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Es gilt das gesprochene Wort
Meine Damen und Herren,
die Fragestellung, ob wir – und mit wir ist wohl die Bundesrepublik Deutschland gemeint – eine neue Verfassung brauchen, ist wieder einmal aktuell, aber keines-wegs neu. Sie begleitet vielmehr die mehr als 60-jährige Verfassungsgeschichte des Grundgesetzes. Als ein prominentes Beispiel für diese Beobachtung kann die viel-beachtete damalige Antrittsvorlesung des Freiburger Politikwissenschaftlers Wil-helm Hennis zum Thema "Verfassung und Verfassungswirklichkeit. Ein deutsches Problem" gelten. In dieser Vorlesung aus dem Jahre 1968 macht Hennis auf einen nach wie vor regelmäßig vorgebrachten Aspekt unserer Verfassungsdiskussion aufmerksam, nämlich das Spannungsverhältnis zwischen Verfassung und Verfas-sungswirklichkeit: "Das Begriffspaar hat bis in die Schulbücher Eingang gefunden; kein Leitartikler, der nicht damit umzugehen wüsste; kaum ein Kritiker unserer öffentlichen Zustände, der die Unruhe und das politische Unbehagen in diesem Lande nicht in einen Zusammenhang mit einem ,Auseinanderklaffen‘ von Norm und Wirklichkeit unserer politischen Verfassung bringen würde." Und er resümiert seine Hinweise auf die damals aktuelle Diskussionslage mit dem Fazit: "Die Verfassung, das Buch der Bücher, wird nicht ,ernst genommen‘, sie wird hintergangen, das Gebot wird verfehlt, sie befindet sich, wie unsere Literaten und einige Staatsrechtslehrer es sehen, im Zustande des Verfalls, sie wird verraten, bestenfalls dient sie als ideologischer Schein zur Verdeckung einer sich im Zustand der Sündigkeit befindlichen Wirklichkeit." (Wilhelm Hennis: Regieren im modernen Staat, Tübin-gen 2000, S. 183 und S. 200)
Besonders beachtlich an diesem vertrauten Befund ist das Datum: Damals war das Grundgesetz noch keine zwanzig Jahre alt, und schon seinerzeit gab es eine Dis-kussion darüber, ob die in dieser, zunächst provisorisch gedachten Verfassung formulierten Normen und die Entwicklung der politischen Realität nicht längst eine Diskrepanz aufwiesen, die durch Neuformulierungen, wenn nicht sogar eine neue Verfassung aufgelöst werden müsste. Allerdings wurde und wird immer wieder zugleich auf die Anpassungsfähigkeit dieses Verfassungstextes an veränderte Wirklichkeiten hingewiesen und damit ein ganz wesentliches Qualitätsmerkmal des Grundgesetzes hervorgehoben. Die unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Herausforderungen, die es in den vergangenen sechs Jahrzehnten, also seit der Be-schlussfassung über diese Verfassung, gegeben hat – von der Wehrverfassung in den Fünfzigern über die Notstandsgesetzgebung in den Sechzigern, die Einbeziehung der europäischen Integration in den folgenden Jahrzehnten bis zur Födera-lismusreform – haben immer wieder zu kleineren und größeren Veränderungen in der Verfassung geführt, aber nie wirklich die Notwendigkeit einer Totalrevision evident gemacht; im Gegenteil hat sich diese Verfassung als bemerkenswert anpas-sungsfähig erwiesen.
Mein persönlicher Eindruck ist, dass es für die neuerliche Debatte, die wir führen, drei sehr unterschiedliche Motive, Begründungen und auch Zielrichtungen gibt. Und die Beantwortung der Frage, ob wir überhaupt und wenn ja, unter welchen Voraussetzungen eine neue Verfassung brauchen, sollte vernünftigerweise mindes-tens mit dieser Differenzierung vorgenommen werden, weil diese unterschied-lichen Aspekte möglicherweise auch nicht zu gleichen Schlussfolgerungen Anlass geben.
Zunächst gibt es so etwas wie eine anhaltende Enttäuschung über eine mangelhafte Legitimation: Das Ganze sei damals ja unter ganz besonderen historischen Bedin-gungen zustande gekommen, habe den Anspruch einer endgültigen Verfassung von vornherein nicht erheben wollen, deswegen sei mit Blick auf diese besondere Lage die Nichtlegitimierung durch einen Volksentscheid historisch hinnehmbar, aber bei dauerhaftem Geltungsanspruch eigentlich nur schwer akzeptabel. Diese mal mehr und mal weniger ausdrückliche Enttäuschung des Fachpublikums verbindet sich wiederum regelmäßig mit dem Hinweis auf die verpasste Chance, dass es doch spätestens bei der Wiederherstellung der nationalen Einheit die probate Gelegenheit gegeben hätte, nun von der Öffnungsklausel des Artikel 146 Gebrauch zu machen und dieses vorläufige, nicht einmal Verfassung heißende Grundgesetz durch eine neue, gemeinsam erarbeitete und vom Volk bestätigte Verfassung abzulösen.
Ich habe den Eindruck, dass diese Enttäuschung unter westdeutschen Autoren und Publizisten ausgeprägter ist als unter ostdeutschen. Dass man die Gelegenheit der Wiederherstellung der nationalen Einheit für eine neue Verfassung hätte nutzen müssen, war jedenfalls ein in der westdeutschen Diskussion stärker reklamiertes Bedürfnis als in der ostdeutschen Öffentlichkeit. Die Frage ist im Übrigen faktisch in der damaligen DDR entschieden worden und zwar in Kenntnis einer Debattenlage, die es auch dort gab, nämlich bei den Runden Tischen, die sich ja längst etabliert hatten, im Vorfeld und parallel zur ersten und einzigen Wahl einer frei gewählten Volkskammer. Und diese frei gewählte, zweifellos demokratisch legitimierte DDR-Volkskammer hat in Kenntnis dieser Diskussion, teilweise übrigens auch von konkreten Formulierungsvorschlägen der Runden Tische, die denkwürdige Entscheidung getroffen, der Bundesrepublik Deutschland nach dem damaligen Artikel 23 des Grundgesetzes beizutreten. Dies ist keineswegs versehentlich passiert, sondern es war ein ausdrückliches historisch-politisches Kalkül. Und mindestens aus der Perspektive dieses damals erstmals demokratisch selbstbestimmten Teils Deutschlands war die Aussicht, dem Geltungsbereich dieser Verfassung anzugehören, offenkundig mit Abstand dringlicher als die Aussicht auf eine renovierte oder rundum erneuerte Verfassung.
Zweitens gibt es unabhängig von diesem ersten Einwand eine Reihe von Aspekten, die man unter dem Stichwort Modernisierungsbedarf zusammenfassen kann. Die wissenschaftliche wie öffentliche, publizistische Diskussion beschäftigt seit ge-raumer Zeit die Frage, ob nicht eine Verfassung, die nun allmählich ins Rentenalter hineinwächst, einen Revitalisierungs- oder Vitalisierungsschub gebrauchen könne, und ob sie nicht eine Reihe von gesellschaftlichen wie sicher auch messbaren, spürbaren Veränderungen, von Erwartungen an die Funktionsbedingungen eines politischen Systems übernehmen sollte oder müsste.
In diesem Zusammenhang werden viele sehr unterschiedliche Überlegungen dis-kutiert, die hier nicht im Einzelnen vorgetragen werden müssen. Besondere Bedeu-tung verdient die Frage, ob die Verfassung, so wie sie gegenwärtig besteht und gilt, einschließlich der Veränderungen, die sie im Laufe dieser gut 60 Jahre erfahren hat, erkennbaren Veränderungserwartungen hinreichend Raum gibt. Oder umgekehrt: Ob sich die Notwendigkeit ergibt, diesen veränderten Erwartungen, insbesondere veränderten Partizipationserwartungen, durch präzisierende oder neue Regelungen Raum zu geben. Ich halte diese Überlegung ausdrücklich nicht nur für zulässig, sondern auch für willkommen. Gerade bei einer Verfassung, deren Qualität ja im Allgemeinen national und international in den höchsten Tönen gelobt wird und sich insofern keineswegs gegen eine Fundamentalkritik wehren muss, können und sollten wir uns die Souveränität erlauben, uns mit der Frage auseinanderzusetzen, ob sich nicht an der einen oder anderen Stelle die Verfassungswirklichkeit zu sehr von der Verfassungsnorm entfernt habe.
Ich will zunächst zwei oder drei Punkte aufgreifen, die immer wieder in der Dis-kussion eine Rolle spielen und die ich in einer besonders kompakten, durchaus plausiblen Weise in einem Beitrag gefunden habe, den der Politikwissenschaftler Roland Sturm im Jahre 2010 formuliert hat. Er trägt die Überschrift "Das Grundgesetz im Wandel – ist Deutschland noch in guter Verfassung?" und nimmt damit eine Unterscheidung des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker auf, der dem Grundgesetz bescheinigt hatte, was für das Land nicht ganz so offensichtlich sei (Roland Sturm: "Das Grundgesetz im Wandel – ist Deutschland noch in guter Verfassung?", veröffentlicht auf der Internetseite des Goethe-Instituts 01/2010). Der Beitrag plädiert für eine Reihe von Präzisierungen in unserem Verfassungstext mit dem erklärten Ziel, deutlich gewordene Diskrepanzen zwischen Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit aufzuarbeiten und neu zu regeln. "In Deutschland", schreibt Roland Sturm, "hat man bisher darauf verzichtet, den wichtigsten Verfassungsneuinterpretationen in der Praxis durch eine Grundgesetzänderung eine gesetzliche Basis zu geben." Die wesentlichen, aus seiner Sicht dringlichsten Baustellen in diesem Zusammenhang sind die normative und die reale Rolle poli-tischer Parteien. "Ein revidiertes Grundgesetz müsste von der Logik des Parteienwettbewerbs ausgehen, wenn es die deutsche politische Realität abbilden wollte." Der Wissenschaftler weist auf den Umstand hin, dass die Verfassung, die reale politische Verfassung unseres Landes, sich ändere, ohne dass ein erkennbarer Institutionenwandel stattgefunden habe. Er verweist auf die parteipolitische Über-formung nicht nur des Parlaments, sondern auch der Rechte der einzelnen Abgeordneten: Aus dem Bundestag sei längst ein Fraktionenparlament geworden, und dies sei dringend regelungsbedürftig.
Ein zweiter Punkt, an dem er die immer größer gewordenen Diskrepanzen festmacht, sei die faktische Reduzierung der dem Regierungschef im Grundgesetz zu-gestandenen Kompetenz bei der Auswahl der Mitglieder seiner eigenen Regierung. "Die Bundesminister werden auf Vorschlag des Bundeskanzlers vom Bundespräsi-denten ernannt und entlassen", so heißt es schlicht und unmissverständlich im Wortlaut des Grundgesetzes (Art. 64 Abs. 1 GG). Aber tatsächlich ist schwerlich zu bestreiten, dass wir es in der Realität fast immer mit Koalitionsregierungen zu tun haben, mit denen wir auch in der Zukunft rechnen müssen. In der Realität von Koalitionsregierungen reduziert sich allerdings die Personalkompetenz des Regie-rungschefs auf Vorschläge aus den Reihen seiner eigenen Partei. Die daraus gezo-gene Schlussfolgerung verfassungsrechtlicher Klarstellung ist also durchaus dis-kussionswürdig.
Schließlich erinnert Sturm daran, dass selbst das Bundesverfassungsgericht die vom Grundgesetz nicht vorgesehene Selbstauflösung des Bundestages durch die Hintertür einer Kanzlerentscheidung nicht verhindert habe und verweist auf die berühmten Beispiele Helmut Kohl und Gerhard Schröder, einschließlich der Mit-wirkung des jeweiligen Bundespräsidenten und der Anrufung des Bundesverfas-sungsgerichts.
Ich will nicht behaupten, dass diese Beispiele mit Sicherheit die wichtigsten Anlässe einer neuen, jedenfalls weiterentwickelten Verfassung sind. Aufschlussreich ist allerdings für die drei genannten Beispiele die sich beinahe selbst beantwor-tende Frage, was wohl bei einer Neuformulierung unserer Verfassung in diesen drei Fragen heraus käme.
Mir fällt es jedenfalls nach jetzt gut 30-jähriger Zugehörigkeit zum Deutschen Bun-destag als Verfassungsgesetzgeber außerordentlich schwer, mir eine Verfassungs-änderung vorzustellen, die die Unterbelichtung der Fraktionen in der Verfassung nicht zu deren Gunsten korrigieren und im Ergebnis natürlich nicht die verfas-sungsrechtliche Stellung der Abgeordneten gegenüber den Fraktionen stärken, sondern die Fraktionen aus der Geschäftsordnung in die Verfassung holen würde.
Und wie soll denn die Präzisierung der Kanzlerkompetenz für die Bestellung des Kabinetts aussehen, die den beklagten Graubereich in der faktischen Benennung von Regierungsmitgliedern zugunsten einer nicht nur rechtlich unzweifelhaften, sondern faktisch durchsetzbaren Alleinzuständigkeit des Regierungschefs regelt? Dazu müsste das Wahlgesetz prinzipiell, und nicht bloß marginal, geändert und zudem in die Verfassung aufgenommen werden, um überhaupt in die Nähe einer faktischen Durchsetzbarkeit zu kommen.
Und was soll denn wohl mit der Selbstauflösung des Parlamentes passieren, die bislang in der Verfassung nicht ausdrücklich vorgesehen ist, und auch für verfas-sungspolitisch unerwünscht gehalten wird, worüber man durchaus streiten kann? Mit hoher Wahrscheinlichkeit würde eine neue Verfassung aber eher die gewach-sene Verfassungsrealität legitimieren als die spröde Verfassungsnorm zementieren.
Brauchen wir also eine neue Verfassung anstelle der jetzigen oder jedenfalls eine Rundumerneuerung durch eine mehr oder weniger große Anzahl präziserer oder neuerer Regelungen im Kontext einer gegebenen Verfassung?
Gerade im Lichte der zweiten Variante lässt sich nicht übersehen, dass wir in der jetzt gut 60-jährigen Geschichte des Grundgesetzes 59 Verfassungsänderungen erlebt haben, von denen nur unstrittig ist, dass sie die Länge des Grundgesetzes um mindestens die Hälfte erweitert haben. Aber ob überhaupt und wenn ja an welcher Stelle das Grundgesetz durch diese Veränderung besser geworden ist, ist durchaus zweifelhaft. Mir selber, der an einer Reihe dieser Veränderungen mitgewirkt hat, fallen nicht viele Beispiele ein, von denen ich erhobenen Hauptes begründen könnte, dass damit die Verfassung nicht nur fortgeschrieben, sondern auch sicher besser geworden sei. Mir fallen allerdings mindestens zwei oder drei Beispiele ein, für die ich mich nachträglich noch immer schäme, weil sie weder die Präzision noch die Ästhetik des Verfassungstextes wirklich befördert haben. Die größte einzelne Verfassungsveränderung ist im Kontext der Föderalismusreform entstanden und hatte allein mehr als zwanzig konkrete Änderungen im Text des Grundgesetzes zur Folge. Wenn ich bedenke, dass dies der größte einzelne Anlauf einer systematischen Beschäftigung mit unserer Verfassung unter Beteiligung von Spitzenrepräsentanten der Regierung, der Länder und aller Fraktionen war und dann das sehr übersichtliche Ergebnis betrachte – einschließlich der beispiellosen Großzügigkeit, in eine Verfassung Geldbeträge hineinzuschreiben, auf die die Länder einen Rechtsanspruch haben, um die Schuldenbremse realisieren zu können, die ihnen die gleiche Verfassungsänderung auferlegt – geht meine Begeisterung deutlich zurück, über eine Modernisierung unserer Verfassung nachzudenken und dabei das Risiko ähnlicher Lösungen in Kauf nehmen zu müssen.
Bleibt die zweifellos bedeutende Frage, ob das Grundgesetz eine erkennbar ge-wachsene, jedenfalls immer stärker artikulierte Partizipationserwartung nicht nur gewählter Repräsentanten in hinreichender Weise bedient. Oder ob umgekehrt die plebiszitäre Keuschheit, die unter dem unmittelbaren Eindruck der Nachkriegszeit und der vorhergehenden Epoche mindestens historisch verständlich sein mag, nach mehr als sechs Jahrzehnten stabiler Demokratie nicht aus der Zeit gefallen ist und hier nicht eine größere Spielfläche für die operative Mitwirkung an rechtsver-bindlichen Entscheidungen geboten wäre. Diese Debatte halte ich für überfällig. Und im Unterschied zu den Aspekten, die ich bisher behandelt habe, fällt mir da auch persönlich eine vorläufig abschließende Festlegung schwer, weil ich beach-tliche Argumente für, aber auch nicht unbeachtliche Argumente gegen eine solche plebiszitäre Öffnung sehe.
Zumindest aufmerksam machen möchte ich darauf, dass natürlich keine Rede davon sein kann, dass das vom Grundgesetz geprägte politische System der Bundes-republik Deutschland prinzipiell antiplebiszitär angelegt sei. Diese Charakterisie-rung ist bestenfalls für die Bundesebene zutreffend, verkennt aber, dass wir sowohl auf Länderebene wie in den Kommunen nicht nur andere verfassungsrechtliche Spielräume haben, sondern dass diese Spielräume in jüngerer Zeit erweitert worden sind und davon auch in beachtlichem Umfang Gebrauch gemacht wird: Die Anzahl von Bürgerbegehren, Bürgerentscheiden, Volkbegehren und Volksentscheiden ist in den letzten zehn Jahren größer gewesen als in den 50 Jahren zuvor. Dies bestätigt zum einen, dass es ganz offenkundig ein gewachsenes Partizipationsbedürfnis gibt, zum anderen macht es aber auch deutlich, dass von einer prinzipiellen Verweigerung für solche Entscheidungsmöglichkeiten keine Rede sein kann.
Die zweite Auffälligkeit ist die bescheidene Beteiligung an diesen plebiszitären Partizipationsmöglichkeiten, die regelmäßig unter den rückläufigen Wahlbeteili-gungen bleibt, die wir ihrerseits für besorgniserregend erklären. Das lässt zumindest über die verfassungspolitische Grundsatzfrage hinaus die Frage zu, ob auf diesem Wege eine höhere Legitimation politischer Entscheidungen zu erwarten ist als durch repräsentativ getroffene parlamentarische Entscheidungen. Ist der Beitrag zur Friedensstiftung bzw. Konsensbildung durch Volks- und Bürgerentscheide tat-sächlich höher einzuschätzen ist als dies auf anderem Wege zu erwarten wäre?
Nun hat mich ein Hinweis durchaus beeindruckt, auch nachdenklich gestimmt, den ich in einem Beitrag von Horst Dreier in der "Süddeutschen Zeitung" gefunden habe, in dem er ausdrücklich für mehr direkte Demokratie in Deutschland wirbt und dies mit dem Hinweis verbindet, dass es mit dem Grundgesetz durchaus vereinbar sei (Horst Dreier: "Das Volk als Gesetzgeber", in: "Süddeutsche Zeitung", 25.02.2012, S. 16). Der ausgewiesene Verfassungsrechtler argumentiert mit den bayerischen Erfahrungen und weist darauf hin, dass die direkte Demokratie dort häufig als Oppositionsersatz gewirkt habe und schon die bloße Möglichkeit eines Volksentscheides heilsam wirken könne, selbst wenn dieser am Ende gar nicht stattfände. Das letzte Wochenende hat ein besonders schönes Beispiel dafür gelie-fert. Denn der durch ein Volksbegehren vorbereitete Volksentscheid über die Ab-schaffung von Studiengebühren kann nun entfallen, nachdem eine monatelange, scheinbar fundamentalistische Konfrontationslage zwischen den Koalitionsparteien mit zunehmender Annäherung an den Wahltermin der einvernehmlichen "Kas-sierung" der Studiengebühren gewichen ist. So rundum glücklich macht mich auch das nicht. Denn dieser Mechanismus ist ebenso plausibel wie bedenklich. Und das, was Horst Dreier als die heilsame Wirkung der bloßen Möglichkeit eines Volksentscheides beschreibt, lässt sich mühelos für verschiedene unpopuläre Sachverhalte durchdeklinieren. Für Kindergartengebühren würden wir uns nach den Studiengebühren sicher eine ähnlich heilsame Versuchsanordnung vorstellen können. Wieso eigentlich nicht für Parkgebühren oder für Rundfunkgebühren? Welche Gebühren würden eigentlich eine solche heilsame Option überhaupt über-leben können?
Wenn man die Öffnung für solche Verfahren im Allgemeinen mit der Großzügigkeit verbindet, dass es wegen der vermuteten höheren Legitimation von Bürgerent-scheiden auf die Beteiligungsquote nicht mehr wirklich ankomme, melde ich aus-drückliche Zweifel an dem Fortschritt an, der durch eine solche Verfassungsreform tatsächlich zu erwarten ist – einmal abgesehen davon, dass die Vorschläge für ple-biszitäre Entscheidungen auf Bundesebene erstaunlich vage bleiben: Wenn die Felder benannt werden müssen, über die in Zukunft plebiszitär statt parlamenta-risch abgestimmt wird, werden offenkundig auch manche Befürworter zögerlich. Und bei dem, was man so hört, ergibt sich sehr schnell das Dilemma, dass man zur Vermeidung der Risiken eines solchen Verfahrens dann doch eher über nachran-gige Fragen die Partizipationsmöglichkeiten erweitern möchte, aber da, wo es wirk-lich spannend ist, vorsichtshalber lieber bei parlamentarischen Entscheidungen bleibt. Ich empfehle ein gemeinsames vertieftes Nachdenken darüber, ob das einer-seits verfassungspolitisch eine glänzende Rochade würde und andererseits die ge-fühlte Legitimation einer solchen fortgeschriebenen Verfassung erhöhte.
Im Übrigen will ich an einen Aspekt der öffentlichen Diskussion über "Stuttgart 21" erinnern, den wir keineswegs hinreichend aufgearbeitet haben, nämlich die Konfrontation zwischen längst getroffenen rechtsverbindlichen parlamentarischen Entscheidungen und einem zweifellos beachtlichen Bürgerzorn mit mindestens so beachtlichen Partizipationserwartungen sowie einer Beteiligungsofferte, bei der die Frage, ob sie verfassungsrechtlich überhaupt zulässig war, bis heute nicht abschlie-ßend geklärt worden ist. Mir scheint auffällig, dass die vielleicht am intensivsten öffentlich diskutierte Frage in der jüngeren deutschen Geschichte mit einer schwer überbietbaren medialen Begleitung unter Mobilisierung nahezu aller halbwegs ernstzunehmenden Argumente für und gegen die jeweiligen Optionen am Ende wiederum mit einer Beteiligung entschieden worden ist, die selbst in Stuttgart als unmittelbar betroffener Stadt geringer ausfiel als bei den letzten Landtagswahlen. Was mich persönlich wiederum noch mehr beeindruckt als der Umstand, dass das Ergebnis der Volksabstimmung zur allgemeinen Überraschung die parlamentarische Entscheidung bestätigt und nicht korrigiert hat.
Zu einem vergleichsweise frühen Zeitpunkt der Diskussion hatte Erhard Eppler in einem Interview die Sorge artikuliert, dass die Eskalation dieses Diskussions-prozesses und der damit transportierten Partizipationserwartungen am Ende in einen Konflikt zwischen dem Demokratieprinzip und dem Rechtstaatsprinzip münden könnte. Das mag man eine Spur überpointiert finden, ist aber keineswegs aus der Luft gegriffen. Denn wenn plebiszitäre Entscheidungen repräsentative nicht ersetzen sollen, sondern es um die mehr oder weniger weitreichende Ergänzung des einen Verfahrens durch das andere geht, gibt es eine Schnittstelle, an der genau dieser Konflikt auftreten könnte, vielleicht sogar auftreten muss. Die Ambivalenz dieser beiden Strukturprinzipien unserer Verfassung ist schon deswegen unaufgebbar, weil die Grundrechte unserer Verfassung nicht durch das Demokra-tieprinzip gesichert werden, sondern durch das Rechtsstaatsprinzip. Gerade wer ein Interesse an Minderheitsrechten hat, kann kein Interesse an einer auch nur po-tentiellen Konfliktlage zwischen dem Demokratieprinzip und dem Rechtsstaats-prinzip unserer Verfassung haben.
Ich behaupte nicht, dass sich damit alle Überlegungen erledigen, an dieser Stelle zu Veränderungen oder Erweiterungen zu kommen. Ich will nur darauf aufmerksam machen, dass ich dies für eine nicht unbedeutende Fragestellung halte, die in diesem Zusammenhang besondere Betrachtung verdient. Ebenso bedeutend ist die Erfahrung, die uns eigentlich alle empirischen Studien zu diesem Thema in der jüngeren Vergangenheit vermitteln: Die neuen Formen partizipatorischer Demokra-tie sind überwiegend ein Spielfeld der gebildeten Mittelschichten; das heißt, mit einer Veränderung oder Erweiterung der Partizipation ergeben sich keineswegs und schon gar nicht gleichmäßig neue Formen der faktischen Beteiligung für alle relevanten Interessen. Die weniger gebildeten, die unteren Schichten sind mit der klassischen repräsentativen Demokratie relativ gut gefahren, weil sie machtvolle organisierte Interessengruppierungen und Repräsentanten in diesem System ge-funden haben, die durch plebiszitäre Verfahren nicht unbedingt überboten werden.
Mein vorläufiges Resümee zu diesem zweiten Teil von Motiven und Erwartungen an eine mehr oder weniger weitgehende Verfassungsreform unter dem Stichwort Modernisierungsbedarf könnte lauten: Plebiszite sind weder legitimer noch not-wendigerweise besser als parlamentarische Entscheidungen, aber sie sind anders. Und bevor man hier das eine durch das andere verdrängt oder gar ersetzt, sollte man die Implikationen sorgfältig bedenken, die sich damit verbinden und von denen ich einige vorgetragen habe – ausdrücklich nicht mit dem Anspruch, damit das Thema abschließend behandelt zu haben. Dass im Übrigen Parlamente genau so irren können wie Bürgerinnen und Bürger, bedarf keiner zusätzlichen Erläuterung. Aber auch hier gibt es mindestens einen nicht völlig irrelevanten Unterschied: Für die Irrtümer parlamentarischer Entscheidungen sind die Verantwortlichen immer identifizierbar, bei Bürgerentscheiden nie. Das muss man nicht für einen durchschlagenden oder gar ausschlaggebenden Gesichtspunkt halten, dass er unbedeutend ist, glaube ich allerdings auch nicht.
Bleibt der dritte und vielleicht wichtigste Einzelaspekt, der die aktuelle Diskussion über Verfassungsreformen befeuert: die Perspektive der europäischen Integration und die Frage, inwieweit diese überhaupt und wenn ja, bis zu welchem Punkt, im Kontext unserer heutigen Verfassung darstellbar ist.
Diese Diskussion, die ich noch anspruchsvoller und in der Urteilsbildung noch schwieriger finde als die anderen genannten Aspekte, muss mit dem Hinweis be-ginnen, dass dem geltenden Grundgesetz der Kontext einer Europäischen Gemein-schaft und der Einbindung Deutschlands in diese Europäische Gemeinschaft nicht fremd ist, sondern dass vielmehr – von der Präambel angefangen bis zu der aus Anlass der Wiedervereinigung neuen Regelung des Artikels 23 – eine der monströ-sen Verfassungsergänzungen übrigens, die nicht literaturpreisverdächtig ist – diese Verfassung der Bundesrepublik Deutschland nicht nur integrationsfähig, sondern ausdrücklich integrationsoffen ist. Mir erschließt sich überhaupt nicht, dass man aus der Verfassung eine prinzipielle Zögerlichkeit gegenüber europäischer Integration herauslesen könnte. Letztlich geht es um eine weitere Implementierung des europäischen Integrationsprozesses unter dem Gesichtspunkt der Übertragung von Hoheitsrechten und der stärkeren Ausprägung von Staatlichkeit der Europäischen Gemeinschaft versus den Kern der Eigenstaatlichkeit des Staates. Auch dazu sind inzwischen eine ganze Reihe von Vorschlägen auf dem Markt, und spätestens seit dem Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts gibt es begründete Vermu-tungen hinsichtlich der Ansprüche unseres Verfassungsgerichts. Und es gibt auch zweifellos nicht frei erfundene Besorgnisse, ob und gegebenenfalls ab wann die inzwischen regelmäßige Vorlage von europäischen Verträgen und europäischen Integrationsvereinbarungen beim Bundesverfassungsgericht zu einem entspre-chenden Verdikt führen könnte.
Ich möchte Sie auf einen Aspekt aufmerksam machen, der in diesem Zusammenhang nicht immer hinreichend berücksichtigt wird, der wiederum mit dem fortge-schrittenen Integrationsprozess zu tun hat, mit dessen Logik und möglichen Gren-zen sich das Bundesverfassungsgericht in seinem Lissabon-Urteil auseinanderge-setzt hat. Schon parallel zu den Beratungen des Lissabon-Vertrages, der natürlich wie alle anderen europäischen Verträge auch im Parlament ratifiziert worden ist, hatte es damals eine Vereinbarung zwischen Bundesregierung und Parlament über die künftige Zusammenarbeit in europäischen Angelegenheiten gegeben. Diese Vereinbarung ist im Zusammenhang der Überprüfung der Verfassungskonformität des Lissabon-Vertrages vom Bundesverfassungsgericht mit dem Hinweis moniert worden, sie sei ja schön und gut, aber rechtlich unerheblich, denn man könne sich an sie halten oder auch nicht. Erst dann, wenn sie Rechtscharakter habe, schaffe sie die neue Qualität, die Souveränitätsübertragungen durch parlamentarische Ent-scheidung verfassungskonform mache. Inzwischen haben wir ein Parlamentsbetei-ligungsgesetz. Dieses Parlamentsbeteiligungsgesetz, das die Grundsatzregelung des Artikels 23 aufnimmt und konkretisiert, enthält im wesentlichen drei Festlegungen:
1. Die Regierung ist verpflichtet, den Bundestag und auch den Bundesrat über alle europäischen Initiativen, also Regelungsabsichten, so schnell wie möglich und so vollständig wie möglich zu unterrichten.
2. Der Bundestag hat die Möglichkeit, zu jeder dieser Initiativen eine Stellungnahme abzugeben. Das heißt, er muss nicht, aber er kann.
Und der spannende dritte Punkt ist:
3. Wenn der Bundestag von dieser Möglichkeit Gebrauch macht, muss die Bundes-regierung diese Stellungnahme als ihre Verhandlungsposition in Brüssel beziehen.
Dieses Parlamentsbeteiligungsgesetz haben wir im Zusammenhang mit den vertrag-lichen Regelungen mit dem Dauer-Euro-Krisenmanagement in der Weise weite-rentwickelt und präzisiert, dass die Bundesregierung für jede mögliche Maßnahme im Rahmen von Stützungsaktivitäten auf Märkten, schon gar mit Blick auf schwie-rige Haushaltssituationen in dritten Mitgliedsstaaten, wiederum verpflichtet ist, den Bundestag und den Bundesrat zu unterrichten, wo immer Anforderungen oder mögliche Zusagen diskutiert werden. Und nun hat der Bundestag nicht nur die Möglichkeit einer Stellungnahme, sondern er muss darüber befinden, ob überhaupt, unter welchen Bedingungen und in welcher Höhe die Bundesrepublik Deutschland gegenüber Drittstaaten finanzielle Verpflichtungen eingeht – ob in Form von Krediten, von Bürgschaften, von Garantien oder was auch immer, für die im Übrigen nach den Europäischen Verträgen kein Rechtsanspruch besteht. Und erst nach einer solchen konstitutiven Mitwirkung des Bundestages hat die Regierung überhaupt die Möglichkeit, rechtsverbindliche Zusagen zu machen.
Die tatsächliche oder eingebildete, kurzfristige oder langfristige Wirkung dieser Regelungen wird sicher nach mehrjährigen Erfahrungen einer vertieften Analyse unterzogen. Im Ergebnis dieser beiden Regelungen haben wir jedenfalls in EU-Angelegenheiten eine neue Architektur im Verhältnis von Exekutive und Legislati-ve. Der gesamte europäische Integrationsprozess bis Lissabon war exekutiv ge-steuert: Die Parlamente wurden nachrichtlich beteiligt und konnten den großen notariellen Stempel durch Ratifizierung auf die Dokumente setzen, auf das Ver-handeln dieser Verträge aber keinen Einfluss nehmen. Seit dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags und mit dem Parlamentsbeteiligungsgesetz haben wir die Situa-tion, dass diese Grenze zwischen Exekutive und Legislative verschwimmt und der Bundestag am Ende, wenn überhaupt, Verträge ratifiziert, an deren Zustandekom-men er selbst beteiligt war. Das bedeutet im Ergebnis wiederum, dass die Europa-politik mit all dem, was es an Richtlinien und Verordnungen gibt, aus dem Feld der Exekutive zunehmend in den Bereich der Legislative gewandert ist. Andersherum formuliert: Die Europapolitik ist längst kein Bereich der Außenpolitik mehr mit der Prärogative der Exekutive, sondern sie ist zu einem Bestandteil der Innenpolitik geworden, wo für das Zustandekommen von rechtsverbindlichen Normen die gleichen Anforderungen gelten wie für nationale Gesetzgebung auch.
Wenn das so ist, und im Kern ist es so, dann kann das auch für die verfassungs-rechtliche Beantwortung der Frage, ob und welche Grenzen einem weiteren politi-schen Integrationsprozess durch unsere Verfassung gesetzt wären, nicht völlig unerheblich sein. Damit ist die Frage noch nicht abschließend beantwortet, am Ende wird sie nicht vom Bundestag beantwortet, sondern vom Bundesverfassungsgericht. Aber ich finde die gelegentlich insinuierte Schlussfolgerung, es gäbe erkennbar einen Punkt, jenseits dessen die Verfassung sicher nicht mehr reicht, ein bisschen voreilig. Ich sehe den Punkt noch nicht, schon gar nicht konkret und noch weniger mit Blick auf eine identifizierbare Zeitachse. Gleichzeitig will ich allerdings ausdrücklich nicht ausschließen, dass er irgendwann erreicht sein könnte, wenngleich die in diesem Zusammenhang reklamierte eigenstaatliche Souveränität eher in die Verfassungsinterpretation als in den Verfassungstext gehört. Von staat-licher Souveränität ist im Grundgesetz nirgendwo die Rede, von europäischer In-tegration dagegen wohl. Dass folglich ein Prinzip, das man in die Verfassung hi-neininterpretiert, ganz sicher den Vorrang vor einer Selbstverpflichtung haben müsse, die in der Verfassung steht, erschließt sich nicht ohne weiteres und lässt für manchen verfassungsrechtlichen und verfassungspolitischen Disput Spielräume.
Inzwischen gibt es eine Reihe von konkreten Vorschlägen, wie man das Problem gegebenenfalls regeln könne. Rainer Wieland, Vizepräsident des Europäischen Par-laments und Präsident der Europa-Union Deutschland, hat im vergangenen Sommer den Vorschlag gemacht, man solle eine Volksabstimmung über eine Grundge-setzänderung durchführen, die den Souveränitätsverzicht zugunsten der europä-ischen Integration explizit erlaubt (Rainer Wieland: "Wir brauchen keine neue Ver-fassung", veröffentlicht auf der Internetseite der Europa-Union 08/2012). Ich weiß nicht, ob das erstens nötig und zweitens klug ist. Es ist aber einer der zahlreichen Vorschläge, die zu dieser Frage inzwischen längst auf dem Markt sind. Horst Dreier hat darauf hingewiesen, dass sich keineswegs zwingend aus dem Artikel 146 des Grundgesetzes die Notwendigkeit ergebe, eine völlig neue Verfassung beschließen zu müssen und schon gar nicht die Zwangsläufigkeit, darüber in einem Plebiszit zu befinden (Horst Dreier: "Ein neues Deutschland", in: "Die Zeit", 20.10.2011, S. 15). Auch an dieser Stelle sei das Grundgesetz viel offener, flexibler und anpassungsfä-higer als eine Reihe von Kommentatoren meinen. Zunächst sei es wichtig, sich klar zu machen, dass das Grundgesetz eben keinen Anspruch auf ewige Geltung erhebt, weil selbst die Ewigkeitsklausel nur solange gelte wie das Grundgesetz. Und das Grundgesetz eröffne wiederum im Artikel 146 ausdrücklich die Möglichkeit seiner Ersetzung durch eine andere Verfassung. Dass diese Öffnung obsolet geworden sei mit der Wiederherstellung der Deutschen Einheit, könne er nicht erkennen – ich übrigens auch nicht. Denn obwohl oder gerade weil über genau diese Implikation damals ausdrücklich gesprochen worden ist, blieb die einzige Änderung, die der Artikel 146 im Zuge der Wiedervereinigung erfahren hat, die Einfügung eines Rela-tivsatzes. Der ursprüngliche Satz: "Dieses Grundgesetzes verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die vom Deutschen Volke in freier Entscheidung geschlossen worden ist" lautet nun: "Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tag, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die vom Deutschen Volke in freier Entscheidung geschlossen worden ist." Mir erschließt sich nicht, dass das in der Substanz eine Veränderung gegenüber der prinzipiellen Möglichkeit der Ersetzung dieser Verfassung durch eine andere dar-stellen soll. Wie Horst Dreier sagt, gibt es mindestens zwei denkbare Wege: Zum einen das Modell eines Konventes, der über eine neue Verfassung berät, über des-sen Ergebnis dann ganz gewiss durch Volksabstimmung befunden werden müsse. Das andere denkbare Modell, das in der deutschen Verfassungsgeschichte viel aus-geprägtere Traditionen habe, sei das Modell einer Nationalversammlung, die am Ende ihrer Beratung eine neue Verfassung beschließe oder auch nicht.
Zusammenfassend: Können wir uns eine neue Verfassung geben? Ja. Müssen wir uns eine neue Verfassung geben? Im Augenblick sicher nicht. Sollten wir uns eine neue Verfassung geben? Nein, jedenfalls nicht eher, als wir müssen.