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Bundestagspräsident Kai-Uwe von Hassel vereidigt Bundeskanzler Willy Brandt © picture-alliance / akg-images
Es war der dritte Anlauf, der schließlich den Erfolg brachte: Nach zwei verlorenen Wahlkämpfen 1961 und 1965 war Willy Brandt auch 1969 als Kanzlerkandidat der SPD zur Bundestagswahl angetreten. Dieses Mal reichte das Wahlergebnis für den Wechsel. Die Sozialdemokraten errangen am 28. September 1969 insgesamt 42,7 Prozent der Wählerstimmen und verfügten damit zusammen mit den Stimmen der FDP über die Mehrheit im Bundestag. Eine Sensation: Zum ersten Mal nach 20 Jahren änderten sich in Bonn die Machtverhältnisse. Zum ersten Mal wurde mit dem am 18. Dezember 1913 in Lübeck als Herbert Ernst Karl Frahm geborenen Willy Brandt ein Sozialdemokrat Bundeskanzler.
Doch die Mehrheit, auf die sich der neue Regierungschef mit einer sozial-liberalen Koalition stützen wollte, war von Anfang an dünn: Das zeigte insbesondere seine Wahl zum Bundeskanzler am 21. Oktober 1969. Brandt, der in den vergangenen drei Jahren in der Großen Koalition unter Kanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) Außenminister gewesen war, benötigte 249 Stimmen im Bundestag - und erhielt 251. Genau eine Woche später, am 28. Oktober, trat der neue Bundeskanzler wieder vor das Plenum des Parlaments - diesmal, um seine Regierungserklärung abzugeben.
Unter dem Motto "Mehr Demokratie wagen" kündigte Brandt nicht nur an, das Wahlalter von 21 auf 18 Jahre zu senken, sondern auch die Arbeitsweise der Bundesregierung zu öffnen: Wir werden (...) dem kritischen Bedürfnis nach Informationen Genüge tun. Wir werden darauf hinwirken, dass (...) jeder Bürger die Möglichkeit erhält an der Reform von Staat und Gesellschaft mitzuwirken." Das Reformprogramm, auf das sich die Koalitionspartner SPD und FDP verständigt haben, sieht darüber hinaus den Ausbau des Sozialstaates vor. Die Lebenssituation der Arbeitnehmer und ihrer Familien soll verbessert werden.
In der Außenpolitik wollte Brandt ein Klima des Vertrauens schaffen und die Bundesrepublik Deutschland nach den Schrecken des Zweiten Weltkrieges mit ihren östlichen Nachbarn, vor allem mit der Sowjetunion und mit Polen, aussöhnen. Deutschland werde ein "Volk guter Nachbarn sein, bekräftigte der Sozialdemokrat, der 1933 aus politischen Gründen nach Norwegen emigriert war und dort - unter dem Namen Willy Brandt - dem Widerstand gegen Nazi-Deutschland angehört hatte. Zentrale Voraussetzung für eine solche Entspannungspolitik: Die Anerkennung des seit 1945 bestehenden territorialen und politischen Status quo in Mitteleuropa. "Die Politik des Gewaltverzichts, die die Integrität des jeweiligen Partners berücksichtigt", so Brandt, "ist nach der festen Überzeugung der Bundesregierung ein entscheidender Beitrag zu einer Entspannung in Europa. Gewaltverzichte würden eine Atmosphäre schaffen, die weitere Schritte möglich macht."
Dies sagte Brandt gerade auch im Hinblick auf die deutsch-deutschen Beziehungen. Er, der von 1957 bis 1966 Regierender Bürgermeister von Berlin gewesen war und in dieser Zeit den Mauerbau hilflos hatte hinnehmen müssen, wollte nun beginnen, das "Verhältnis zwischen den Teilen Deutschlands aus seiner gegenwärtigen Verkrampfung zu lösen", um die "Einheit der Nation zu wahren". Der Kanzler bot der DDR an, auf Regierungsebene in Verhandlungen mit der Bundesrepublik einzutreten. Sein Credo: "Wandel durch Annäherung". Ein weiteres "Auseinanderleben der deutschen Nation" müsse verhindert werden. Ziel sei es daher, über ein "geregeltes Nebeneinander zu einem Miteinander zu kommen".
Die "Politik der kleinen Schritte" zeigte bald Erfolg: Bereits im Sommer 1970 lag ein Entwurf eines deutsch-sowjetischen Gewaltverzichtvertrags auf dem Tisch. Doch die neue Ostpolitik löste heftige Auseinandersetzungen in Politik und Gesellschaft aus. Umstritten war insbesondere die Frage, ob die bestehende Grenze zu Polen, die Oder-Neiße-Grenze, anerkannt werden sollte. Dies bedeutete in den Augen vieler deutscher Flüchtlinge, ihre Heimat endgültig zu verlieren. Während die Opposition dies als "Verzichtspolitik" kritisierte, war Brandt überzeugt, dass eine Versöhnung nur möglich sein würde, wenn diese Grenze nicht mehr in Frage gestellt würde. Als er im Dezember 1970 nach Warschau reiste, um den Vertrag mit Polen zu unterzeichnen, legte er einen Kranz am Denkmal für die Opfer des jüdischen Ghettoaufstandes nieder. In der Gedenkminute kniete Brandt nieder. Dieses Bild ging um die Welt. Ein Jahr später wurde der Bundeskanzler für seine Bemühungen um die Aussöhnung von Ost und West mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.
Während Brandt international breite Anerkennung für seine Außenpolitik erhielt, stürzte sie ihn innenpolitisch in die Krise: In der Auseinandersetzung um die Ratifizierung der Ostverträge im Bundestag verließen mehrere FDP- und SPD-Abgeordnete die Koalition. Brandts ohnehin dünne Mehrheit im Bundestag drohte zu schwinden. Zwar scheiterte im April 1972 ein Misstrauensvotum gegen ihn, doch das Regieren wurde aufgrund der Pattsituation im Parlament schwer. In der Frage der Ostverträge fanden Opposition und Regierung im Mai letztlich einen Kompromiss, so dass diese im Juni 1972 in Kraft treten konnten. Andere politische Vorhaben drohten aber zu stagnieren, so dass Brandt im September die Vertrauensfrage stellte und absichtlich verlor. Bei den ersten vorgezogenen Neuwahlen in der bundesdeutschen Geschichte wurde Brandt eindrucksvoll im Amt bestätigt: Die SPD erhielt mit 45,8 Prozent der Stimmen ihr bestes Ergebnis - bis heute.
Doch schon eineinhalb Jahre später war Brandts Kanzlerschaft am Ende: Im April 1974 wurde sein Referent, Günter Guillaume, als DDR-Spion enttarnt. Da Brandt fürchten musste, dass auch private Details aus seinem Leben an die Öffentlichkeit dringen würden, reichte er am 6. Mai seinen Rücktritt ein. Ein Kanzler dürfe nicht "erpressbar" sein, so Brandt. In seinem Rücktrittschreiben übernahm er die politische Verantwortung für die Guillaume-Affäre. Doch auch innenpolitisch stand er unter Druck, denn sowohl die Ölkrise als auch die steigende Arbeitslosigkeit und ein wirtschaftlicher Abschwung machten ihm politisch zu schaffen.
Nach dem Ausscheiden aus dem Kanzleramt blieb Brandt politisch aktiv: Bis 1987 war er SPD-Vorsitzender, von 1976 bis 1992 Präsident der "Sozialistischen Internationale". Auch sein Bundestagsmandat behielt er. Brandt beschäftigte sich mit dem Nord-Süd-Dialog und bemühte sich um eine Lösung im Nahost-Konflikt. Die deutsche Wiedervereinigung, die er mit den Worten "Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört" kommentierte, erlebte Brandt noch, bevor er am 8. Oktober 1992 in Unkel in Rheinland-Pfalz verstarb. International hatte er sich großes Ansehen erworben: Brandt war nicht nur der erste deutsche Regierungschef gewesen, der 1973 vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen hatte sprechen dürfen. Er hatte auch zahlreiche Auszeichnungen erhalten - der Nobelpreis war sicher die größte darunter gewesen.