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Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert hat am Dienstag, 19. Juni 2012, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom gleichen Tag begrüßt. Darin hatte der Zweite Senat eine Verletzung der Unterrichtungsrechte des Deutschen Bundestages durch die Bundesregierung festgestellt (Aktenzeichen 2 BvE 4 / 11). Zwei Anträge der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, die sich auf die Unterrichtungspflichten aus Artikel 23 Absatz 2 des Grundgesetzes bezogen, hat das Gericht somit für begründet erachtet. Die Anträge standen im Zusammenhang mit dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) und dem Euro-Plus-Pakt. Nach Artikel 23 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes muss die Bundesregierung den Deutschen Bundestag "in Angelegenheiten der Europäischen Union umfassend und zum frühestmöglichen Zeitpunkt unterrichten".
Es sei eine Bestätigung der unverzichtbaren Beteiligung des Bundestages bei EU-Angelegenheiten, insbesondere wenn es sich um die Übertragung von Souveränitätsrechten auf die Gemeinschaft und um haushaltswirksame Verpflichtungen handelt, erklärte Norbert Lammert. "Erneut ist damit die zentrale Stellung des Bundestages als Ort der öffentlichen politischen Auseinandersetzung und der rechtsverbindlichen Entscheidung bekräftigt worden. Die nationalen Parlamente in der Europäischen Union haben nach dem Urteil eine über die Mitgliedstaaten hinausweisende Rolle und tragen zur demokratischen Legitimation der EU erheblich bei."
Lammert verwies darauf, dass das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung erneut die Notwendigkeit der frühestmöglichen und umfassenden Unterrichtung des ganzen Bundestages bestätigt hat, um dem Parlament die inhaltliche Beeinflussung des Regierungshandelns zu ermöglichen. Er begrüßte, dass das Mitspracherecht des Bundestages nach dem Urteil nun auch für völkerrechtliche Verträge gilt, die wie der ESM-Vertrag oder der Fiskalpakt das EU-Recht ergänzen.
Aus Sicht der Karlsruher Richter soll die Unterrichtungspflicht aus Artikel 23 des Grundgesetzes ermöglichen, dass der Bundestag seine Rechte auf Mitwirkung in Angelegenheiten der Europäischen Union wahrnehmen kann (Absatz 2 Satz 1). Die Unterrichtung müsse dem Bundestag eine frühzeitige und effektive Einflussnahme auf die Willensbildung der Bundesregierung eröffnen, heißt es in der Urteilsbegründung. Das Parlament dürfe nicht in eine "bloß nachvollziehende Rolle" geraten.
Je komplexer der Vorgang ist, über den die Regierung informieren muss, desto intensiver muss diese Unterrichtung ausfallen, so das Gericht. Anforderungen an die Qualität, Quantität und Aktualität der Unterrichtung ergäben sich somit daraus, wie tief in den Zuständigkeitsbereich des Parlaments eingegriffen wird und ob sich der Vorgang "einer förmlichen Beschlussfassung oder Vereinbarung annähert".
Zur umfassenden Unterrichtung gehörten damit nicht nur Initiativen und Positionen der Bundesregierung selbst sowie Gegenstand, Verlauf und Ergebnis der Sitzungen und Beratungen von Organen und Gremien der EU, in denen die Bundesregierung vertreten ist. Die Unterrichtungspflicht erstrecke sich vielmehr auch auf die Weiterleitung amtlicher Unterlagen und Dokumente der Organe, Gremien und Behörden der EU und anderer EU-Mitgliedstaaten.
Dem Zeitpunkt der Unterrichtung räumen die Verfassungsrichter den gleichen Rang ein wie ihrer Intensität. "Zum frühestmöglichen Zeitpunkt" heiße, dass der Bundestag die Informationen so früh erhalten muss, dass er sich noch fundiert mit dem Vorgang befassen und eine Stellungnahme erarbeiten kann, bevor die Bundesregierung bindende Erklärungen zu EU-Rechtsetzungsakten oder zu Vereinbarungen zwischen den Regierungen der Mitgliedstaaten abgibt.
"Die Unterrichtung hat angesichts der Anforderungen an ihre Klarheit, Verstetigung und Reproduzierbarkeit grundsätzlich schriftlich zu erfolgen", heißt es in der Begründung weiter. Ausnahmen seien nur in engen Grenzen zulässig, unter Umständen aber auch geboten, wenn die Bundesregierung eine umfassende und zugleich frühestmögliche Unterrichtung nur mündlich sicherstellen könne.
Einen Anspruch des Parlaments auf Unterrichtung verneint das Gericht auch dann, wenn die interne Willensbildung der Bundesregierung nicht abgeschlossen ist. Hat die Regierung ihre Willensbildung jedoch so weit konkretisiert, dass sie Zwischen- oder Teilergebnisse an die Öffentlichkeit geben kann oder mit einer eigenen Position in einen Abstimmungsprozess mit anderen eintreten will, fällt das Vorhaben dem Gericht zufolge nicht mehr "in den gegenüber dem Bundestag abgeschirmten Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung".
Was die Unterrichtung der Abgeordneten über den Europäischen Stabilitätsmechanismus angeht, habe es die Regierung versäumt, dem Bundestag einen ihr spätestens am 21. Februar 2011 vorliegenden Text der Europäischen Kommission sowie den Vertragsentwurf vom 6. April 2011 zu übermitteln. Spätere mündliche oder schriftliche Informationen änderten nichts daran, dass Artikel 23 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes verletzt wurde. Bei "prozesshaften Vorgängen" könne die Unterrichtungspflicht nicht "in einem Gesamtpaket" erledigt werden.
"Die Bundesregierung ist verpflichtet, dem Bundestag nicht nur einen abschließend beratenen oder sogar bereits beschlossenen Vertragstext zuzuleiten, sondern muss ihm zum frühestmöglichen Zeitpunkt ihr vorliegende Zwischenergebnisse und Textstufen übermitteln", schreiben die Richter.
Zugleich sei die Bundesregierung ihrer Verpflichtung, über den Euro-Plus-Pakt umfassend und frühzeitig zu unterrichten, nicht nachgekommen. Der Euro-Plus-Pakt richte sich an die EU-Mitgliedstaaten mit dem Ziel, die Wirtschaftspolitik und die Lage der öffentlichen Haushalte qualitativ zu verbessern und mehr Finanzstabilität zu erreichen.
Der Pakt berühre wichtige Funktionen des Bundestages, vor allem durch Selbstverpflichtungen der Staaten in Bereichen wie dem Steuer- und Sozialrecht, die der nationalen Gesetzgebung unterliegen. Selbstverpflichtungen, in denen der Gesetzgeber einer Überwachung durch EU-Organe unterworfen werde, beträfen die parlamentarische Verantwortung und könnten die Gestaltungsmöglichkeiten des Gesetzgebers einschränken, heißt es weiter.
Die Bundesregierung habe den Bundestag nicht vorab über die Initiative informiert, die am 4. Februar 2011 auf der Tagung des Europäischen Rates von der Bundeskanzlerin gemeinsam mit dem französischen Staatspräsidenten vorgestellt worden sei. Darüber hätte die Regierung den Bundestag spätestens am 2. Februar 2011 unterrichten müssen, als feststand, dass den Staats- und Regierungschefs ein Diskussionsvorschlag für eine verstärkte wirtschaftspolitische Koordinierung im Euro-Währungsgebiet zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit unterbreitet werden sollte.
Auch habe die Regierung dem Bundestag ein inoffizielles Dokument der Präsidenten der EU-Kommission und des Europäischen Rates vom 25. Februar 2011 mit der Bezeichnung "Enhanced Economic Policy Coordination in the Euro Area — Main Features and Concepts" nicht übermittelt. Darin seien wesentliche Inhalte des Paktes beschrieben worden.
Nach Darstellung der Verfassungsrichter hat die Regierung erst am 11. März den offiziellen Entwurf des Vertragstextes übersandt, als der Bundestag keine Möglichkeit mehr gehabt habe, dessen Inhalt zu diskutieren und durch eine Stellungnahme auf die Regierung einzuwirken.
An diesem Tag hatten sich nämlich die Staats- und Regierungschefs des Euro-Währungsgebiets bereits auf den Pakt geeinigt. (vom)