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Blick auf den Spreebogen © DBT/Zander
Schon von außen ist durch die Glasfassade der Bibliotheksrotunde hindurch die blau leuchtende Neon-Installation des italienischen Künstlers Maurizio Nannucci mit dem Titel "Blauer Ring" sichtbar. Inspiriert durch einen Text von Hannah Arendt weist Nannucci mit zwei aneinander gereihten Sätzen auf das Spannungsverhältnis zwischen den demokratischen Prinzipien Freiheit und Gleichheit hin: "Freiheit ist denkbar als Möglichkeit des Handelns unter Gleichen / Gleichheit ist denkbar als Möglichkeit des Handelns für die Freiheit ". Der Text regt an, die Gestaltungsmöglichkeiten politischen Handelns zu überdenken. Für eine solche Fragestellung ist das Parlament als das Haus, in dem diese Gestaltungsmöglichkeiten diskutiert und entschieden werden, der denkbar geeignetste Ort, auch mit Blick auf das Medium eines Wort-Kunstwerkes, denn das Parlament (franz. parler = reden) ist auch das Haus der politischen Reden, der Worte also.
Diese Feststellung gilt insbesondere auch für die Bibliothek des Parlamentes als der Ort, an dem das Wissen um unsere Kultur zusammengetragen ist und als Verpflichtung zu ihrer Wahrung und Mehrung erfahren wird. In der Bibliothek werden Bücher, Werke des Wortes, zusammengetragen. In ihnen, den Büchern, verwirklicht sich die Funktion des Raumes.
Das Wort und die Sprache stehen auch im Mittelpunkt des Schaffens von Nannucci, genauer: die Gravitationskräfte zwischen Sprache, Farbe, Licht und Raum. Dementsprechend stammen seine frühen Werke aus dem Umkreis der "Konkreten Poesie", einer Literaturgattung, die die Sprache und ihre Logik als optisches oder akustisches Phänomen erfahrbar machen will. Beispielsweise schrieb Nannucci Worte ins Wasser ("Scrivere sull' acqua", 1973), ließ Passanten jeweils ein Wort auf Tonband sprechen, so daß aus dieser vielstimmigen Wortfolge ein eigenwilliges "Gedicht" entstand ("Parole", 1976), oder ließ im Jahre 1978 das Schriftband "Image du ciel" mit blauen Buchstaben auf einem transparentem Träger von einem Flugzeug über den Himmel ziehen. Im Sinne einer Erkundung des Wechselverhältnisses von Sprache und Bild verschmelzen in dieser Aktion das Bezeichnete, der Himmel, seine Bezeichnung, das Schriftband, und das Bild des Himmels als ständig wechselnder Hintergrund. In solchen Arbeiten führt Nannucci die Kunst- und Sprachtheorie von Marcel Duchamp und Ludwig Wittgenstein weiter und lotet die Kommunikationsmöglichkeiten zwischen Betrachter, Bild und Künstler aus.
Auch wenn seine Arbeiten alle Medien einbeziehen, ob Video, Film, Tonband, Neon- und Klanginstallationen, Fotos oder Computer, so liegt doch ein besonderes Gewicht auf den Neon-Installationen. Frühe Neon-Arbeiten nehmen - vergleichbar "Image du ciel" - das tautologische Prinzip auf. So endet eine rote Neonlinie in den Worten "Red line" (1969) oder wird das Neonwort "Corner" um die Ecke eines Raumes geführt (1969).
Diese "methodologische Strenge" (Nannucci) gibt der Künstler später auf zugunsten eines farbenfrohen Spiels mit den Möglichkeiten neonleuchtender Worte, die sich auch zu Sätzen, Reden oder Geboten fügen können, bei denen "die tautologischen Werte zwar verworfen, aber nicht völlig aufgegeben " (Nannucci) werden. In diesem Sinne hat Nannucci für die Bibliothek einen Text in Neonbuchstaben entworfen, deren Leuchtkraft die Architekturform aufgreift und ästhetisch durchdringt, ein Text, der wörtlich und bildlich um die Grundwerte Gleichheit und Freiheit kreist: Die nicht endende Möglichkeit und unablässige Herausforderung des Denkens, die nicht abschließend zu findende Antwort einer solchen Reflexion über Freiheit und Gleichheit werden bildhaft deutlich durch die umlaufende Kreisform der Sätze, bei der sich jeweils die Worte "Freiheit /Freiheit" und "Gleichen / Gleichheit" berühren. Freiheit und Gleichheit stehen mithin gleichsam astronomisch in Opposition einander gegenüber: Tritt die eine ins Blickfeld, verliert die andere an Sichtbarkeit und Bedeutung und umgekehrt.
Nannuccis Text schlägt einen Bogen zu den Zitaten von Thomas Mann und Ricarda Huch, die der amerikanische Künstler Joseph Kosuth im Hallenboden des Paul-Löbe-Hauses eingelassen hat, zu der Leuchtstelen-Installation von Jenny Holzer im Nordeingang des Reichstagsgebäudes mit Reden der Abgeordneten und zu dem Text des Grundgesetzes auf den Glasstelen von Dani Karavan - unmittelbar gegenüber an der Uferpromenade des Jakob-Kaiser-Hauses sichtbar. So fügen sich Grundgesetz, Parlamentsreden, Literatur und eine politische Reflexion von Nannucci zu einem großen geistigen, alle Parlamentsgebäude diesseits und jenseits der Spree verbindenden Spannungsfeld.
Text: Andreas Kaernbach
Kurator der Kunstsammlung des Deutschen Bundestages