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Die Lage in Deutschland wird von den Spitzenpolitikern der Koalition und der Opposition unterschiedlich bewertet. Während Vertreter von CDU/CSU und FDP am Dienstag, 3. September 2013, in der voraussichtlich letzten Parlamentssitzung vor der Bundestagswahl ausschließlich Erfolge in ihrer Politik der vergangenen vier Jahre für sich reklamierten, sprachen die Sprecher der Oppositionsfraktionen SPD, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen von "vertaner Zeit".
"Es waren vier gute Jahre", betonte Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (CDU) zu Beginn der dreieinhalbstündigen Debatte. Es gehe heute vielen Leuten besser als vor vier Jahren. So gebe es derzeit 1,9 Millionen Jobs mehr als 2009. Dies sei der höchste Beschäftigungsgrad, den Deutschland jeweils gehabt habe. Es sei ihr Ziel, die Arbeitslosigkeit in den kommenden vier Jahren zu senken. Dazu sollten unter anderem die Ausbildungsmöglichkeiten vermehrt werden und Ältere sollten bessere Chancen erhalten, in Arbeit zu bleiben.
Merkel wies darauf hin, dass die Steuereinnahmen so hoch seien wie nie zu vorher. Deshalb seien auch keine Steuererhöhungen notwendig. Die gute Lage in Deutschland sei der Arbeit vieler Menschen zu verdanken; sie sei aber auch das "Werk guter Politik", lobte sie die Arbeit der schwarz-gelben Koalition.
Dem stimmte Rainer Brüderle, der Vorsitzende der FDP-Fraktion, zu. 42 Millionen Menschen seien in Arbeit, in den vergangenen vier Jahren seien die Reallöhne um durchschnittlich jeweils drei Prozent gestiegen.
In "schwierigem Umfeld" seien die Bundesbürger um 22 Milliarden Euro entlastet worden. Zudem sei der Haushalt konsolidiert worden.
Diese "sensationellen Erfolge" konnten die Sprecher der Oppositionsfraktionen nicht erkennen. Peer Steinbrück (SPD) warf der Regierung ein "Scheitern auf ganzer Linie" vor. Statt Aufbruch gebe es Stillstand, statt Richtung gebe es Kreisverkehr, betonte er.
Merkel habe in den vergangenen vier Jahren nur "angekündigt, abgewartet und ausgesessen". Sie habe kein Projekt und keine Vision gehabt, die über diese Legislaturperiode hinaus Deutschland Zukunft und Richtung gegeben habe. Deutschland sei in den vergangenen vier Jahren "weit unter Wert" regiert worden. Deshalb sei ein Neustart notwendig.
Katrin Göring-Eckardt (Bündnis 90/Die Grünen) hielt Merkel vor, soziale Probleme zu ignorieren. "Sie sind dabei, das Land müde zu lächeln", sagte sie.
Viele Menschen hätten nichts vom Reichtum des Landes, da Bildung und Aufstiegschancen ungleich verteilt seien. In Deutschland ginge es nur einigen gut, betonte sie.
Der Vorsitzende der Fraktion Die Linke Dr. Gregor Gysi kritisierte die "Konsenssoße" der anderen Bundestagsfraktionen. Nur seine Fraktion habe konsequent gegen Kriegseinsätze, Waffenexporte, die falschen Wege bei der Eurokrise, gegen die Senkung des Rentenniveaus und gegen Hartz IV gestimmt.
Er forderte unter anderem Steuergerechtigkeit. Deshalb müsse der so genannte Mittelstandsbauch abgeschafft werden. Nur dann gebe es eine gerechtere Gesellschaft.
Im Anschluss an die Debatte stimmte der Bundestag ohne Aussprache einer Reihe von Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses zu. Angenommen wurden die Sammelübersichten 624 bis 633 (17/14681, 17/14682, 17/14683, 17/14684, 17/14685, 17/14686, 17/14687, 17/14688, 17/14689, 17/14690, 17/14691, 17/14692, 17/14693).
Bundestagsvizepräsident Dr. Wolfgang Thierse (SPD) dankte anschließend allen Abgeordneten, insbesondere den aus dem Bundestag ausscheidenden, für ihr Engagement und ihren Einsatz. Nach 15 Jahren im Präsidium des Bundestages war dies auch für Thierse die letzte Parlamentssitzung. In 24 Jahren sei das erste Jahr in der am 18. März 1990 frei gewählten Volkskammer der DDR die aufregendste Zeit gewesen.
Sein Vater, der im Januar 1933 volljährig wurde und Anfang März 1990 starb, habe in seinem Leben nie frei wählen können, sagte Thierse. Sein Beispiel erinnere ihn an die "Kostbarkeit freier Wahlen". Es mache ihn "traurig und wütend", wenn viele auf ihr Wahlrecht verzichteten.
1990 sei das Jahr des Aufbruchs in die parlamentarische Demokratie gewesen. Thierse verband dies mit einer Verbeugung vor Bonn als langjährigem Standort der parlamentarischen Demokratie in Deutschland. Er lobte die "Langsamkeit der Demokratie", des friedlichen Streits nach den Regeln der Fairness, der manchmal "allzu viel Geduld" verlange. Sie sei jedoch die Bedingung dafür, dass sich möglichst viele am Meinungsbildungsprozess beteiligen können.
Thierse wünschte dem Bundestag, sich dem "Beschleunigungsdruck von Märkten und Medien" zu widersetzen. Bei dieser "selbstbewussten Entschleunigung" gehe es um den Primat, die Gestaltungskraft demokratischer Politik, sagte Thierse unter dem Beifall des ganzen Hauses. (mik/vom/03.09.2013)