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Es gilt das gesprochene Wort.
Anrede,
der Volkstrauertag ist ein Tag des stillen Gedenkens an alle Opfer von Krieg und Gewalt und zugleich ein Tag der Besinnung, wie wir heute auf Krieg, Gewalt und Terror reagieren, was wir heute für Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit und Menschlichkeit bei uns und in der Welt tun können. Nicht nur die Tradition, sondern die Einsicht beantwortet immer wieder geäußerte Zweifel, ob wir diesen Gedenktag - mehr als 60 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges - noch brauchen.
Ja, wir brauchen ihn, aus Respekt vor den Millionen Opfern von Krieg und Gewalt. Wir brauchen diese Momente des Innehaltens, genauso wie wir Orte des Gedenkens brauchen, damit das, was geschehen ist, nicht verdrängt wird. Das nationale Gedächtnis, das eine identitätstiftende Wurzel unseres Verständnisses von Staat und Gesellschaft ist, braucht Stützen der Erinnerung. Gedenktage wie Denkmale bringen zum Ausdruck, welche Ereignisse und Erfahrungen unserer Geschichte wir im Bewusstsein auch künftiger Generationen bewahren und lebendig halten wollen.
Die Geschichte des Volkstrauertages ist älter als die Geschichte der Bundesrepublik. Sie geht zurück auf eine Anregung des Volksbundes Deutscher Kriegsgräberfürsorge aus dem Jahre 1920. Damals ging es darum, an die Toten des Ersten Weltkrieges zu erinnern. Verbunden damit war die Hoffnung, dass die Erinnerung an den Schrecken und das millionenfache Leid des Krieges den Frieden unverbrüchlich machen würde. Diese Hoffnung wurde weniger als zwanzig Jahre später grausam enttäuscht. Erst nach dem vom nationalsozialistischen Deutschland entfachten Zweiten Weltkrieg ist sie jedenfalls in Europa weitgehend Realität geworden. "Weitgehend", weil wir beschämt zugeben müssen, dass es der europäischen Staatengemeinschaft nicht gelungen ist, am Ende des 20. Jahrhunderts Völkermord und Krieg im ehemaligen Jugoslawien zu verhindern. Schließlich war Gewalt einmal mehr nur durch Gewalt zu stoppen.
Die Europäische Union und ihre Vorläufer, die EWG und die Europäische Gemeinschaft, haben ihre Wurzeln in dem festen Vorsatz, aus dem kriegsgeschüttelten Kontinent ein freiheitliches, friedliches Europa zu machen. Inzwischen haben die Bürger, die in den EU-Staaten leben, eine mehr als sechzig Jahre währende Periode des Friedens erlebt. Das Projekt Europa ist ein beispielloser Erfolg, der auch auf anderen Kontinenten Beachtung und Bewunderung gefunden hat.
"Versöhnung über den Gräbern" - heißt es im Motto des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge, der heute in über 40 Staaten rund zwei Millionen Soldatengräber betreut. Der Volksbund hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Gebeine gefallener Soldaten zu bergen und würdevoll zu bestatten. Für die Angehörigen der Toten ist dies eine außerordentlich bedeutsame Arbeit: sie gibt ihrer Trauer einen Ort.
Die Arbeit des Volksbundes hat aber auch eine politische Dimension. Denn das, was auf den Soldatenfriedhöfen geleistet wird, ist auch von herausragender Bedeutung für die Völkerverständigung und die Aussöhnung zwischen ehemaligen Kriegsgegnern. Soldatenfriedhöfe sind eben nicht nur Orte des Gedenkens und des Erinnerns, sondern können auch Orte sein, an denen Versöhnung wächst. Der Händedruck von Helmut Kohl und Francois Mitterand auf dem Gräberfeld der Schlacht von Verdun ist dafür nicht nur ein eindrucksvolles Bild, sondern eine nachhaltige Botschaft.
Es ist inzwischen längst eine schöne Tradition geworden, dass an dieser Veranstaltung des Volksbundes im Reichstagsgebäude auch Gäste aus osteuropäischen Ländern, heute aus Russland, Weißrussland und der Ukraine, teilnehmen, die ich herzlich begrüße.
Nach dem Fall der Mauer wurden allein in Osteuropa in den vergangenen Jahren die Gebeine von rund 500.000 deutschen Soldaten gefunden, die auf neu eingerichtete Friedhöfe umgebettet wurden.
Es ist ein gutes Zeichen, dass sich Jahr für Jahr junge Leute finden, die freiwillig auf den Soldatenfriedhöfen helfen. Hier, in der Nähe der ehemaligen Schlachtfelder, auf denen ihre Großvater und Urgroßväter gegeneinander kämpfen mussten, treffen sich junge Leute, setzen sich mit der deutschen und europäischen Geschichte auseinander und werden sensibilisiert für die Folgen von Krieg und Gewalt. Im wahrsten Sinne des Wortes "über den Gräbern" arbeiten sie miteinander für ein gemeinsames Europa, für ein europäisches Bewusstsein. Tausende von jungen Leuten motiviert der Volksbund auf diese Weise alljährlich zu dieser Verbindung von aus praktischem Geschichtsunterricht und konkreter Friedensarbeit, die den wunderbaren Nebeneffekt hat, Grenzen auf der Karte wie im eigenen Kopf zu überwinden. Für seine engagierte Jugendarbeit danke ich dem Volksbund ganz besonders.
Die Kriege des 20. Jahrhunderts haben Millionen von Opfern gefordert. Hinzu kommen Millionen Menschen, die verwundet, verstümmelt, entsetzlich entstellt wurden. Unsere Vorstellungskraft versagt, muss versagen angesichts der monströsen Opferzahlen.
Umso bewegender sind einzelne Schicksale, in denen sich der ganze Irr-Sinn der beiden Weltkriege spiegelt. Ich zitiere zwei kurze, persönliche Zeugnisse aus dem Kriegsjahr 1943. Zunächst ein Zitat aus dem Tagebuch einer jungen Frau - sie war damals 19 Jahre alt; Datum des Eintrags: Freitag, 22. Januar 1943, veröffentlicht im 2. Band von Walter Kempowskis grandioser Chronik "Das Echolot".
"Der Krieg, wie furchtbar, wie grausam ist er geworden. In letzter Zeit fiel Helmut Martz, unser Nachbar Richard Probst, Tim (der Pflegesohn von Kalbs) und wieder zwei von Ursels Klasse - jetzt sind’s 6! … Wenn man so in die Zukunft blickt, befällt einen namenloses, unendliches Grauen."
Und ich zitiere aus Uwe Timm, "Am Beispiel meines Bruders", den Brief eines jungen Soldaten, den dieser im September 1943 aus dem Feldlazarett schrieb:
"Mein Lieber Papi Leider bin ich am 19. schwer verwundet ich bekam ein Panzerbüchsenschuß durch beide Beine die sie mir nun abgenommen haben. Daß rechte Bein haben sie unterm Knie abgenommen und daß linke Bein wurde am Oberschenkel abgenommen sehr große Schmerzen hab ich nicht mehr."
Einen Monat später war der junge Mann, auch er damals gerade 19 Jahre alt, tot.
So, wie die Opferzahlen für uns immer unvorstellbare anonyme Größen bleiben werden, so konkretisiert sich in persönlichen Zeilen das Leid der Opfer und ihrer Angehörigen; so wird auch für diejenigen, die - zum Glück - die persönliche Erfahrung des Krieges nie machen mussten, ein wenig fassbarer, was es tatsächlich bedeutet, wenn Lebensläufe zerstört und Zukunft nicht erlebt werden kann.
Zerstörte Lebensläufe, zumindest aber gestörte Lebensläufe - solch persönliche Tragödien trafen auch Millionen Deutsche, die nach dem Zweiten Weltkrieg vertrieben wurden. Viele verloren nicht nur die Heimat, sondern auch ihr Leben. Die meisten von ihnen waren persönlich unschuldige Opfer eines verheerenden Krieges, der zweifellos von Deutschland verursacht und verschuldet war. Auch die Vertriebenen haben Anspruch darauf, dass wir uns ihres Schicksals erinnern, dass wir sie in ihrer Trauer nicht allein lassen, sondern im nationalen Gedächtnis bewahren, was Folge unserer gemeinsamen Geschichte war und bleibt.
Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges sind über 60 Jahre vergangen. Der Krieg ist ein ferner, aber kein abgeschlossener Teil unserer Vergangenheit. Die furchtbare Erfahrung seiner Schrecken ist Teil unserer Identität wie unserer Sehnsucht nach Frieden.
Seit 1945 wurden erneut Hunderte von Kriegen überall auf der Welt geführt. Wieder wurden Millionen von Menschen Opfer - Opfer von Krieg, Verfolgung, Vertreibung, fanatischem Terror. Und nach wie vor ist Gewalt weltweit verbreitet, um andere - einzelne Menschen, Gruppen oder Staaten - zu unterdrücken, ihnen im Namen von Nation, Volk, Rasse, Religion oder Ideologie den eigenen Willen aufzuzwingen.
Das Gedenken an die Toten ist für uns auch Mahnung, aus der Vergangenheit Schlüsse für die Gegenwart zu ziehen und danach zu handeln. Wann immer und wo immer wir heute helfen können, Blutvergießen zu beenden und Not zu lindern, wenn wir einen Beitrag leisten können, Versöhnungsprozesse voranzutreiben, wenn wir helfen können, Menschen vor Gewalt und Terror zu schützen, dann müssen wir es tun. Wir dürfen nicht wegschauen, als ginge uns das nichts an. Das ist zuallererst ein Gebot der Menschlichkeit. Es ist aber auch ein Gebot vorausschauender Vernunft. Der Glaube an die Begrenzbarkeit von Konflikten und an Inseln unverbrüchlichen Friedens ist nicht selten eine gefährliche Illusion.
Deshalb ist es richtig und wichtig, dass deutsche Soldaten an Friedensmissionen in der Welt beteiligt sind. Deutschland stellt sich damit der Verantwortung, die die internationale Staatengemeinschaft von unserem Land erwartet. Denn nicht beiseite zu stehen, sondern Verantwortung zu übernehmen, ist eine der Lehren unserer eigenen Geschichte.
Für die deutschen Soldaten und Polizisten sind es verantwortungsvolle und gefährliche Einsätze, bei denen sie immer wieder in Situationen kommen, in den sie ihre Gesundheit und ihr Leben einsetzen. Auch in den vergangenen Monaten sind deutsche Soldaten und Polizisten bei der Erfüllung ihrer Aufgaben ums Leben gekommen. An diesem Tag denken wir besonders auch an sie und ihre Angehörigen.
Erinnerungskultur ist die bewusste Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Ob wir die Lektionen der Vergangenheit gelernt haben, ist noch offen. Aber wir entscheiden mit darüber, wie das 21. Jahrhundert verlaufen wird.