Viele Ideen und Werke, die unsere Kultur prägten und bereicherten, wurden ursprünglich anonym oder unter einem Pseudonym veröffentlicht.
Einige Beispiele:
- Die anonym verfasste Flugschrift „Common Sense“ von Thomas Paine gab einen wichtigen Anstoß zur amerikanischen Unabhängigkeitserklärung.
- Die „Fama Fraternitatis“ (1614) und die „Confessio Fraternitatis“ (1615) sind wichtige Grundlagen der Rosenkreuzer-Bewegungen und haben die europäische Geistesgeschichte nachhaltig geprägt.
- Der deutsche Philosoph Johann Gottlieb Fichte veröffentlichte seinen „Versuch einer Kritik aller Offenbarung“ zunächst anonym.
- Die Sage von „Johann Faust“ erschien im Jahr 1587 als anonymes Werk unter dem Titel „Historia von D. Johann Fausten“. Diese Geschichte lieferte später die Grundmotive für Goethes „Faust“.
- Auch Goethe veröffentliche einige seiner Werke anonym, z.B. die „Römischen Elegien“, die für die damalige Zeit etwas zu freizügig waren.
- Die Romane von Jane Austen und der Briefroman „Gefährliche Liebschaften“ von Pierre-Ambroise-François Choderlos de Laclos wurden ebenfalls anonym veröffentlicht.

Wir können froh sein, dass all diese Autoren die Möglichkeit hatten, ihre Werke anonym zu veröffentlichen, denn ohne diese Werke wäre unsere Kultur um sehr vieles ärmer. Politischen Machtstrukturen, gesellschaftliche Konventionen und religiöse Intoleranz waren vermutlich die Hauptgründe, weshalb sich die Autoren nicht offen zu ihren Werken bekennen konnten. Die Anonymität des Autors war manchmal ratsam, um die soziale Stellung nicht zu gefährden – und manchmal war sie sogar notwendig zum Schutz des eigenen Lebens.

Die Zeiten mögen sich geändert haben, aber das Grundproblem ist geblieben. Es liegt in der Natur der Sache, dass neue Ideen immer wieder mit den bestehenden Gesellschaftsstrukturen und Gepflogenheiten kollidieren, dass sie traditionelle Tabu-Grenzen überschreiten und bestehende Weltbilder in Frage stellen.

Die Möglichkeit, neue Ideen anonym veröffentlichen zu können, ist deshalb auch heute im Internet-Zeitalter noch immer eine der wichtigsten Grundvoraussetzung für den gesellschaftlichen Wandel in einer Demokratie. Die Identifizierungspflicht für Meinungen ist hingegen ein typisches Merkmal von totalitären Systemen.

Es gibt keinen sinnvollen Grund, warum man eine anonyme Internet-Veröffentlichung anders behandeln sollte als eine anonyme Buchveröffentlichung, denn das Internet setzt nur eine Entwicklung fort, die mit der Erfindung des Buchdrucks begann. Vor der Erfindung des Buchdrucks musste jedes Buch mühevoll abgeschrieben werden. Dadurch konnten nur wenige Menschen ihre Ideen in Buchform verbreiten, und diese Ideen waren auch nur wenigen Menschen zugänglich. Das änderte sich mit der Erfindung des Buchdrucks. Der Aufwand für die Veröffentlichung eines neuen Buches war immer noch relativ hoch. Und so war es auch weiterhin nur eine Minderheit, die ihre Ideen in Buchform verbreiten konnte. Aber die Ideen waren nun zumindest einer breiten Öffentlichkeit zugänglich. Das galt auch später für die modernen Medien Rundfunk und Fernsehen. Auch diese Medien konnten nur von einer Minderheit zur Meinungsäußerung genutzt werden. Erst die Entwicklung des Internets gibt uns die Möglichkeit, dass JEDER seine Ideen verbreiten kann und dass diese Ideen für JEDEN zugänglich sind.

Wenn wir in Artikel 5 des Grundgesetzes JEDEM das Recht zugestehen, „seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten“, dann sollten in dem wichtigsten Medium, das JEDER zur Meinungsäußerung hat, die gleichen Grundsätze gelten wie bei einer Buchveröffentlichung.

Man kann nur dann seine Meinung FREI äußern, wenn man keine Angst haben muss, dass man seine Privatsphäre oder seine soziale Stellung gefährdet. Das Recht zur anonymen Meinungsäußerung ist daher eine ganz wichtige Voraussetzung, damit man seine Meinung FREI äußern kann. Diese Freiheit wird uns vom Telemediengesetzt genommen – ohne dass es dafür einen zwingenden Grund gäbe.