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Sie nennen sich "Blaubär", "mamü", "quitilinga", "tankschiff": die Bürgerinnen und Bürger, die am Montag, 5. März 2012, am ersten Online-Chat der Enquete-Kommission "Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität" teilgenommen haben. Eine ganze Stunde lang stellten sich die SPD-Abgeordnete Daniela Kolbe aus Leipzig, Vorsitzende der Kommission, und Stefanie Vogelsang, Abgeordnete der CDU/CSU-Fraktion aus Berlin, Dutzenden von Fragen.
Vorangegangen war eine dreistündige öffentliche Sitzung der Kommission im Bundestag, in der die sogenannte Indikatoren-Projektgruppe, deren Vorsitzende Vogelsang ist, ihren ersten Zwischenbericht vorgestellt hatte. Wer wollte, konnte also zunächst die Sitzung live vor Ort oder im Parlamentsfernsehen verfolgen und anschließend mit den zwei Politikerinnen zum Thema diskutieren.
Vor etwas mehr als einem Jahr, im Januar 2011, hatte sich die Enquete-Kommission mit dem vollständigen Titel "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft" konstituiert. Ziel der Kommission ist es, die programmatische Diskussion über Wohlstandsverständnis und -perspektiven voranzutreiben.
Sie geht insbesondere der Frage nach, wie gesellschaftlicher Wohlstand, individuelles Wohlergehen und nachhaltige Entwicklung in einer Gesellschaft angemessen definiert werden können. Das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP), so die Annahme, ist als alleiniger Indikator nicht mehr ausreichend, um die Komplexität moderner gesellschaftlicher Verhältnisse und Prozesse abzubilden. Daher will die Enquete einen ganzheitlichen Wohlstands- beziehungsweise Fortschrittsindikator erarbeiten.
Laut Zwischenbericht der Projektgruppe unter Leitung von Stefanie Vogelsang kann zum Beispiel der Zusammenhalt in einer Gesellschaft danach bestimmt werden, wie es um Freiheit und Demokratie steht. Die Einkommensverteilung sowie der Zugang zu Arbeit und Bildung würden den Faktor "Verteilungsgerechtigkeit" verdeutlichen. Vogelsang betonte, der neue Fortschrittsbegriff müsse präzise gefasst und "gut kommunizierbar" sein.
Während die Bürgerinnen und Bürger am Chat vom heimischen Sofa oder auch tropischen Strand aus teilnehmen konnten, trafen sich Daniela Kolbe und Stefanie Vogelsang im sogenannten "Internetcafé" des Bundestages. Kein Café im eigentlichen Sinne; kein Raum, der zum gemütlichen Verweilen, wohl aber zum Arbeiten einlädt. Im Jakob-Kaiser-Haus Süd nahe dem Reichstagsgebäude waren die Vorbereitungen schon im vollen Gange, als die zwei Abgeordneten eintrafen. Ein Aufatmen ging durch die Runde, denn die ersten Teilnehmer waren schon online.
"Frau Kolbe und Frau Vogelsang sind jetzt eingetroffen, und es kann somit gleich losgehen", schrieb Annakathrin Müller, Chat-Moderatorin und Mitarbeiterin der Enquete-Kommission, sofort erleichtert. Kolbe und Vogelsang blieb zwischen der vorangegangenen dreistündigen Berichtspräsentation und dem anschließenden Chat gerade einmal die Zeit, vom Sitzungssaal zum Internetcafé zu kommen.
Und auch die folgenden 60 Minuten sollte ihnen keine Zeit zum Durchatmen bleiben: Ohne Unterbrechung beantworteten sie die Fragen der Teilnehmer, diskutierten mit ihnen und nahmen Anregungen und Empfehlungen, beispielsweise für interessante Internetseiten, entgegen.
Es ist kurz nach 18 Uhr. Die beiden Frauen sind still und konzentriert. Sie sind nicht allein, neben der Moderatorin sind mehrere interessierte Enquete-Mitglieder und Mitarbeiter des Online-Referats zugegen. Alle starren auf die sechs Monitore, die an einem hufeisenförmigen Tisch-Ensemble aufgestellt sind. An zweien der Rechner sitzen die beiden Politikerinnen.
Trotz oder gerade wegen der fehlenden Fertigkeit im Zehn-Finger-Tippen sind ihre Hände ohne Unterlass in Bewegung. Die Damen bemerken nicht, wie sich die Dämmerung über dem Reichstagsgebäude vor den riesigen Fensterfronten in Dunkelheit verwandelt. Die Teilnehmerzahl im Chatroom steigt stetig an; 13 sind es zur Halbzeit.
Die Halbzeitbilanz zieht Klaus Uppenkamp, Leiter des Ausschusssekretariats. Die Posts, wie die Beiträge im Fachjargon heißen, sind teils sehr detailliert, teils doch sehr allgemein. Eine interessante Mischung. Am Ende wird Uppenkamp resümieren, dass die Beiträge "sehr hochwertig" sind. Vorangegangen sind Fragen wie "Haben Sie, die Enquete-Kommission, neben den oft eher theoretischen Konzepten auch Konzepte aus der Praxis wie Nachhaltigkeits-Länderratings angesehen?"
Denn, so weiß ein Teilnehmer, "diese werde seit über zehn Jahren mit gleichen oder zumindest ähnlichen Fragestellungen (Indikatoren) bereits von Investoren verwendet, also in der Praxis angewandt." "Wenn Sie damit ‚Ratings‘ wie den HappyPlanetIndex meinen, dann haben wir die uns sogar sehr intensiv angesehen", erklärt die Leipzigerin Kolbe.
Eine andere Frage: "Mich würde interessieren, ob Sie schon einmal nach der in Deutschland vorhandenen Geldmenge, deren Verteilung innerhalb der Bevölkerung geschaut haben. Die vorhandene Geldmenge entspricht der vorhandenen Kaufkraft. Die Verteilung dieser Kaufkraft sagt etwas aus über die wirtschaftliche Bedeutung des jeweiligen Bürgers und über dessen Wohlstand im Vergleich zu anderen."
Antwort Stefanie Voelsang: "Zunächst haben wir uns die unterschiedlichsten Lösungen und Gedankengänge aus europäischen Ländern, aber auch weltweit angeschaut. Jetzt haben wir einen groben Überblick und wollen ins Detail für unsere Schlussfolgerungen gehen."
Viele der Teilnehmer danken und freuen sich über diese direkte Möglichkeit der Teilhabe am parlamentarischen Geschehen. Immerhin 16 Personen sind insgesamt im Chat dabei. Rund zehn Seiten DIN-A4-Papier können mit dem Chatverlauf bedruckt werden. Ein guter Start.
Die Idee zum Chat kam von Frau Kolbe selbst, weiß Uppenkamp. Auch Uppenkamp will die Interaktivität erhöhen. Auf der Internetpräsenz der Kommission wird seit Jahresbeginn deshalb auch eine Kommentar-Funktion angeboten.
"So eine Stunde durchchatten ist anstrengender als gedacht", stellt Daniela Kolbe ein wenig erschöpft am Ende fest. Zuvor haben sich die zwei Politikerinnen samt Moderatorin von den Teilnehmern verabschiedet. Applaus in der kleinen Runde. Die Premiere ist geglückt, ohne technische Probleme. Zeit zum Durchatmen bleibt für die SPD-Abgeordnete Kolbe trotzdem wieder nicht. "Ich muss zum nächsten Termin", sagt sie entschuldigend und verschwindet.
Zuvor erwägt die kleine Runde noch, beim nächsten Mal vielleicht nicht nur zwei, sondern gleich mehrere Experten in die Runde zu schicken, um die Finger jedes einzelnen zu entlasten. Einig sind sie sich, dass diese Premiere erst der Auftakt zu mehr virtueller Bürgernähe war. (ver)