Navigationspfad: Startseite > Dokumente > Web- und Textarchiv > Textarchiv > Alterspräsidenten
Das Amt des Alterspräsidenten ist parlamentarische Tradition und Teil der Geschäftsordnung des Bundestages. Ein Amt von hoher Würde, aber nur von kurzer Dauer. Es hat sich nach traditioneller Praxis mit der Wahl des neuen Bundestagspräsidenten erschöpft. Obwohl er nicht in sein Amt gewählt wird, sondern in seiner Eigenschaft als ältester Abgeordneter zu dieser Ehre kommt, ist es anerkannte Tradition, dass der Alterspräsident die erste Rede vor dem Plenum hält. Bisher haben alle Alterspräsidenten der Bundesrepublik von dieser Tradition Gebrauch gemacht und dabei eigene Akzente gesetzt.
1949: Am 7. September 1949 konstituiert sich in Bonn der erste Deutsche Bundestag der gerade gegründeten Bundesrepublik. Das junge Parlament besteht aus 402 in den westlichen Besatzungszonen gewählten Abgeordneten und acht Berliner Abgeordneten ohne Stimmrecht. Paul Löbe (1875-1967) eröffnet als ältester Abgeordneter die Sitzung im neuen Plenarsaal in Bonn. Es ist nicht nur sein Alter, das den 74-Jährigen für die feierliche Eröffnung des Parlaments qualifiziert.
Er ist einer von 29 der damals 410 Abgeordneten, die schon dem Reichstag angehörten. Bereits 1919 ist der SPD-Politiker Vizepräsident der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Von 1920 bis 1933 ist er Abgeordneter im Reichstag der Weimarer Republik, fast zwölf Jahre als dessen Präsident.
Nach den Juli-Wahlen von 1932 wird er von dem Nationalsozialisten Hermann Göring abgelöst. 1933 stimmt er gegen das Ermächtigungsgesetz und wird nach der nationalsozialistischen Machtergreifung für sechs Monate inhaftiert. Unter der Bedingung, seine politische Arbeit aufzugeben, wird der ehemalige Reichstagspräsident aus der Haft entlassen, nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 aber – aufgrund seiner Verbindung zum Widerstand – erneut inhaftiert.
Nach 1945 beteiligt sich Löbe am Wiederaufbau der SPD und wirkt 1948/49 als einer der acht Berliner Abgeordneten im Parlamentarischen Rat an einigen der konstitutiven Artikel des Grundgesetzes mit. In den ersten Deutschen Bundestag wird der aus dem schlesischen Liegnitz stammende Abgeordnete wegen der alliierten Vorbehalte nicht vom Volk gewählt, sondern vom Abgeordnetenhaus von Berlin als nicht stimmberechtigter Abgeordneter delegiert.
Eindringlich erinnert der letzte demokratische Reichstagspräsident in seiner Eröffnungsrede direkt an jene fatale Entwicklung und an das Ermächtigungsgesetz der Nationalsozialisten von 1933, mit dem endgültig die staatsbürgerlichen Freiheiten für lange Jahre begraben worden waren.
Er gedenkt der menschlichen Not – von den Vertriebenen bis zur ausstehenden Rückkehr der Kriegsgefangenen – sowie der Zerstörung der Städte und bedankt sich für die Hilfsleistungen aus dem Ausland. Die Abgeordneten des Hauses fordert er auf, der Menschen aller Völker zu gedenken, die Opfer dieses letzten Krieges geworden sind.
Die Erinnerungen an das Nazi-Regime und die Kriegslasten liegen noch schwer auf der jungen, werdenden Demokratie. Zur Bewältigung der Folgen des Krieges und der Naziherrschaft und der Überwindung der Notlagen stehen Parlament und künftige Regierung vor einer Fülle von Aufgaben und Problemen.
Es ist deshalb die schwere Aufgabe "der Alten und Jüngeren vereint" an die Stelle der Trümmer wieder "ein wohnliches Haus zu setzen und in den Mutlosen eine neue Hoffnung zu wecken". Löbe ist zuversichtlich: "Unser arbeitsames, tüchtiges, ordnungsliebendes, leider politisch so oft irregeführtes Volk – es wird es schaffen."
Jetzt sei es an der Zeit, aus den Schatten der Nazi-Herrschaft herauszutreten um ein neues, freiheitliches Deutschland zu schaffen, fordert der engagierte Demokrat. Vor diesem historischen Hintergrund bekräftigt er: "Uns bewegt nicht der Gedanke nach einer Form von Vorherrschaft. Wir wollen mit allen Gliedern in den Kreis der europäischen Nationen treten."
Als einer der Vertreter der alten deutschen Hauptstadt Berlin erinnert Löbe in seiner Rede auch an die Landsleute, denen eine fremde Verwaltung es verwehre, "mit in diesem Saale zu sitzen und mit uns zu beraten". Die Wiedergewinnung der deutschen Einheit nennt der aufrichtige Patriot als wichtigste Aufgabe. Als überzeugter Europäer versichert er aber auch, "dass dieses Deutschland ein aufrichtiges, von gutem Willen erfülltes Glied eines geeinten Europas sein will".
"Was erhofft sich das deutsche Volk von der Arbeit des Bundestages?", wendet sich der Alterspräsident an seine Kollegen und beantwortet dies so: "Dass wir eine stabile Regierung, eine gesunde Wirtschaft, eine neue soziale Ordnung in einem gesicherten Privatleben aufrichten, unser Vaterland einer neuen Blüte und neuem Wohlstand entgegenführen." An die Vertreter der Presse gerichtet, bittet er, ihre Berichterstattung und ihre Kritik nicht in Sensationen und Zwischenfällen zu suchen, sondern die praktische Arbeit des Bundestages zu würdigen.
Sein letzter Appell gilt den Abgeordneten dieses Hauses selbst: "Hinter uns liegt ein erbitterter Wahlkampf, dessen Formen oft das erträgliche Maß weit überschritten. Mit der Fortsetzung dieser Ausbrüche ist dem deutschen Volke nicht gedient. Es braucht nicht niederreißende Polemik, sondern aufbauende Tat. Wollen wir vor der deutschen Geschichte bestehen, dann müssen wir uns, ob in Koalition oder Opposition, so weit zusammenfinden, daß Ersprießliches für unser Volk daraus erwächst, damit wir uns auch die Achtung für unser deutsches Volk in der Welt draußen zurückgewinnen. Meine Damen und Herren, lassen Sie uns die Arbeit mit diesem Vorsatz beginnen!"
Danach tritt der erste Bundestag zur Tagesordnung über. Auf Vorschlag des Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU, Konrad Adenauer, wird der CDU-Abgeordnete Erich Köhler mit 246 Stimmen zum ersten Bundestagspräsidenten gewählt.
Bis 1953 bleibt Paul Löbe Abgeordneter des Deutschen Bundestages. 1954 übernimmt er den Vorsitz des Kuratoriums "Unteilbares Deutschland" und setzt sich mit hohem Engagement für die Einigung Westeuropas und die Wiedervereinigung Deutschlands ein.
Paul Löbe stirbt am 3. August 1967 in Bonn. (klz/09.10.2013)