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Irena Degutienė beugt sich aus dem Fenster, ihr Blick folgt dem Zeigefinger des Gastgebers: Dort drüben stand die Mauer. In der Gedenkstätte an der Bernauer Straße in Berlin hatte sich die litauische Parlamentspräsidentin soeben über das schicksalsträchtige Bauwerk informiert, umso mehr interessieren sie nun die verbliebenen Spuren rund um den Reichstag. Die Sonne scheint am Mittwoch, 25. April 2012, wie bestellt zum Besuch der Kollegin, die auf Einladung von Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert für drei Tage (24. bis 26. April) nach Deutschland gekommen ist.
Bundestag wie Seimas beschäftigen in diesen Tagen die Krise wie auch die Energiepolitik, freilich mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Litauens politische Landschaft blieb trotz des Wirtschaftseinbruchs um 15 Prozent allein im Jahr 2009 fast frei von politischen Erschütterungen. Keine vorzeitigen Neuwahlen, wohl aber ständig wechselnde Mehrheiten im Seimas, wie die Volksvertretung in Litauen heißt.
Nach den Parlamentswahlen im Oktober droht dem strengen Sparkurs der Regierung möglicherweise das Aus, so die konservative Politikerin von der regierenden Vaterlandsunion. Die Opposition beabsichtige die Aufstockung der Renten und Gehälter, die jahrelang nicht erhöht worden sind. Das Ziel, 2014 den Euro einzuführen, sei wegen der Krise nicht erreicht worden, nun könnte es in noch weitere Ferne rücken.
Litauen trat vor einem Jahr dem Euro-Stabilitätspakt bei und will auch den Fiskalpakt ratifizieren. Der angestrebten Harmonisierung der Steuern in Europa schaut Litauen allerdings mit Sorge entgegen. Litauen rühmt sich seiner niedrigen Steuern, weniger verlangt kein Staat in der EU. Da die unmittelbaren Nachbarn Russland und Weißrussland aber eine noch geringere Abgabenlast aufweisen, meint Litauen nur auf diese Weise mithalten zu können. Nach der Steuerharmonisierung befürchtet das größte der drei baltischen Länder ins Hintertreffen zu geraten.
Mindestens ebenso intensiv wie die Finanzpolitik beschäftigen die litauischen Abgeordneten momentan Energiefragen. Litauen, das sich als erste Sowjetrepublik für souverän erklärt hatte, ist nach wie vor extrem abhängig von russischem Öl und Gas, umso mehr, als es vor gut zwei Jahren sein einziges Atomkraftwerk (AKW) stilllegen musste. Ignalina II hat seinerzeit 80 Prozent des nötigen Stroms geliefert, doch der Europäische Union, der Litauen seit 2004 angehört, war der Reaktor vom Typ Tschernobyl zu unsicher.
Seitdem ist Energie sowohl knapper als auch teurer geworden, ein endgültiger Verzicht auf Kernenergie kommt anders als in Deutschland für die litauische Regierung nicht in Frage. Der japanische Konzern Hitachi soll in Visaginas das neue Atomkraftwerk bauen, der Vertrag wurde Ende März unterschrieben.
In die Diskussion um das neue AKW mischen sich die Grünen in bislang für Litauen ungewohnt heftiger Weise ein, sodass die Atombefürworter das neue Kraftwerk derzeit unerwartet detailliert begründen müssen. Lettland und Estland beteiligen sich am Bau, der frühestens 2020 ans Netz soll. Visaginas ist damit eines von gleich mehreren neuen AKW in der Region. In Polen, Russland, Weißrussland und Finnland werden Anlagen geplant oder bereits gebaut, sodass im Ostseeraum möglicherweise mehr Atomstrom als nötig produziert werden könnte.
Konfliktstoff birgt außerdem das geplante Flüssiggasterminal in sich. Litauen hat bereits ein Spezialschiff geordert, doch wo der neue LNG-Hafen stationiert wird, ist bislang unklar. Die Regierung in Vilnius will so schnell es geht unabhängig von den Gazprom-Lieferungen werden. Obwohl Litauen bereits jetzt den europaweit höchsten Preis für russisches Gas bezahlt, hat der russische Gasmonopolist für den Sommer eine weitere Preissteigerung angekündigt.
Parlamentspräsidentin Degutienė hört am Donnerstag, 26. April 2012 im Plenum der Debatte über die Pflegeversicherung zu, bevor sie sich mit Mitgliedern des EU-Ausschusses trifft und am Mittag nach Frankfurt am Main reist. (sad)