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Der letzte Staatschef der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, hat bereits vor dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 von einer "Konföderation" der beiden deutschen Staaten gesprochen. Das berichtet die frühere Bundestagspräsidentin Prof. Dr. Rita Süssmuth (CDU) in einem Gespräch mit der Wochenzeitung "Das Parlament" vom 9. November 2009.
Danach war sie am 19. Oktober 1989 - also einen Tag nach dem Sturz des DDR-Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker - mit dem damaligen französischen Parlamentspräsidenten Laurent Fabius in Moskau und führte dort ein längeres Gespräch mit Gorbatschow. "Für Gorbatschow war ganz klar: Konföderation ja, aber nicht Wiedervereinigung im Sinne einer geeinten deutschen Republik - das war für ihn zu diesem Zeitpunkt nicht vorstellbar", erinnert sich Süssmuth. Das Interview im Wortlaut:
Frau Professor Süssmuth, wo haben Sie vom Fall der Mauer am 9. November 1989 erfahren?
In meinem Bonner Büro. Ich sprach gerade mit einem ostdeutschen Künstler, der in Bonn eine Ausstellung machen wollte, über sein Anliegen, als eine Mitarbeiterin mit einer Agenturmeldung über die Maueröffnung kam - ich habe das dreimal gelesen, dachte, das kann doch nicht sein. Ich bin dann ins Parlament, das im Wasserwerk tagte, und als ich die Tür öffnete, sangen sie bereits das Deutschlandlied. Das war ein so bewegender Augenblick... .
Wie erlebten Sie die folgenden Tage?
Am nächsten Abend war ich in Berlin, wo sich Bundeskanzler Helmut Kohl an die Menschen in ganz Deutschland wandte. Von dort ging es in meinen Wahlkreis Göttingen, der unmittelbar an der damaligen "Zonengrenze" liegt. Das war die schönste Erfahrung: Von Göttingen bin ich gleich ins Eichsfeld gefahren, und dort strömten den ganzen Tag die Menschen zu Fuß und in Trabis nach Duderstadt und dann nach Göttingen. Ich habe so etwas noch nie erlebt: Wir haben uns mit Menschen, die ich gar nicht kannte, in den Armen gelegen, es wurde viel geweint, aber auch gelacht. Es war - wie man es oft hört in diesen Tagen - nie soviel Nähe wie an diesem Anfang.
Hatten Sie in der Zeit zuvor schon gedacht, die DDR könne die Grenze öffnen?
Dass viel in Bewegung war, wussten wir. Wir haben ja die Öffnung der Grenze in Ungarn erlebt und den Exodus von Menschen aus der DDR, die in überfüllten Zügen kamen. Und insbesondere nach der großen Demonstration in Leipzig am 9. Oktober, bei der ja niemand wusste, ob das Militär eingreifen und es blutig ausgehen würde, war die Diskussion sehr darauf gerichtet, was die nächsten Wochen bringen würden. Aber der Zeitpunkt des Mauerfalls - der war so nicht vermutet worden.
Von deutscher Einheit war nach dem Mauerfall ja zunächst nicht die Rede. Wann ahnten Sie, dass der Zug Richtung Wiedervereinigung fahren könnte?
Nicht schon 1989. Ich war am 19. Oktober mit dem damaligen französischen Parlamentspräsidenten Laurent Fabius in Moskau und habe dort auch ein längeres Gespräch mit Michail Gorbatschow geführt. Bereits zu dieser Zeit war die Frage, was kommen wird. Für Gorbatschow war ganz klar: Konföderation ja, aber nicht Wiedervereinigung im Sinne einer geeinten deutschen Republik - das war für ihn zu diesem Zeitpunkt nicht vorstellbar.
Gorbatschow hat schon am 19. Oktober 1989 im Gespräch mit Fabius und Ihnen einer Konföderation zwischen beiden deutschen Staaten zugestimmt?
Ja - bereits vor dem 9. November. Er ist schon davon ausgegangen, dass sich in der DDR etwas bewegen wird, und er hat auch den Begriff "Konföderation" als Perspektive in den Mund genommen. Es war nicht davon die Rede, dass es ein Deutschland sein wird, aber ein konföderatives Gebilde...
...aus DDR und Bundesrepublik.
Wir wissen, wie groß der Anteil des Volkes, der friedlichen Revolution an der Auflösung der DDR war. Aber wir kennen viele andere Systeme, in denen das Volk auch für Freiheit gekämpft hat - denken Sie an die letzten Aufstände im Iran -, was dann blutig zusammengeschlagen wurde. Die mutigen Demonstrationen und die friedfertige Revolution in der DDR sind sicher etwas ganz Besonderes in der deutschen Geschichte. Aber ohne Persönlichkeiten wie Gorbatschow wäre das nicht möglich gewesen - die DDR gehörte eben zum Einflussbereich der Sowjetunion. Entscheidend waren Persönlichkeiten wie Helmut Kohl, George Bush senior, Michail Gorbatschow und die Zustimmung unserer Nachbarn. Sehr schnell hat dann insbesondere unser Bundeskanzler ganz hart an der Vereinigung gearbeitet: zunächst mit dem Zehn-Punkte-Programm, und dann ging es darum, unter welchen Bedingungen wir die deutsche Einheit haben könnten.
Schon vor der freien Volkskammerwahl im März 1990 begann sich das bisherige DDR-Scheinparlament zu emanzipieren, strich etwa die führende Rolle der SED aus der Verfassung. Hatte das Folgen für das Verhältnis zum Bundestag?
Das Verhältnis zum Bundestag nach dem 9. November war von Anfang an so, dass man sich eng austauschte. Dabei ging man nicht davon aus, dass es so schnell zur deutschen Einheit kommen würde, sondern es ging zunächst um die Volkskammerwahlen. Es gab auch eine längere Entwicklung von Bewegungen wie dem "Neuen Forum" hin zu Parteien - wir sind ja überall hingefahren, um an den Diskussionen teilzunehmen. Nach der Volkskammerwahl haben wir dann einen gesamtdeutschen Ausschuss beider Parlamente gebildet, in dem die Vorbereitung der deutschen Einheit, der Einheitsvertrag, Stück für Stück mitberaten wurde.
Sie besuchten im Juni 1990 gemeinsam mit der Volkskammer-Präsidentin Sabine Bergmann-Pohl Israel. Wie kam es dazu?
Diese Reise war eine persönliche Initiative von mir. Ich dachte, wenn wir nun eins werden, ist es ganz wichtig, dass auch gerade aus der Volkskammer Zeichen einer neuen Politik gegenüber Israel kommen. Schon bei der Konstituierung der Volkskammer hatte es eine große Bedeutung, Beziehungen zu Israel aufnehmen zu wollen. Es war eine beglückende Erfahrung, diese Reise gemeinsam zu unternehmen - sie ist auch in Israel durchaus mit Offenheit und Zustimmung beantwortet worden. Damit haben wir eine gemeinsame Israel-Politik begründet.
Einen Tag nach der Einheit, am 4. Oktober 1990, haben Sie die erste gesamtdeutsche Bundestagssitzung eröffnet. Was war das für ein Gefühl?
Am 17. Juni 1990 hatte ich im Bundestag gesagt: Die Einheit wird kommen. Aber der Zeitpunkt lag für mich im Unbestimmten. Und wenn Sie dann am 4. Oktober erlebten: Es ist passiert, es ist das schier Unglaubliche passiert - das war so bewegend, dass meine Stimme beim Sprechen mitunter bebte. Für mich war es wie ein Wunder. Wir haben dieses Geschenk viel zu schnell vergessen, relativiert und in den Alltag "eingebuddelt".
Ging die Zusammenarbeit mit den ostdeutschen Kollegen gleich reibungslos?
Im Verlauf des Jahres 1990 und verstärkt 1991 gab es auch Spannungen zwischen ost- und westdeutschen Abgeordneten. Wir erlebten in der eigenen Fraktion, dass sich die ostdeutschen Abgeordneten eng zusammenschlossen und sich jeweils vorher absprachen, um ihren Belangen Gehör zu verschaffen, und es kam auch Misstrauen auf, was die da eigentlich machten. In der Zeit vor der Einheit wurde uns - mir persönlich jedenfalls - unsere mangelnde Vertrautheit mit Lebensalltag und Politik in der DDR deutlich, sodass bei uns auch Unsicherheit gegenüber den Ostdeutschen auftrat. Die haben wahrscheinlich angenommen, dass nur sie unsicher wären - wir waren auch unsicher. Für mich war damals das wechselseitige Kennen- und Verstehenlernen ganz wichtig. Auch im Umgang mit den Parlamentariern aus der früheren DDR war es wichtig, auf gleicher Augenhöhe zu verhandeln, damit sich Misstrauen und Unsicherheit abbauten. Lothar de Maizière ...
...der letzte DDR-Regierungschef ...
hat seine Volkskammer zwar einmal als Laienspielschar bezeichnet, aber es war eine exzellente Laienspielschar, zumindest was das Konzeptionelle betrifft. Es kam eben auch neues Denken ins Parlament. Die Vorstellung, es bleibt alles beim Alten, löste sich dann mehr und mehr auf.
Ende 1990 wurde ein gesamtdeutscher Bundestag gewählt und Sie zu seiner Präsidentin. War das wieder anders?
Emotional war es nicht von der gleichen Intensität wie ‘89 und der 4. Oktober 1990. Für mich war der 9. November ‘89 ein so wichtiger Tag, dass ich mich freue, dass wir ihn jetzt auch mit vielen beteiligten Nachbarn begehen. Es war 1989 doch auch eine Bewegung, die sich quer durch Mittelosteuropa einschließlich Russlands gezogen hat: Man kann unsere Entwicklung nicht von der in Polen oder Ungarn trennen. Insofern waren diese Monate des Jahres 1989 weltbewegend. Mit der deutschen Einheit begann die Erweiterung der Europäischen Union. Mit dem Fall von Mauer und Eisernem Vorhang endete der "kalte Krieg", entstand eine neue Weltordnung. Daraus das Richtige zu machen und zu mehr Verbundenheit, zu mehr Vertiefung in Europa zu kommen, sind die Aufgaben, die vor uns stehen.
Sie betonten die Einbettung des 9. November ‘89 in eine osteuropäische Revolutionsbewegung. Hätten Sie befürwortet, den 9. November zum Feiertag zu machen?
Ich persönlich: Ja. Das hätte Deutschland nicht geschwächt. Wir haben heute den 3. Oktober als Feiertag, das wird sich auch nicht ändern. Aber der 9. November '89 war eine der wichtigsten Antworten für uns und für die Geschichte, die ein Volk geben kann: Vom 9. November 1938 mit der Reichspogromnacht und allem Hass, Gewalt und Krieg, Millionen Toten und ermordeten Juden haben Deutsche zum gewaltlosen Weg einer friedlichen Revolution, zu Freiheit und Einheit gefunden.