrierefreie Informationsmöglichkeiten erleichtert werden. Leistungsberechtigte sollen einen Rechtsanspruch auf Aufstellung eines Hilfeplanes erhalten, wobei die Teilhaberechte der Nutzer in den Mittelpunkt gestellt werden sollen. Bezogen auf das Sozialprozessrecht verlangen die Abgeordneten, die Sozialgerichtsbarkeit als eigenständigen Gerichtszweig zu erhalten. Dabei sollen Klagen vor Sozialgerichten weiter kostenfrei sein und die Prozesskostenhilfe nicht eingeschränkt werden.
Im zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II), das die Regelungen für Hartz-IV-Bezieher enthält, soll eine aufschiebende Wirkung von Widersprüchen und Anfechtungsklagen gegen Verwaltungsakte der Grundsicherungsträger zugelassen und die Rücknahme- und Nachzahlungspflicht des SGB-II-Leistungsträgers auf vier Jahre verlängert werden.
Für die Unionsfraktion dokumentiert der Vorstoß „eine gewisse Themennot der Grünen“, die nun versuchten, „das Haar in der Suppe zu finden“. Einen dringenden Handlungsbedarf konnte Johann Wadephul (CDU/CSU) jedenfalls nicht erkennen. Zwar stimme es, dass der soziale Rechtsstaat selbstbestimmte Teilhabe sichern müsse. Aber bei über 3.000 Paragrafen in den Sozialgesetzbüchern könne nicht für jeden individuellen Fall eine „wasserdichte Lösung“ gefunden werden.
Wadephul warf den Grünen vor, Einzelfälle aufzubauschen und damit pauschal die Mitarbeiter der Sozialbehörden zu diffamieren.
„Wo gearbeitet wird, da fallen Späne“, nahm auch Anette Kramme (SPD) die Behörden vor dem Vorwurf in Schutz, systematisch Leistungen zu verweigern. Die Kritik der Grünen sei deshalb überspitzt. Dennoch müsse man festhalten:„Die Existenz sozialer Bürgerrechte ist eine große Errungenschaft unserer Zeit. Und wenn wir über soziale Bürgerrechte diskutieren, dann geht es darum, dass Menschen nicht Bittsteller sind“, sagte Kramme.
Hier gebe es tatsächlich „Verbesserungsbedarf“. Nötig sei zum Beispiel eine bessere übergreifende Beratung, weil das Rechtssystem „unheimlich kompliziert“ ist. Nötig seien auch kurze Bearbeitungszeiten von Behörden und der Erhalt einer eigenen Sozialgerichtsbarkeit, betonte die SPD-Politikerin.
Pascal Kober (FDP) kritisierte, dass der Grünen-Antrag die Frage außer Acht lässt, „wer die Leistungen erwirtschaftet, die der Sozialstaat zu Recht verteilt“. Für die Steigerung der Effizienz des Sozialstaates sei es wichtig dafür zu sorgen, so viele Menschen wie möglich aus der Abhängigkeit des Sozialstaates zu befreien und die Menschen zu mehr Eigenverantwortung zu ermutigen.
Außerdem müssten die Mitarbeiter der Sozialbehörden besser unterstützt werden, zum Beispiel durch entsprechende AusbildungS- und Aufstiegschancen. „Dieser Dreiklang ist der richtige Weg, Ihr Weg ist zu einseitig“, wandte sich Kober an die Grünen.
Matthias W. Birkwald (Die Linke) betonte: „Ein würdevolles Leben kann der Mensch nur in Freiheit führen“. Damit meine er aber nicht die Freiheit der „Marktradikalen“, sondern eine Freiheit, die vor staatlicher Willkür schützt und die dabei aber nicht stehenbleibt, so Birkwald. Denn die Freiheit der Armen, sich als Bittsteller an den Staat zu wenden, wenn das Geld nicht zum Leben reicht, sei eine „würdelose Freiheit“.
Ohne soziale Rechte blieben Freiheit und Würde nur eine Möglichkeit, die viele sich nicht leisten könnten. Deshalb unterstütze seine Fraktion das Anliegen der Grünen. Jedoch muss aus seiner Sicht ergänzt werden, dass soziale Bürgerrechte auch die Rechte von Arbeitnehmern umfassen. Dazu gehöre auch das Recht auf einen Mindestlohn, sagte Birkwald. (che)